Im Urteil 7B_793/2024 vom 31. Juli 2024 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der Frage der Gewährung des rechtlichen Gehörs bei der Anordnung von Sicherheitshaft (Anhörung und Replikrecht). Es äusserte sich u.a. wie folgt: «Gestützt auf die Garantien von Art. 31 Abs. 3 BV ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei der erstmaligen Anordnung von Sicherheitshaft ohne vorbestehende Untersuchungshaft eine mündliche Haftverhandlung durchzuführen […]. Befand sich die betroffene Person dagegen vor der Anordnung von Sicherheitshaft in Untersuchungshaft, sind die Haftgründe bei deren Anordnung in einem kontradiktorischen Verfahren, bei dem sie ihren Standpunkt auch mündlich darlegen konnte, eingehend geprüft worden, so dass sich die Anordnung von Sicherheitshaft in einem schriftlichen Verfahren ohne mündliche Anhörung rechtfertigt […].» (E.2.3.1). «Ergeben sich Haftgründe erst während eines Verfahrens vor dem Berufungsgericht, sieht Art. 232 Abs. 1 StPO - entsprechend dem Grundsatz von Art. 31 Abs. 3 BV - vor, dass die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die in Haft zu setzende Person unverzüglich vorführen lässt und sie anhört. Die Bestimmung betrifft die erstmalige Anordnung von Sicherheitshaft nach Rechtshängigkeit des Berufungsverfahrens […]. Von Art. 232 StPO grundsätzlich nicht angesprochen werden dagegen Fälle, in denen sich die betroffene Person bereits in strafprozessualer Haft befindet. Dies lässt sich zunächst aus dem Wortlaut von Abs. 1 schliessen: Die Formulierungen "Ergeben sich Haftgründe erst" und "die in Haft zu setzende Person" deuten darauf hin, dass zuvor noch keine Haft bestand. Entsprechend hat auch das Bundesgericht festgehalten, bei Art. 232 StPO gehe es darum, eine Person wegen neuer Tatsachen, die während des Berufungsverfahrens aufgetreten seien, in Haft zu versetzen […]. Ausserdem handelt es sich bei der Anordnung von Sicherheitshaft bei vorbestehender Untersuchungshaft (bzw. vorzeitigem Strafvollzug) faktisch um eine Haftverlängerung. Für diese Konstellation sieht Art. 229 Abs. 3 lit. b i.V.m. Art. 227 Abs. 6 StPO im Grundsatz das schriftliche Verfahren vor. Weshalb dies anders sein sollte, wenn nicht das Zwangsmassnahmengericht, sondern das Berufungsgericht über die Haft entscheidet, ist nicht einzusehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die beschuldigte Person in den vorangehenden Haftprüfungsverfahren die Möglichkeit einer mündlichen Anhörung hatte und sich die Berufungsinstanz bei ihrem Haftentscheid nicht auf andere Haftgründe (im Sinne haftrelevanter neuer Fakten) beruft als jene, die den bisherigen Hafttiteln zugrunde lagen […]» (E.2.3.2). Im vorliegenden Fall hiess das Bundesgericht die Beschwerde teilweise gut (E.3.1).
Kriterien für Härtefall bei strafrechtlicher Landesverweisung
Im Urteil 6B_1050/2022 vom 12. Juni 2024 aus dem Kanton Bern ging es um die strafrechtliche Landesverweisung, genauer um die Prüfung eines Härtefalls. Das Bundesgericht bejahte einen Härtefall, u.a. mit den folgenden Ausführungen: «Gestützt auf diese Ausführungen ist - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - ein schwerer persönlicher Härtefall i.S.v. Art. 66a Abs. 2 StGB zu bejahen. Der Beschwerdeführer hat mit seinen 14 Jahren Aufenthaltsdauer einen grossen und wichtigen Teil seines Lebens in der Schweiz verbracht, hier die obligatorische Schulzeit absolviert und sich grösstenteils - mitunter auch sprachlich - gut integriert. Er befindet sich im Alter von 21 Jahren in (Erst-) Ausbildung, ist entsprechend finanziell (noch) von seinen Eltern abhängig und lebt mit ihnen als junger Erwachsener in einem gemeinsamen Haushalt. Indem die Vorinstanz das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls i.S.v. Art. 66a Abs. 2 StGB verneint und auf eine Interessenabwägung verzichtet […], erweist sich die von ihr angeordnete Landesverweisung nicht als rechtskonform. Die Beschwerde ist gutzuheissen.» (E.1.5.6).
