April 4, 2025 3:28 pm

Im Urteil 7B_145/2025 vom 25. März 2025 aus dem Kanton Zürich (zur amtl. Publ. bestimmt) befasste sich das Bundesgericht mit dem Entsiegelungsrecht, genauer mit der Frage des Schutzes von persönlichen Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, angerufen wurden in diesem Fall intime Fotos und Videos. Das Bundesgericht äusserte sich wie folgt: «Damit ist zugleich aber auch gesagt, dass der Gesetzgeber - trotz der durch ihn vorgenommenen grundsätzlichen Eingrenzung der gesetzlichen Entsiegelungshindernisse - mit dem vorbehaltlosen Verweis auf Art. 264 StPO ohne Einschränkung an der Möglichkeit festhalten wollte, sich im Entsiegelungsverfahren betreffend persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz auf Privatgeheimnisse zu berufen.» (E.2.6).  «Persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person sind wie gesehen gerade nicht absolut geschützt, sondern nur dann, wenn das Interesse am Schutz ihrer Persönlichkeit das Strafverfolgungsinteresse überwiegt. Daraus folgt, dass auf eine Beschwerde gegen die Entsiegelung eines Mobiltelefons nur dann gestützt auf Art. 264 Abs. 1 lit. b StPO eingetreten werden kann, wenn die beschwerdeführende Partei dartut oder ohne Weiteres erkennbar ist, dass das Interesse am Schutz ihrer Persönlichkeit gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse überwiegen könnte […]. Andernfalls droht von vornherein keine Offenbarung eines geschützten Geheimnisses und damit auch kein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG.» (E.2.7).

April 4, 2025 1:24 pm

Im wirtschaftsstrafrechtlichen Urteil 6B_530/2024 vom 10. März 2025 aus dem Kanton Bern ging es vor Bundesgericht u.a. um die Veruntreuung von Geldern durch einen Bankmitarbeiter (aus Kontokorrentbeziehung) sowie die Frage der Stellung der Bank als Privatklägerin. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist Veruntreuung kein Auffangtatbestand für Betrug, wenn der Betrugstatbestand aufgrund mangelnder Arglist nicht erfüllt ist […]. Sind beide Tatbestände erfüllt, so stehen Betrug und Veruntreuung grundsätzlich in einem Verhältnis unechter Konkurrenz zueinander, bei dem der Betrug die Veruntreuung konsumiert […]. Anders verhält es sich jedoch, wenn nicht die Einwirkung auf die Willensbildung, sondern die Übertragung der Verfügungsmacht im Zentrum des Sachverhaltes steht. In diesem Fall steht einer Verurteilung wegen Veruntreuung auch dann nichts im Weg, wenn der Betrugstatbestand aufgrund mangelnder Arglist nicht erfüllt ist […]. Dem ist hinzuzufügen, dass dasselbe gilt, wenn der Schwerpunkt des massgeblichen Sachverhaltes auf dem Missbrauch der Verfügungsmacht liegt.» (E.2.1).  «Die Legitimation des Privatklägers zur Ergreifung von Rechtsmitteln der StPO setzt voraus, dass er im Sinn von Art. 115 Abs. 1 StPO geschädigt, das heisst durch die Straftat in seinen Rechten unmittelbar verletzt ist (vgl. Art. 382 Abs. 1 StPO). Die betreffende Handlung muss straf- und zivilrechtlich zugleich relevant sein […]. Deswegen ist im Sinn von Art. 115 Abs. 1 StPO in eigenen Rechten nur betroffen, wer Träger des durch die verletzte Strafnorm geschützten oder zumindest mitgeschützten Rechtsguts ist […]. Bei Straftaten gegen das Vermögen gilt der Träger des geschädigten Vermögens als geschädigte Person […]. Im Urteil […] hat das Bundesgericht festgehalten, dass bei der Veruntreuung u.a. durch weisungswidrige Barbezüge der Schaden primär bei der Bank entstehe, aber auch der Kunde einen Schaden habe, weil er zumindest vorübergehend (bis die Bank ihn entschädigt) nicht über sein (gesamtes) Vermögen verfügen könne. Ausschlaggebend ist, ob eine tatsächliche Schädigung durch Verminderung von Aktiven, Vermehrung der Passiven, Nichtvermehrung der Aktiven oder Nichtverminderung der Passiven vorliegt, oder ob das Vermögen in einem Masse gefährdet wird, dass es in seinem wirtschaftlichen Wert vermindert ist […]» (E.3.2).

