Im Urteil 1B_81/2023 vom 27. Februar 2023 aus dem Kanton Basel-Landschaft geht es um Untersuchungshaft beim Vorwurf des Delikts der Brandstiftung. Das Bundesgericht äussert sich dabei einerseits eingehend zum dringenden Tatverdacht und zu den Indizien (E.3). Andererseits prüft das Bundesgericht im Detail den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, wobei die Einordnung eines Gutachtens mit grundsätzlich positiver Legalprognose im Fokus stand (E.4). Hier die Schlüsselausführung: «Nach dem Gesagten durfte die Vorinstanz gemäss dem Bundesgericht gestützt auf die Häufigkeit und Intensität der fraglichen dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Delikte sowie die Ausführungen im psychiatrischen Gutachten betreffend die erhöhte Rückfallgefahr von Serientätern, ungeachtet der grundsätzlich positiven gutachterlichen Beurteilung der persönlichen Lebensumstände des Beschwerdeführers, willkürfrei von einer ungünstigen Legalprognose ausgehen.» (E.4.4).
Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich und muss mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar sein
Im Urteil 6B_1430/2021 vom 15. Februar 2023 befasste sich das Bundesgericht mit einem SVG-Fall aus dem Kanton Aargau, wobei das Berufungsverfahren vor dem Obergericht des Kantons Aargau im Fokus stand, welches das schriftliche Verfahren angeordnet und dem Beschuldigten kein rechtliches Gehör gewährt hat. Das Bundesgericht führte aus, dass das Berufungsverfahren, vorbehältlich weniger Ausnahmen, mündlich durchzuführen sei. Im Übrigen habe das Berufungsgericht im Einzelfall zu prüfen, ob der Verzicht auf die öffentliche Verhandlung auch mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist (E.1.2.1). Weiter machte das Bundesgericht Ausführungen zum Ablauf des schriftlichen Verfahrens (E.1.2.2) sowie zum Anspruch auf rechtliches Gehör (E.1.2.3). In casu bejahte das Bundesgericht die Verletzung von Verfahrensrechten durch das Obergericht des Kantons Aargau (E.1.3).
Zurechnung der Versäumung der Frist durch Anwalt an Klienten
Im Urteil 6B_16/2022 vom 26. Januar 2023 (amtl. Publ. vorgesehen) befasste sich das Bundesgericht mit der Zurechnung der Versäumnis der Frist für die Einsprache gegen einen Strafbefehl an den Klienten. Der Brief mit der Einsprache wurde durch den Anwalt irrtümlich nicht abgeschickt. Das Bundesgericht rechnete den Fehler des Anwalts dem Klienten zu. Das Bundesgericht hält fest, dass das Vorliegen einer Pflichtverteidigung eine unabdingbare Voraussetzung für eine (seltene) Ausnahme von der Zurechnung des schweren Fehlverhaltens des Anwalts an seinen Mandanten ist.
Anspruch auf Vollzugslockerung und Rechtsverzögerung
Im Urteil 6B_1408/2022 vom 17. Februar 2023 aus dem Kanton Solothurn, der auch in der JVA Thorberg spielt, hatte das Bundesgericht eine Laienbeschwerde zum Thema der Lockerungen im Strafvollzug zu beurteilen. Das Bundesgericht setzte sich ausführlich und lehrbuchartig zunächst mit dem Strafvollzug sowie dem Recht auf Vollzugslockerungen auseinander (E.4.4.1 ff.). Weiter folgten Erörterungen zum Thema Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerungen von Vollzugslockerungen, mit fast schon akademischen Erläuterungen (E.4.5.1 ff.). Im vorliegenden Fall urteilte das Bundesgericht, dass es dem Beschwerdeführer unverschuldet faktisch verunmöglicht wurde, die für die Gewährung der Vollzugslockerung von der Vollzugsbehörde gemachten Auflagen zu erfüllen und damit in den Genuss der bereits bewilligten polizeilich doppelbegleiteten Ausgänge zu kommen. Folglich erwies sich die Rüge der Rechtsverzögerung gemäss dem Bundeesgericht als begründet (E.4.9).
Üble Nachrede und Gutglaubensbeweis
Im Urteil 6B_735/2022 vom 2. Februar 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der üblen Nachrede im Sinne von Art. 173 StGB sowie dem Gutglaubensbeweis. Dabei fasste es den aktuellen Stand seiner Praxis hierzu sehr schön zusammen, wie u.a.: «Massgebend sind die Umstände des Einzelfalls. Je schwerer ein Ehreingriff ist, desto höhere Sorgfaltspflichten bestehen hinsichtlich der Abklärung des wahren Sachverhalts, wobei die Schwere vom Vorwurf und vom Verbreitungsgrad abhängt. Dabei trägt die beschuldigte Person die Beweislast, der Grundsatz "in dubio pro reo" greift nicht.» (E.3.1).