Im Urteil 7B_252/2024 vom 18. März 2024 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit dem Haftgrund der Ausführungsgefahr (in der alten und neuen Fassung). Das Bundesgericht betonte, dass für diesen Haftgrund drohende schwere Verbrechen notwendig sind: «Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung von Delikten sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen allerdings nicht aus, um Präventivhaft zu begründen. Art. 221 Abs. 2 StPO setzt vielmehr sowohl in seiner alten als auch neuen Fassung ausdrücklich ein ernsthaft drohendes "schweres Verbrechen" voraus.» (E.2.4). Die Frage des Übergangsrechts (Haftgrund nach alter oder neuer StPO) beantwortet das Bundesgericht jedoch nicht abschliessend, da kein Unterschied für diesen Fall bestand (E.1.2).
Im Urteil 7B_155/2024 vom 5. März 2024 aus dem Kanton Zürich äusserte sich das Bundesgericht, soweit ersichtlich, erstmals zum neuen Haftgrund von Art. 221 Abs. 1bis StPO (zur amtl. Publ. vorgesehen). Ohne auf die intertemporale Regelung im Detail einzugehen, prüfte das Bundesgericht in diesem Leiturteil den Haftgrund der «qualifizierten Wiederholungsgefahr» nach altem und neuem Recht. Hier ist eine der Schlüsselerwägungen: «Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO setzt zunächst eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Diese gesetzliche Voraussetzung ist im vorliegenden Fall unbestritten. Eine einschlägige Vortat ist im Falle der qualifizierten Wiederholungsgefahr nicht erforderlich […]. Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlangt sodann als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges "schweres Verbrechen" verüben werde. Zwar wurde in der bisherigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer "ernsthaften und unmittelbaren" Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) gesprochen. Es bestand aber in diesem Sinne schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis, indem das Bundesgericht ausdrücklich betonte, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als "untragbar hoch" erschiene (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung wird im Übrigen weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr geht die Bundesgerichtspraxis von einer sogenannten "umgekehrten Proportionalität" aus zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10; […]). Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden kann. Die richterliche Prognosebeurteilung stützt sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles (BGE 146 IV 136 E. 2.2-2.5; 143 IV 9 E. 2.6-2.7; […]» (E.3.6.2).
Im Urteil 7B_373/2023 vom 7. Februar 2024 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der Möglichkeit der Einschränkung oder Verweigerung von Besuchen in Untersuchungshaft sowie des Anspruchs auf eine rasche Behandlung von Anträgen auf Besuchsbewilligungen. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann das Besuchsrecht sowohl nach der Bundesverfassung als auch gemäss EMRK nicht nur eingeschränkt, sondern, falls nötig, auch ganz verweigert werden. Vorliegend erscheint die Verweigerung des Besuchsrechts angesichts der vom Beschwerdeführer nicht bestrittenen akuten Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt.» (E.3.3). «Gesuche um Besuchsbewilligungen sind zügig zu beurteilen. Im vorliegenden Fall war sogar besondere Eile geboten, da der Anspruch des Beschwerdeführers auf Besuche seines Kindes im Grundsatz unbestritten war und B.s Entwicklung wegen seines Säuglingsalters schnell voranschritt. Anstatt das Gesuch mit der gebotenen Eile zu beurteilen, begann die Staatsanwaltschaft erst etwa vier Monate nach erster Gesuchstellung mit ihren Abklärungen betreffend das Kindeswohl. Für dieses Zuwarten sind keine objektiv nachvollziehbaren Gründe ersichtlich.» (E.4.4).
Erwachsene Kinder und strafrechtliche Landesverweisung
Im Urteil 6B_977/2023 vom 12. Januar 2024 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht mit der Landesverweisung eines kosovarischen Staatsangehörigen, der seit über 31 Jahren in der Schweiz lebte und in der Schweiz eine Ehefrau und drei volljährige Kinder hat. Das Bundesgericht setzte sich in diesem Urteil sowohl in theoretischer als auch in fallbezogener Art und Weise im Detail mit dem Thema der strafrechtlichen Landesverweisung und des Härtefalls auseinander (E.1.4.1 ff.). Interessant ist u.a. die folgende Ausführung: «Für die Frage, ob der Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens "notwendig" im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist, sind nach der Rechtsprechung des EGMR nebst den zuvor erwähnten Kriterien auch die Staatsangehörigkeit der betroffenen Familienmitglieder, die familiäre Situation des von der Massnahme Betroffenen, wie etwa die Dauer der Ehe oder andere Faktoren, welche für ein effektives Familienleben sprechen, eine allfällige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat zu Beginn der familiären Bindung, ob Kinder aus der Ehe hervorgingen und falls ja, deren Alter, sowie die Schwierigkeiten, mit welchen der Ehegatte im Heimatland des anderen konfrontiert sein könnte, zu […]» (E.1.4.5). Das Bundesgericht bestätigte die Landesverweisung, die von der Vorinstanz «knapp» ausgesprochen worden war (E.1.5.6).
