Sachverhalt
Die Personen C. und A. sind Polizeibeamte der Stadtpolizei U. Sie führten am 6. Juli 2013, um 02:30 Uhr, im Nachtclub V. in U. eine Polizeistundenkontrolle durch. Dabei kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem Geschäftsführer B., anlässlich derer A. einen Pfefferspray einsetzte.
Mit Anklageschrift vom 24. Januar 2018 wirft die Staatsanwaltschaft Graubünden A. unter dem Titel des Amtsmissbrauchs i.S.v. Art. 312 StGB u.a vor:
Ziffer 1.1, Abs. 2: «B. drehte sich um und machte einen Schritt ins Innere des Lokals. Daraufhin drehte er sich nochmals zu den Polizisten um. In diesem Moment sprühte A. aus einer Distanz von ca. 50 cm einmal Pfefferspray gegen B. und traf diesen im Bereich zwischen Brust und Stirn, v.a. in den Mund. Er tat dies, obwohl in diesem Moment kein unmittelbarer Angriff von B. gegen die beiden Polizisten stattfand oder drohte und auch sonst keine Veranlassung dazu bestand, was A. wusste.»
Ziffer 1.4: «A. und C. übten durch ihr Vorgehen unverhältnismässigen Zwang aus und sie wussten dabei, dass sie B. durch ihr Vorgehen Nachteile zufügten. Sie verursachten bei B. Prellungen mit Schleifspuren am ganzen Körper, eine Kontusion des Daumens, eine Schulterdistorsion, eine leichte Fesselungslähmung, Rückenschmerzen sowie eine leichtgradige Verätzung der Augen. Sie nahmen durch ihr Vorgehen die Verletzungen von B. zumindest in Kauf.»
Instanzenzug
Mit Urteil vom 17. Mai 2018 sprach das Regionalgericht Plessur A. von den Vorwürfen des Amtsmissbrauchs und der einfachen Körperverletzung frei.
Mit Berufungsurteil vom 9. Juni 2021 sprach das Kantonsgericht von Graubünden (Verfahren SK1 18 29 / SK1 18 30) A. betreffend die Anklageziffer 1.1 schuldig des Amtsmissbrauchs gemäss Art. 312 StGB und auferlegte ihm hierfür eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 150.– sowie eine Busse von Fr. 450.–. Den Vollzug der Geldstrafe schob es auf bei einer Probezeit von 2 Jahren.
Weiterzug an das Bundesgericht
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A. dem Bundesgericht, es sei das Berufungsurteil in den ihn belastenden Teilen aufzuheben und er sei vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs freizusprechen. Weiter sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Mit Verfügung vom 2. Februar 2022 wies die Abteilungspräsidentin das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung ab.
Die Staatsanwaltschaft und das Kantonsgericht verzichteten auf Vernehmlassung.
Tatbestand von Art. 312 StGB (Amtsmissbrauch)
Der Tatbestand des Amtsmissbrauchs von Art. 312 StGB lautet wie folgt:
«Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.»
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_101/2022 vom 30. Januar 2023
Das Bundesgericht machte im Urteil 6B_101/2022 vom 30. Januar 2023 folgende generelle Ausführungen zum Tatbestand des Amtsmissbrauchs:
«Gemäss Art. 312 StGB machen sich Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, des Amtsmissbrauchs schuldig. Amtsmissbrauch ist der zweckentfremdete Einsatz staatlicher Macht. Art. 312 StGB schützt einerseits das Interesse des Staates an zuverlässigen Beamten, welche mit der ihnen anvertrauten Machtposition pflichtbewusst umgehen, und andererseits das Interesse der Bürger, nicht unkontrollierter und willkürlicher staatlicher Machtentfaltung ausgesetzt zu werden (BGE 127 IV 209 E. 1b). Nicht nur der einen amtlichen Zweck verfolgende übermässige Zwang im weiteren Sinne stellt sich objektiv als zweckentfremdeter Einsatz staatlicher Macht dar, sondern ebenso der ohne ein solches Ziel erfolgende sinn- und zwecklose Zwang durch Missbrauch der amtlichen Machtstellung (BGE 127 IV 209 E. 1b). Mit anderen Worten genügt es, wenn der Beamte zwar legitime Ziele verfolgt, aber zur Erreichung derselben in unverhältnismässiger Weise Gewalt anwendet (BGE 127 IV 209 E. 1 a/aa; 113 IV 29 E. 1; 104 IV 22 E. 2; Urteile 6B_518/2021 vom 8. Juni 2022 E. 1.1; 6B_1222/2020 vom 27. April 2021 E. 1.1; 6B_433/2020 vom 24. August 2020 E. 1.2.1). Amtsmissbrauch liegt damit etwa vor, wenn der Einsatz des Machtmittels zwar rechtmässig war, hierbei das erlaubte Mass an Zwang jedoch überschritten wurde (Urteile 6B_521/2021 vom 20. August 2021 E. 1.1.2; 6B_1212/2018 vom 5. Juli 2019 E. 2.3; 6B_391/2013 vom 27. Juni 2013 E. 1.3).