April 3, 2025 2:18 pm

Im Urteil 6B_1005/2023 vom 10. März 2025 aus dem Kanton Zürich ging es um einen zu schnell fahrenden BMW. Zur Diskussion standen dabei auch technische Details des Messgeräts. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung gewährleistet das Eichzertifikat grundsätzlich das vorschriftsgemässe und zuverlässige Funktionieren eines Messgeräts […]. Vorliegend wird nicht bestritten, dass das verwendete Messmittel zum Zeitpunkt der Messung geeicht war. Der Beschwerdeführer macht jedoch geltend, die Visiereinrichtung sei vor der Messung nicht wie vom Hersteller vorgeschrieben getestet worden, weshalb das Gerät nicht hätte eingesetzt werden dürfen. Diesbezüglich ist den vorinstanzlichen Erwägungen zu entnehmen, die Ausrichtung des Fadenkreuzes der Visiervorrichtung werde bei der jährlichen Eichung überprüft und der Messbeamte nehme vor jeder Messserie "den Gerätetest" vor; auch im vorliegenden Fall habe der zuständige Beamte, B., die Durchführung "des vorgeschriebenen Gerätetests" unterschriftlich auf dem Messprotokoll bestätigt. Zwar bringt der Beschwerdeführer dagegen vor, nach der Bedienungsanleitung des Geräts müsse bei der Prüfung der Visiereinrichtung auch das Fadenkreuz auf dem Monitor justiert werden, was gemäss angefochtenem Urteil nicht Gegenstand der jährlichen Eichprüfung ist. Ob alle erforderlichen Funktionstests nachgewiesenermassen durchgeführt wurden, kann aber letztlich offenbleiben, da das fehlerfreie Funktionieren des Messgeräts erstellt ist […]: Der Sachverständige bestätigte in seinem Gutachten die technische Korrektheit und Plausibilität der Messung. Gestützt auf dieses Gutachten legt die Vorinstanz nachvollziehbar dar, dass die vom Beschwerdeführer beanstandete Verschiebung des auf dem Messvideo sichtbaren Fadenkreuzes die Messung nicht beeinflusse […]. Mangels Hinweisen für eine Fehlfunktion oder -bedienung durfte die Vorinstanz somit auf eine Einvernahme des Messbeamten verzichten und auf die vorgenommene Geschwindigkeitsmessung abstellen.» (E.1.3.2).  Weiter wollte sich der Beschwerdeführer auf Notstand berufen, was das Bundesgericht ablehnte, u.a. wie folgt: «Mit der Vorinstanz erscheint bereits fraglich, ob sich der Beschwerdeführer überhaupt in einer Notstandslage befand, was aber letztlich offenbleiben kann, weil jedenfalls die weiteren Voraussetzungen des Notstands nicht erfüllt sind: Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, hätte der Beschwerdeführer das Überholmanöver ohne Weiteres abbrechen können, als er merkte, dass der überholte Lenker beschleunigte. Was er dagegen unter Berufung auf BGE 97 IV 161 E. 3 einwendet, überzeugt nicht. Zwar ist es nach der Rechtsprechung entschuldbar, wenn der Fahrzeugführer, der sich durch das Verhalten eines anderen plötzlich in eine gefährliche Lage versetzt sieht, von verschiedenen möglichen, annähernd gleichwertigen Massnahmen nicht diejenige ergreift, welche bei nachträglicher längerer Überlegung als die objektiv zweckmässigere erscheint (vgl. BGE 97 IV 161 E. 3; 83 IV 84; Urteile 6B_58/2024 vom 8. August 2024 E. 1.3.2; 6B_982/2023 vom 3. April 2024 E. 1.3.2; 6B_351/2017 vom 1. März 2018 E. 1.4; vgl. auch BGE 95 IV 84 E. 2b; je mit Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer ergriffene Massnahme - noch stärkeres Beschleunigen - war aber nicht, wie er vorbringt, "mindestens" oder auch nur annähernd gleichwertig wie das offensichtlich naheliegende Abbrechen des Überholmanövers und Einscheren hinter dem anderen Fahrzeug, sondern erschien von vornherein als gefährlich. Entsprechend verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, wenn sie den Beschwerdeführer der groben Verkehrsregelverletzung schuldig erklärt.» (E.3.3.2).

