Haft
März 27, 2024 6:38 am

Im Urteil 7B_252/2024 vom 18. März 2024 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit dem Haftgrund der Ausführungsgefahr (in der alten und neuen Fassung). Das Bundesgericht betonte, dass für diesen Haftgrund drohende schwere Verbrechen notwendig sind: «Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung von Delikten sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen allerdings nicht aus, um Präventivhaft zu begründen. Art. 221 Abs. 2 StPO setzt vielmehr sowohl in seiner alten als auch neuen Fassung ausdrücklich ein ernsthaft drohendes "schweres Verbrechen" voraus.» (E.2.4). Die Frage des Übergangsrechts (Haftgrund nach alter oder neuer StPO) beantwortet das Bundesgericht jedoch nicht abschliessend, da kein Unterschied für diesen Fall bestand (E.1.2).

März 15, 2024 6:15 am

Im Urteil 7B_155/2024 vom 5. März 2024 aus dem Kanton Zürich äusserte sich das Bundesgericht, soweit ersichtlich, erstmals zum neuen Haftgrund von Art. 221 Abs. 1bis StPO (zur amtl. Publ. vorgesehen). Ohne auf die intertemporale Regelung im Detail einzugehen, prüfte das Bundesgericht in diesem Leiturteil den Haftgrund der «qualifizierten Wiederholungsgefahr» nach altem und neuem Recht. Hier ist eine der Schlüsselerwägungen: «Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO setzt zunächst eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Diese gesetzliche Voraussetzung ist im vorliegenden Fall unbestritten. Eine einschlägige Vortat ist im Falle der qualifizierten Wiederholungsgefahr nicht erforderlich […].  Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlangt sodann als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges "schweres Verbrechen" verüben werde. Zwar wurde in der bisherigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer "ernsthaften und unmittelbaren" Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) gesprochen. Es bestand aber in diesem Sinne schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis, indem das Bundesgericht ausdrücklich betonte, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als "untragbar hoch" erschiene (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung wird im Übrigen weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr geht die Bundesgerichtspraxis von einer sogenannten "umgekehrten Proportionalität" aus zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10; […]). Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden kann. Die richterliche Prognosebeurteilung stützt sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles (BGE 146 IV 136 E. 2.2-2.5; 143 IV 9 E. 2.6-2.7; […]» (E.3.6.2).

März 1, 2024 12:41 pm

Im Urteil 7B_373/2023 vom 7. Februar 2024 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der Möglichkeit der Einschränkung oder Verweigerung von Besuchen in Untersuchungshaft sowie des Anspruchs auf eine rasche Behandlung von Anträgen auf Besuchsbewilligungen. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann das Besuchsrecht sowohl nach der Bundesverfassung als auch gemäss EMRK nicht nur eingeschränkt, sondern, falls nötig, auch ganz verweigert werden. Vorliegend erscheint die Verweigerung des Besuchsrechts angesichts der vom Beschwerdeführer nicht bestrittenen akuten Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt.» (E.3.3). «Gesuche um Besuchsbewilligungen sind zügig zu beurteilen. Im vorliegenden Fall war sogar besondere Eile geboten, da der Anspruch des Beschwerdeführers auf Besuche seines Kindes im Grundsatz unbestritten war und B.s Entwicklung wegen seines Säuglingsalters schnell voranschritt. Anstatt das Gesuch mit der gebotenen Eile zu beurteilen, begann die Staatsanwaltschaft erst etwa vier Monate nach erster Gesuchstellung mit ihren Abklärungen betreffend das Kindeswohl. Für dieses Zuwarten sind keine objektiv nachvollziehbaren Gründe ersichtlich.» (E.4.4).

Februar 7, 2024 10:51 am

Im Urteil 6B_977/2023 vom 12. Januar 2024 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht mit der Landesverweisung eines kosovarischen Staatsangehörigen, der seit über 31 Jahren in der Schweiz lebte und in der Schweiz eine Ehefrau und drei volljährige Kinder hat. Das Bundesgericht setzte sich in diesem Urteil sowohl in theoretischer als auch in fallbezogener Art und Weise im Detail mit dem Thema der strafrechtlichen Landesverweisung und des Härtefalls auseinander (E.1.4.1 ff.). Interessant ist u.a. die folgende Ausführung: «Für die Frage, ob der Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens "notwendig" im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist, sind nach der Rechtsprechung des EGMR nebst den zuvor erwähnten Kriterien auch die Staatsangehörigkeit der betroffenen Familienmitglieder, die familiäre Situation des von der Massnahme Betroffenen, wie etwa die Dauer der Ehe oder andere Faktoren, welche für ein effektives Familienleben sprechen, eine allfällige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat zu Beginn der familiären Bindung, ob Kinder aus der Ehe hervorgingen und falls ja, deren Alter, sowie die Schwierigkeiten, mit welchen der Ehegatte im Heimatland des anderen konfrontiert sein könnte, zu […]» (E.1.4.5). Das Bundesgericht bestätigte die Landesverweisung, die von der Vorinstanz «knapp» ausgesprochen worden war (E.1.5.6).