Freiheitsstrafe oder Geldstrafe?
Im Urteil 7B_224/2022 vom 5. Dezember 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der grundsätzlichen Frage der Strafart, Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Hierzu bemerkte es u.a.: «Die Wahl der Strafart richtet sich nach der Zweckmässigkeit bzw. Angemessenheit der Sanktion und der Präventionswirkung auf den Täter (namentlich unter Berücksichtigung von Rückfall, Delinquenz während der Probezeit oder Vorstrafen). Zu berücksichtigen sind weiter die Auswirkungen auf die soziale Situation des Täters. Daneben spielt untergeordnet auch das Verschulden eine Rolle […]. Bei mehreren in Frage kommenden Strafarten ist in der Regel die mildere Strafart zu wählen, wobei die Geldstrafe der Freiheitsstrafe grundsätzlich vorgeht (BGE 144 IV 313 E. 1.1.1). In die Wahl der Strafart einzubeziehen sind auch die Kriterien von Art. 41 StGB, dies im Bereich, wo eine Geld- und eine Freiheitsstrafe in Betracht fallen. Die Wahl der strengeren Sanktionsart der Freiheitsstrafe ist zu begründen (Urteil 6B_761/2021 vom 23. März 2022 E. 1.3.2 und 1.5 mit Hinweisen).» (E.3.2.1).
Zulässige Dauer der Untersuchungshaft
Im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 aus dem Kanton Schaffhausen ging es um eine strafrechtliche Beschwerde betreffend Untersuchungshaft. Das Bundesgericht machte im Urteil zwar vielversprechende theoretische Ausführungen, bestätigte aber die Zulässigkeit der Untersuchungshaft dann doch: «Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Dabei ist nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt. Diese Grenze ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (zum Ganzen: BGE 145 IV 179 E. 3.1).» (E.4.2). «Eine strafprozessuale Haft kann die bundesrechtskonforme Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO). Eine Haftentlassung kommt allerdings nur bei besonders schwer wiegenden bzw. häufigen Versäumnissen in Frage, die erkennen lassen, dass die verantwortlichen Behörden nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung zu tragen. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen.» (E.4.3).
Verletzung des rechtlichen Gehörs im Haftverfahren
Im Urteil 7B_752/2023 vom 27. Oktober 2023 aus dem Kanton Zug hatte sich das Bundesgericht mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs im Haftverfahren zu befassen. Dem Beschwerdeführer wurde weder die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zugesandt vor dem Entscheid noch wurde er angehört. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst zudem das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Eingaben neue oder wesentliche Vorbringen enthalten (sog. Replikrecht, BGE 146 III 97 E. 3.4.1; 142 III 48 E. 4.1.1; 138 I 484 E. 2.1; je mit Hinweisen). Er gilt auch im Haftprüfungsverfahren (Urteil 1B_574/2020 vom 3. Dezember 2020 E. 4.1 mit Hinweisen).» (E.2.2)
Haftgrund der Fluchtgefahr bei Schweizer Bürger bejaht
Im Urteil 7B_650/2023 vom 6. Oktober 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit dem besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr bei einem Schweizer Bürger. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Der Beschwerdeführer ist Schweizer, hat aber hierzulande keinen festen Wohnsitz. Zwar trifft zu, dass ein gefestigter und gemeldeter Wohnsitz in der Schweiz für sich allein nicht geeignet ist, einen behördlichen Zugriff zu garantieren. Ein solcher kann aber geregelte und gefestigte Lebensverhältnisse indizieren, die ein Untertauchen oder eine Flucht ins Ausland weniger wahrscheinlich erscheinen lassen. Der Beschwerdeführer lebt nicht nur in unsteten Wohn- und Meldeverhältnissen, sondern verfügt, wie die Vorinstanz feststellt, hierzulande auch über keine gefestigten sozialen Bindungen. Demgegenüber unterhält er konkrete Beziehungen nach Spanien. Seine Wohnverhältnisse und sozialen und familiären Beziehungen sprechen, wie die Vorinstanz zu Recht annimmt, für Fluchtgefahr.» (E.2.3.2)