Der subjektive Tatbestand verlangt vorsätzliches Verhalten, zumindest Eventualvorsatz, und eine besondere Absicht, die in zwei alternativen Formen in Erscheinung treten kann, nämlich die Absicht, sich oder einem Dritten einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen, oder die Absicht, einem andern einen Nachteil zuzufügen (Urteile 6B_518/2021 vom 8. Juni 2022 E. 1.1; 6B_825/2019, 6B_845/2019 vom 6. Mai 2021 E. 7.2; 6B_433/2020 vom 24. August 2020 E. 1.2.1; je mit Hinweisen). Die Nachteilsabsicht ist verwirklicht, sobald der Täter durch Vorsatz oder Eventualvorsatz eine nicht unerhebliche Benachteiligung verursacht (Urteile 6B_987/2015 vom 7. März 2016 E. 2.6 mit Hinweisen; 6S.554/1992 vom 19. März 1993 E. 2b); Eventualabsicht genügt (zuletzt: Urteile 1C_32/2022 vom 14. Juli 2022 E. 3.3; 1C_446/2021 vom 24. März 2022 E. 5.3; 1C_439/2021 vom 17. Februar 2022 E. 4.2; vgl. auch 6B_1169/2014 vom 6. Oktober 2015 E. 2.1 mit Hinweisen). Ein solcher Nachteil kann etwa in einer unnötigen Kränkung oder Demütigung bestehen (Urteil 6B_521/2021 vom 20. August 2021 E. 1.4) oder in einer anderweitigen psychischen Destabilisierung (Urteil 6B_987/2015 vom 7. März 2016 E. 2.6). Nach der Rechtsprechung ist eine Benachteiligung anderer bereits anzunehmen, sobald der Täter übermässige Mittel einsetzt, auch wenn er ein legitimes Ziel verfolgt. Demzufolge ist das Motiv, aus dem der Täter handelt, für die tatbestandsmässige Absicht nicht relevant, sondern (erst) bei der Beurteilung des Verschuldens heranzuziehen (zuletzt: Urteile 6B_518/2021 vom 8. Juni 2022 E. 1.1; 6B_1222/2020 vom 27. April 2021 E. 1.1; 6B_1085/2017 vom 28. Mai 2018 E. 3.4; 6B_1012/2017 vom 23. März 2018 E. 1.1; 6B_923/2015 vom 24. Mai 2016 E. 2.2). In einem weiteren Fall hat das Bundesgericht festgehalten, dass ein durch den erzielten Zwang beim Einzelnen verursachter Nachteil genügen kann, wenn dieser zum Selbstzweck zugefügt wird (Urteil 6B_825/2019, 6B_845/2019 vom 6. Mai 2021 E. 7.2 mit Hinweisen).» (E.1.3.1).
