Das Bundesgericht bestätigt im Urteil 6B_777/2022 vom 16. März 2023 die Verurteilung des französischen Komikers Dieudonné durch das Genfer Kantonsgericht wegen Rassendiskriminierung. Für seine 2019 bei Auftritten in Nyon und Genf gemachte Äusserung, dass die Gaskammern nie existiert hätten, kann er sich nicht auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen.
Gründe für Wechsel der amtlichen Verteidigung und Entscheid ob ex tunc oder ex nunc?
Im Urteil 1B_479/2022 vom 21. März 2023 aus dem Kanton Schaffhausen befasste sich das Bundesgericht mit dem Ersatz einer amtlichen Verteidigerin durch einen anderen Rechtsanwalt. Zunächst behandelt das Bundesgericht die Voraussetzungen für einen Verteidigungswechsel: «Die Vorschrift von Art. 134 Abs. 2 StPO trägt dem Umstand Rechnung, dass eine engagierte und effiziente Verteidigung nicht nur bei objektiver Pflichtverletzung der Verteidigung, sondern bereits bei erheblich gestörtem Vertrauensverhältnis beeinträchtigt sein kann. Dahinter steht die Idee, dass eine amtliche Verteidigung in jenen Fällen auszuwechseln ist, in denen auch eine privat verteidigte beschuldigte Person einen Wechsel der Verteidigung vornehmen würde. Wird die subjektive Sichtweise der beschuldigten Person in den Vordergrund gestellt, bedeutet dies aber nicht, dass allein deren Empfinden für einen Wechsel der Rechtsvertretung ausreicht. Vielmehr muss die Störung des Vertrauensverhältnisses mit konkreten Hinweisen belegt und objektiviert werden.» (E.2.2). Weiter prüfte das Bundesgericht einzelfallbezogen ob der Wechsel ex nunc oder ex tunc zu erfolgen habe und entschied hier auf ex nunc (E.2.8).
Anfechtung des gekürzten Honorars durch eigene Beschwerde der amtlichen Verteidigung
Im Urteil 6B_532/2022 vom 20. März 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit dem Rechtsmittelweg, den eine amtliche Verteidigerin einzuschlagen hatte, um die Festsetzung bzw. massive Kürzung des Honorars durch das Bezirksgericht Meilen anzufechten. Das Bundesgericht erklärte, dass die Festsetzung der Höhe der Entschädigung der amtlichen Verteidigung grundsätzlich nur deren eigenen Interessen betrifft. Die amtliche Verteidigung ist gemäss Art. 135 Abs. 3 StPO zur Beschwerde im eigenen Namen befugt. Die amtliche Verteidigung kann (und muss) daher gegen den erstinstanzlichen Entschädigungsentscheid in ihrer Eigenschaft als Verfahrensbeteiligte in eigenem Namen strafprozessuale Beschwerde führen. Die 10-tägige Frist zur Beschwerde gegen ein Urteil (vgl. Art. 396 Abs. 1 StPO) beginnt mit der Eröffnung des schriftlich begründeten Entscheids (E.2.1). Die neue Regelung in der revStPO zeitigt noch keine Vorwirkungen.
Im Urteil 1B_387/2022 vom 22. Februar 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit dem Thema der Ausstandspflicht eines Bezirksrichters als Einzelrichter. Als Ausstandsgrund wurde angegeben, dass der betreffende Bezirksrichter bereits bereits im Jahr 2020 in einem die Beschuldigte verurteilenden erstinstanzlichen Urteil als Richter mitgewirkt habe. Das Bundesgericht äussert sich zunächst generell-abstrakt zum Thema Ausstand (E.3.1 bis E.3.3). Nach eingehender Prüfung verneint das Bundesgericht das Vorliegen eines Ausstandsgrundes im vorliegenden Fall. Insbesondere lag keine rechtliche relevante Vorbefassung im Sinne von Art. 56 lit. b StPO vor (E.4.2 und E.4.3).
Das Bundesgericht heisst im Urteil 1C_537/2021 vom 13. März 2023 eine Beschwerde gegen das partielle Bettelverbot des Kantons Basel-Stadt teilweise gut. Das Bettelverbot in öffentlichen Parks hebt es als unverhältnismässig auf. Die übrigen Bestimmungen können grundrechtskonform angewendet werden; gegenüber passiv bettelnden Menschen darf eine Busse nur verhängt werden, wenn vorangehende mildere Massnahmen erfolglos geblieben sind.