Januar 30, 2024 4:12 pm

Im Urteil 7B_224/2022 vom 5. Dezember 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der grundsätzlichen Frage der Strafart, Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Hierzu bemerkte es u.a.: «Die Wahl der Strafart richtet sich nach der Zweckmässigkeit bzw. Angemessenheit der Sanktion und der Präventionswirkung auf den Täter (namentlich unter Berücksichtigung von Rückfall, Delinquenz während der Probezeit oder Vorstrafen). Zu berücksichtigen sind weiter die Auswirkungen auf die soziale Situation des Täters. Daneben spielt untergeordnet auch das Verschulden eine Rolle […]. Bei mehreren in Frage kommenden Strafarten ist in der Regel die mildere Strafart zu wählen, wobei die Geldstrafe der Freiheitsstrafe grundsätzlich vorgeht (BGE 144 IV 313 E. 1.1.1). In die Wahl der Strafart einzubeziehen sind auch die Kriterien von Art. 41 StGB, dies im Bereich, wo eine Geld- und eine Freiheitsstrafe in Betracht fallen. Die Wahl der strengeren Sanktionsart der Freiheitsstrafe ist zu begründen (Urteil 6B_761/2021 vom 23. März 2022 E. 1.3.2 und 1.5 mit Hinweisen).» (E.3.2.1).

Januar 22, 2024 4:34 am

Im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 aus dem Kanton Schaffhausen ging es um eine strafrechtliche Beschwerde betreffend Untersuchungshaft. Das Bundesgericht machte im Urteil zwar vielversprechende theoretische Ausführungen, bestätigte aber die Zulässigkeit der Untersuchungshaft dann doch: «Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Dabei ist nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt. Diese Grenze ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (zum Ganzen: BGE 145 IV 179 E. 3.1).» (E.4.2). «Eine strafprozessuale Haft kann die bundesrechtskonforme Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO). Eine Haftentlassung kommt allerdings nur bei besonders schwer wiegenden bzw. häufigen Versäumnissen in Frage, die erkennen lassen, dass die verantwortlichen Behörden nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung zu tragen. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen.» (E.4.3).

November 8, 2023 2:38 pm

Im Urteil 7B_752/2023 vom 27. Oktober 2023 aus dem Kanton Zug hatte sich das Bundesgericht mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs im Haftverfahren zu befassen. Dem Beschwerdeführer wurde weder die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zugesandt vor dem Entscheid noch wurde er angehört. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst zudem das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Eingaben neue oder wesentliche Vorbringen enthalten (sog. Replikrecht, BGE 146 III 97 E. 3.4.1; 142 III 48 E. 4.1.1; 138 I 484 E. 2.1; je mit Hinweisen). Er gilt auch im Haftprüfungsverfahren (Urteil 1B_574/2020 vom 3. Dezember 2020 E. 4.1 mit Hinweisen).» (E.2.2)

Oktober 16, 2023 4:53 am

Im Urteil 7B_650/2023 vom 6. Oktober 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit dem besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr bei einem Schweizer Bürger. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Der Beschwerdeführer ist Schweizer, hat aber hierzulande keinen festen Wohnsitz. Zwar trifft zu, dass ein gefestigter und gemeldeter Wohnsitz in der Schweiz für sich allein nicht geeignet ist, einen behördlichen Zugriff zu garantieren. Ein solcher kann aber geregelte und gefestigte Lebensverhältnisse indizieren, die ein Untertauchen oder eine Flucht ins Ausland weniger wahrscheinlich erscheinen lassen. Der Beschwerdeführer lebt nicht nur in unsteten Wohn- und Meldeverhältnissen, sondern verfügt, wie die Vorinstanz feststellt, hierzulande auch über keine gefestigten sozialen Bindungen. Demgegenüber unterhält er konkrete Beziehungen nach Spanien. Seine Wohnverhältnisse und sozialen und familiären Beziehungen sprechen, wie die Vorinstanz zu Recht annimmt, für Fluchtgefahr.» (E.2.3.2)  