«Die Frage, ob der vom Täter beabsichtigte Nachteil auch in der Zwangshandlung selbst liegen kann, wird von der aktuellen Literatur – soweit sie sich dazu äussert – einhellig bejaht (vgl. STEFAN HEIMGARTNER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, 4. Aufl. 2019, N. 23 zu Art. 312 StGB; STRATENWERTH/BOMMER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Geheiminteressen, 7. Aufl. 2013, § 59 Rz. 12; DONATSCH/THOMMEN/WOHLERS, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 5. Aufl. 2017, § 120 S. 554; MARK PIETH, Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 2018, S. 341; FREY/OMLIN, Amtsmissbrauch – die Ohnmacht der Mächtigen, AJP 2005, S. 85 ff.; implizit BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Vol. II, 3. Aufl. 2010, N. 10 zu Art. 312 StGB, MARIO POSTIZZI, in: Commentaire Romand, Code pénal, 2017, N. 31 zu Art. 312 StGB sowie DUPUIS et al., Petit commentaire du Code pénal, 2. Aufl. 2017, N. 25 zu Art. 312 StGB, wonach der Täter andere schädige, sobald er unverhältnismässige Mittel einsetze, auch wenn er ein legitimes Ziel verfolge; wohl auch TRECHSEL/VEST, in: Trechsel/Pieth [Hrsg.], Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2021, N. 7 zu Art. 312 StGB). Ansonsten, so die Begründung, wären physische Missbräuche, die keine weiteren negativen Folgen zeitigen, nicht strafbar (vgl. HEIMGARTNER, a.a.O., N. 23 zu Art. 312 StGB; STRATENWERTH/BOMMER, a.a.O., § 59 Rz. 12; a.M. noch JÖRG REHBERG, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 2. Aufl. 1996, § 101 S. 398, der diese Konsequenz für vertretbar hielt). An dieser Auffassung ist festzuhalten, wobei es für die Nachteilsabsicht nicht darauf ankommen kann, welchen Zweck der Täter anstrebt:» (E.1.3.2).
«Die Art des Nachteils ist im Gesetz nicht genauer definiert. Durch den Wortlaut von Art. 312 StGB gedeckt sind damit bereits die durch den erzielten Zwang beim Einzelnen verursachten Nachteile (vgl. auch FREY/OMLIN, a.a.O., S. 85). Wie erwähnt, reicht eine unnötige Kränkung oder psychische Destabilisierung aus (E. 1.3.1). Erst recht muss dies für eine körperliche Misshandlung gelten (vgl. auch GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Geheiminteressen, 3. Aufl. 1984, § 57 Rz. 12). Dass der geforderten Absicht an sich in den Fällen körperlicher Misshandlung unter Umständen keine selbständige Bedeutung mehr zukommt (vgl. auch DONATSCH/THOMMEN/WOHLERS, a.a.O., § 120 S. 554), ist unerheblich. In diesem Sinne hat das Bundesgericht bereits in BGE 99 IV 13 entschieden; dort hat es festgehalten, dass der Polizeibeamte, der eine zu vernehmende Person unberechtigterweise schlägt und damit seine Befugnisse missbraucht, sich des Amtsmissbrauchs strafbar macht, weil er weiss, dass er andere auf diese Weise schädigt (E. 1; vgl. auch BGE 104 IV 23 E. 2b). Ebenso hat das Bundesgericht im Urteil 6B_699/2011 die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung, wonach der Faustschlag des fraglichen Polizisten nur dazu bestimmt gewesen sein konnte, die (fixierte) festgenommene Person körperlich zu verletzen und sie damit zu schädigen, als Amtsmissbrauch qualifiziert (a.a.O. vom 26. Januar 2012 E. 1.3.2 f.). Ungeachtet dessen, ob er ein legitimes Ziel verfolgt, nimmt derjenige, der wissentlich und willentlich übermässigen amtlichen Zwang anwendet, einen nicht mehr durch die Amtspflicht gedeckten Nachteil des Betroffenen zumindest in Kauf (vgl. E. 1.3.1 hiervor).» (E.1.3.3).