Landesverweisung in beliebiges Drittland ohne Klärung des Aufenthaltsrechts unzulässig
Das Bundesgericht hebt im Urteil 6B_627/2022 vom 6. März 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) die Landesverweisung eines Mannes tibetischer Ethnie auf. Die vom Waadtländer Kantonsgericht angeordnete Landesverweisung in ein «Drittland mit Ausnahme der Volksrepublik China» ist bundesrechtswidrig, da ungeklärt ist, ob der Betroffene von einem Drittland überhaupt aufgenommen würde.
Im Urteil 6B_1420/2022 vom 10. März 2023 aus dem Kanton Basel-Stadt ging es u.a. um den Anspruch auf Haftentschädigung für rechtswidrige Zwangsmassnahmen. Das Bundesgericht macht sehr ausführliche allgemeingültige Ausführungen zum Thema (E.2.3.1, E.2.3.2., E.2.3.3). Im vorliegenden Fall entscheidet das Bundesgericht wie folgt: «Indem die Vorinstanz dem Beschwerdeführer zu Unrecht eine Entschädigung verweigert und dies damit begründet, das vorübergehende Fehlen eines gültigen Hafttitels und die damit verbundene formelle Rechtswidrigkeit sei unter den vorliegenden Umständen stark zu relativieren und überdies habe die formelle Rechtswidrigkeit der angeordneten Sicherheitshaft in casu keine schwerwiegenden Auswirkungen auf den Beschwerdeführer gehabt, verletzt sie Bundesrecht. Die Vorinstanz hat den an den Beschwerdeführer auszurichtenden Anspruch festzusetzen.» (E.2.4)
Keine Entsiegelung und Durchsuchung von privaten Aufzeichnungen
Im Urteil 1B_332/2022 vom 2. Februar 2023 aus dem Kanton Zürich entschied das Bundesgericht, dass die Entsiegelung und Durchsuchung von in einem Hotelzimmer sichergestellten privaten Aufzeichnungen in diesem Fall nicht zulässig sei (betroffen war eine nicht beschuldigte Person und ein Fall des Nebenstrafrechts). Das Bundesgericht hat die Unterscheidung nach den Eigentumsverhältnissen zwischen «privaten» und «geschäftlichen» Datenträgern bzw. Unterlagen weder als lebensfremd noch als sachwidrig angesehen (E.2.2). Das Bundesgericht erklärte allgemein Folgendes: «Die Durchsuchung von Aufzeichnungen nach Art. 246 StPO ist als strafprozessuale Zwangsmassnahme nur zulässig, wenn sie verhältnismässig ist. Erforderlich ist insbesondere, dass die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO); zudem muss die Bedeutung der Straftat die Massnahme rechtfertigen (Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO). Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO).» (E.2.1 a.E.).
Freispruch von Polizist nach mehrfacher Schussabgabe
Im Urteil 6B_1301/2021 vom 9. März 2023 aus dem Kanton Zürich behandelte das Bundesgericht einen Fall eines Polizisten nach mehrfacher Schussabgabe auf einen Verdächtigen. Rechtlich bzw. methodisch ist das Urteil 6B_1301/2021 vom 9. März 2023 sehr interessant, weil es im Detail auf die Unterscheidung des Grundsatzes von «in dubio pro reo» als einerseits Beweiswürdigungsregel, mit beschränkter Kognition des Bundesgerichts, und andererseits als Beweislastregel, mit freier Kognition des Bundesgerichts, eingeht (E.2.3.2). Im Ergebnis bestätigt das Bundesgericht den Freispruch des Polizisten durch das Obergericht des Kantons Zürich wegen entschuldigender Notwehr (Art. 15 StGB).
Im Urteil 6B_63/2023 vom 10. März 2023 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht mit einer Einsprache gegen einen SVG-Strafbefehl und dem unentschuldigten Nichterscheinen des Beschuldigten bei der Berufungsverhandlung. Das Bundesgericht erklärte, dass es der Verteidigung obliegt, das Nichterscheinen zu begründen um die Anwendung der Rückzugsfiktion der Einsprache allenfalls zu verhindern: «Erscheint nur die Verteidigung zur Verhandlung, darf diese an der Verhandlung dennoch teilnehmen und insbesondere darlegen, weshalb die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO trotz Abwesenheit der beschuldigten Person nicht zum Tragen kommen soll. Die Verteidigung ist an der Verhandlung daher insbesondere zu den Gründen für die Abwesenheit anzuhören, wobei sie ein entschuldigtes Fernbleiben der beschuldigten Person geltend machen und begründen kann.» (E.1.3). Im vorliegenden Fall ist dies nicht gelungen.