Risiken der Einsprache gegen einen Strafbefehl
Im Urteil 6B_222/2022 vom 18. Januar 2023 geht es um einen SVG-Fall aus dem Kanton Nidwalden (zur amtl. Publ. vorgesehen). Kern dieses Leiturteils bilden die Folgen bzw. die Verfahrensfortführung nach der Einsprache gegen einen Strafbefehl. Das Bundesgericht befasst sich eingehend mit dem Strafbefehl (E.1.1.1), der Fortführung des Verfahrens nach der Einsprache gegen den Strafbefehl (E.1.1.2) sowie der Tragweite des Grundsatz «ne bis in idem» (E.1.1.3). Das Urteil zeigt vor allem auch auf, dass die Einsprache gegen einen Strafbefehl nicht risikolos ist, was vielen Personen nicht bewusst ist.
Kein Ermächtigungserfordernis nach Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO bei privaten Anbietern von Staatsaufgaben
Im Urteil 1C_104/2022 des Bundesgerichts vom 20. Dezember 2022 (zur amtl. Publ. vorgesehen) aus dem Kanton Zürich geht es um die Fragestellung, ob private Anbieter von Staatsaufgaben, wie die ORS Service AG und deren Personal, unter den Personenkreis von Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO fallen. Nach einer extensiven Auslegung der Bestimmung, kommt das Bundesgericht zum folgenden Schluss: «Insgesamt ergibt sich gestützt auf eine zeitgemässe Gesetzesinterpretation in weitgehendem Einklang mit dem Schrifttum, dass Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO einschränkend auszulegen ist. Insbesondere sind Privatpersonen, denen öffentliche Aufgaben übertragen werden, grundsätzlich vom Ermächtigungserfordernis auszunehmen, solange nicht zwingende Gründe für eine Ausnahme sprechen.» (E.3.4.5). Die Differenzierung verstösst gemäss Bundesgericht auch nicht gegen Rechtsgleichheitsgebot und Gleichbehandlungsgebot (E.4.4).
Bundesgericht weist Beschwerde gegen Bestätigung von Untersuchungshaft durch Zürcher Obergericht im Fall «Brian» ab
Das Bundesgericht weist im Urteil 1B_22/2023 vom 13. Februar 2023 die Beschwerde gegen Bestätigung von Untersuchungshaft betreffend «Brian» durch Zürcher Obergericht ab. Dabei macht es eingehende Ausführungen zum besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr (E.2.3). Kurz erwähnt es (nicht entscheidungsrelevant) auch die anstehende Revision: «An den Erfordernissen drohender Verbrechen oder schwerer Vergehen und einer erheblichen unmittelbaren Sicherheitsgefährdung sowie am Vortatenerfordernis wurde auch in der erfolgten Revision von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO (neue Fassung vom 17. Juni 2022, BBl 2022 1560, 7) grundsätzlich festgehalten.» (E.2.3)
Amtsmissbrauch im Sinne von Art. 312 StGB durch Pfeffersprayeinsatz in Bündner Nachtclub
Im Urteil 6B_101/2022 vom 30. Januar 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) ging es vor Bundesgericht um den Pfeffersprayeinsatz eines Polizisten im Rahmen der Polizeistundenkontrolle in einem Nachtclub im Kanton Graubünden gegen den Geschäftsführer. Das Bundesgericht bestätigte die zweitinstanzliche Verurteilung des Polizisten wegen Amtsmissbrauchs im Sinne von Art. 312 StGB. Neben einer ausführlichen Diskussion des Tatbestandes äusserte sich das Bundesgericht wie folgt: «Soweit der Beschwerdeführer schliesslich eine Verletzung von Art. 312 StGB geltend machen will, weil der auf der subjektiven Ebene der Absicht geforderte Nachteil nicht in der Zwangshandlung selber liegen könne, ist der vorinstanzliche Schuldspruch nach dem in E. 1.3 hiervor Gesagten nicht zu beanstanden.» (E.3).
Im sehr Lesenswerten Urteil 6B_1078/2022 vom 25. Januar 2023 des Bundesgerichts aus dem Kanton Aargau stehen einerseits diverse Aspekte des Strafprozessrechts zur Diskussion (u.a. Akteneinsichtsrecht, Dokumentationspflicht, Konfrontationsrecht, Verfahrenstrennung, Suggestivfragen). Andererseits geht es um diverse BetmG-Tatbestände, wie u.a. den Tatbestand des Anstaltentreffens von Art. 19 Abs. 1 lit. g BetmG. Merkwürdig, ja gänzlich strafrechtsfremd und aus dem Zivilprozessrecht stammend, ist die Aussage des Bundesgerichts, dass den Beschuldigten Vorbringungs- und Substanziierungspflichten bezüglich entlastenden Aspekten getroffen haben sollten (E.1.2.a.E.). Dies ist natürlich abzulehnen.