Zum zu beurteilenden Bündner Fall fährt das Bundesgericht, mit dem Fokus auf die vom Beschwerdeführer gerügte Verletzung des Anklageprinzips, fort:
«Die Vorinstanz hat die Problematik der Umschreibung des subjektiven Tatbestands in der Anklageschrift erkannt (vgl. angefochtenes Urteil S. 4 f.). So führt sie in E. 1.4.3 aus, die Anklageschrift äussere sich „nur knapp zum subjektiven Tatvorwurf“, nähere Ausführungen fehlten. Allerdings sei davon auszugehen, dass für den Beschwerdeführer keine Zweifel darüber bestünden, welches Verhalten ihm angelastet werde. Die Anklage umschreibe die erforderlichen subjektiven Tatbestandselemente „noch“ in rechtsgenügender Weise. Der Beschwerdeführer habe erkennen können, welche Vorwürfe auch in subjektiver Hinsicht gegen ihn erhoben worden seien. Nichtsdestotrotz wäre es nach Auffassung der Vorinstanz „wünschenswert“ gewesen, dass „auch nähere Ausführungen zum subjektiven Tatbestand explizit Eingang in die Anklage gefunden hätten“. Was die Subsumtion im konkreten Fall anbelangt, erwog die Vorinstanz, der Beschwerdeführer sei sich seiner Sondereigenschaft als Beamter bewusst gewesen. Er habe (erstmalig) im Lokalinnern den Beschwerdegegner 2 „bewusst“ mit Pfefferspray besprüht und damit rechnen müssen, „dass dies Schmerzen verursachen könnte“ sowie den Beschwerdegegner 2 „erschreckt und demütigt“. Er habe dabei zumindest in Kauf genommen, „seine Amtsgewalt zu missbrauchen“ und damit dem Beschwerdegegner 2 „einen Nachteil zuzufügen“. Letzterer habe „bereits in der Zwangshandlung selbst“ bestanden, womit auch der subjektive Tatbestand erfüllt sei (vgl. Urteil S. 20).» (E.1.4)
«Die Ausführungen der Vorinstanz sind im Ergebnis nicht zu beanstanden. In der Anklageschrift wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, er habe aus einer kurzen Distanz einmal Pfefferspray gegen den Beschwerdegegner 2 eingesetzt und diesen im Bereich zwischen Brust und Stirn, v.a. in den Mund, getroffen. Er habe dies getan, obwohl in diesem Moment kein unmittelbarer Angriff des Beschwerdegegners 2 gegen ihn und C. vorgelegen oder gedroht und auch sonst keine Veranlassung dazu bestanden habe, was er gewusst habe. Durch sein Vorgehen habe er unverhältnismässigen Zwang ausgeübt und dabei gewusst, dass er dem Beschwerdegegner 2 dadurch Nachteile zugefügt habe. Die Nachteilsabsicht ist damit genügend umschrieben, zumal die Vorinstanz nachfolgend davon ausgeht, der (tatsächlich erlittene) Nachteil habe in der Zwangshandlung selbst bestanden. Dass in der Anklageschrift nicht festgehalten ist, der Beschwerdeführer hätte damit rechnen müssen, der Einsatz des Pfeffersprays würde den Beschwerdegegner 2 – darüber hinaus – erschrecken und demütigen, ist unbeachtlich. Inwieweit dem Beschwerdeführer ein schwerwiegender Informationsmangel entstanden sein soll, ist nicht ersichtlich. Der Anklagegrundsatz wurde nicht verletzt; die Rüge erweist sich als unbegründet.» (E.1.5).
Mit der Rüge der falschen Sachverhaltsdarstellung drang der Beschwerdeführer vor dem Bundesgericht ebenfalls nicht durch, soweit sie überhaupt zulässig war (E.2.1 bis E.2.4).
Das Bundesgericht folgert im Urteil 6B_101/2022 vom 30. Januar 2023 alsdann: «Soweit der Beschwerdeführer schliesslich eine Verletzung von Art. 312 StGB geltend machen will, weil der auf der subjektiven Ebene der Absicht geforderte Nachteil nicht in der Zwangshandlung selber liegen könne, ist der vorinstanzliche Schuldspruch nach dem in E. 1.3 hiervor Gesagten nicht zu beanstanden.» (E.3).