September 20, 2023 7:20 am

Im Urteil 7B_485/2023 vom 11. September 2023 aus dem Kanton Zürich geht es einerseits um die Prüfung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft in einem Fall des Verdachts von Geldwäscherei (E.2 und E.3). Andererseits und vor allem geht es um die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Vertretung im bundesgerichtlichen Haftbeschwerdeverfahren (E.4). Das Bundesgericht erklärt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sich die notwendige Verteidigung grundsätzlich nicht auf Beschwerdeverfahren erstrecke. In solchen Verfahren fällt - jedenfalls wenn die beschuldigte Person Beschwerde führt - einzig die amtliche Verteidigung nach den allgemeinen Regeln der unentgeltlichen Rechtspflege in Betracht. […] In Haftbeschwerdeverfahren ist es deshalb zulässig, die Erteilung der amtlichen Verteidigung von der Nichtaussichtslosigkeit des Rechtsmittels abhängig zu machen. (E.4.3). Im vorliegenden Fall hatte hätte die Vorinstanz gemäss Bundesgericht das Gesuch um amtliche Verteidigung bzw. unentgeltliche Rechtspflege nicht wegen Aussichtslosigkeit abweisen dürfen. Indem sie dies tat, verletzte sie Bundesrecht. (E.4.4). Hochinteressant ist der Einwand des Anwalts des Beschwerdeführers, dass er keinen Vorschuss aus «Verbrechererlös» entgegennehmen könne. Das Bundesgericht hielt das Thema offenbar für relevant, äusserte sich aber nur wie folgt dazu: «Der Beschwerdeführer machte im kantonalen Verfahren geltend, aus Gründen der anwaltlichen Sorgfaltspflicht sei es seinem Rechtsvertreter derzeit nicht möglich, einen Kostenvorschuss von ihm anzunehmen. Er weist damit sinngemäss auf die möglichen disziplinar- und strafrechtlichen Konsequenzen hin, die seiner Verteidigung drohen, wenn diese damit rechnen muss, dass ihr Honorar aus Verbrechenserlös bezahlt wird (vgl. Art. 305 bis StGB; PIETH/SCHULTZE, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2021, N. 19 zu Art. 305bis StGB; DAMIAN K. GRAF, Annotierter Kommentar StGB, 2020, N. 16 zu Art. 305bis StGB). Die Vorinstanz weist zwar in ihrem Entscheid selbst darauf hin, dass derzeit nicht bekannt sei, welche Vermögenswerte des Beschwerdeführers aus illegaler Herkunft stammen könnten, geht aber mit keinem Wort auf das Argument des Beschwerdeführers ein, wonach es seinem Rechtsvertreter aus ebendiesem Grund nicht möglich sei, einen Kostenvorschuss anzunehmen.» (E.4.5)

September 19, 2023 1:47 pm

Im Urteil 7B_417/2023 vom 4. September 2023 aus dem Kanton Schaffhausen befasste sich das Bundesgericht mit der Frage der Kollusionsgefahr bei Delikten aus dem Zuhälter- und Rotlichtmilieu. Das Bundesgericht nahm hierzu u.a. wie folgt Stellung: «Es gilt weiter zu beachten, dass sich die überwiegende Mehrheit der Verfahrensbeteiligten des vorliegenden Verfahrens im Zuhälter- bzw. Rotlichtmilieu bewegen. Wie die Vorinstanz nachvollziehbar ausführt, begünstigt das damit verbundene Machtgefälle zwischen den noch jungen mutmasslichen Opfer und den Beschuldigten Kollusionshandlungen zusätzlich […]. Das Kollusionsrisiko erscheint damit mit Blick auf die bereits erfolgten Verdunkelungshandlungen des Beschwerdeführers gar erhöht zu sein. Zu beachten ist weiter auch, dass der Tatvorwurf des Menschenhandels und der Förderung der Prostitution bisher primär auf den Aussagen der mutmasslichen Opfer fusst. Es handelt sich somit um einen Indizienprozess und den ungetrübten Aussagen der mutmasslichen Opfer kommt daher ein grosser Stellenwert zu. Mit Blick auf die Schwere der Tatvorwürfe besteht somit ein erhebliches öffentliches Interesse daran, die Zeugen und Auskunftspersonen vor einer Einflussnahme abzuschirmen.» (E.3.5.3).