April 1, 2025 2:08 pm

Im Urteil 7B_1295/2024 vom 19. März 2025 aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, ob ein Anspruch auf telefonische Kontakte des Beschuldigten mit seiner Verteidigung besteht. Das Bundesgericht äussert sich einleitend wie folgt: «Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig (Art. 32 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Art. 10 Abs. 1 StPO). Dementsprechend darf die strafprozessual inhaftierte beschuldigte Person in ihrer persönlichen Freiheit nicht stärker eingeschränkt werden, als es der Haftzweck sowie die Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt erfordern (Art. 235 Abs. 1 StPO). Die Kontakte zwischen der inhaftierten Person und anderen Personen bedürfen der Bewilligung der Verfahrensleitung. Besuche finden wenn nötig unter Aufsicht statt (Art. 235 Abs. 2 StPO). Die inhaftierte Person kann indessen nach Art. 235 Abs. 4 Satz 1 StPO frei und ohne inhaltliche Kontrolle mit der Verteidigung verkehren. Bei der Verteidigung handelt es sich demnach nicht um eine "andere Person" im Sinne von Art. 235 Abs. 2 StPO, deren Kontakt mit der inhaftierten Person durch die Verfahrensleitung zu bewilligen ist […]. Eine (befristete) Einschränkung dieses freien Verkehrs zwischen der inhaftierten Person und ihrer Verteidigung durch die Verfahrensleitung ist nach Art. 235 Abs. 4 Satz 2 StPO nur bei begründetem Verdacht auf Missbrauch und mit Genehmigung des Zwangsmassnahmengerichts zulässig. Von einer eigentlichen Einschränkung des freien Verkehrs im Sinne von Art. 235 Abs. 4 Satz 2 StPO zu unterscheiden sind administrative und organisatorische Schutzvorkehren zur Gewährleistung der Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt, welche lediglich die Modalitäten des Verkehrs mit der Verteidigung beschlagen […]. Die konkrete Ausgestaltung des Verkehrs der inhaftierten Person mit ihrer Verteidigung richtet sich nach kantonalem Vollzugsrecht (vgl. Art. 235 Abs. 5 StPO), wobei aber die bundesrechtlichen Vorgaben gewahrt werden müssen […]» (E.4). Im vorliegenden Fall schützt das Bundesgericht die Beschwerde wie folgt: Die Abweisung des Gesuchs des Beschwerdeführers um Erteilung einer "Dauertelefonbewilligung" durch die Staatsanwaltschaft bzw. die Abweisung der dagegen gerichteten Beschwerde durch die Vorinstanz ist bundesrechtswidrig. Der Beschwerdeführer verfügt gestützt auf Art. 235 Abs. 4 StPO über einen grundsätzlichen Anspruch auf telefonischen Verkehr mit seiner Verteidigung, weshalb sein Antrag auf Erteilung einer "Dauertelefonbewilligung" mit seiner Verteidigung gutzuheissen ist (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG). Die konkrete Ausgestaltung der Modalitäten des telefonischen Kontakts mit der Verteidigung obliegt den nach Massgabe des kantonalen Rechts zuständigen Vollzugsbehörden (Art. 235 Abs. 5 StPO).» (E.6.4).

März 30, 2025 12:15 pm

Das Bundesgericht präzisiert im Urteil 7B_136/2025 vom 4. März 2025 (zur amtl. Publ. vorgesehen) seine Rechtsprechung zur Anordnung von Haft (Untersuchungs- oder Sicherheitshaft) wegen Wiederholungsgefahr gegenüber verdächtigten Personen, die bisher noch nicht zweimal wegen gleichartiger Straftaten verurteilt wurden. Bei Betäubungsmitteldelikten fällt in solchen Fällen eine Inhaftierung wegen (qualifizierter) Wiederholungsgefahr in der Regel nicht in Betracht. Hier sind einige Ausführungen des Bundesgerichts: «Als Zwischenfazit ergibt sich, dass Haft wegen qualifizierter Wiederholungsgefahr nur zulässig ist, wenn die untersuchte Anlasstat gegen hochwertige Individualrechtsgüter gerichtet war und eine gleichartige Beeinträchtigung ernsthaft zu befürchten ist.» (E.2.3.8). «Widerhandlungen gegen das BetmG sind grundsätzlich keine Gewalthandlungen, aus denen konkrete Opfer hervorgehen. Sie sind in erster Linie gegen die öffentliche Gesundheit und somit nicht gegen ein Individualrechtsgut gerichtet […]. Zwar ist nicht auszuschliessen, dass Widerhandlungen gegen das BetmG, vordergründig solche nach Art. 19 Abs. 1 lit. c BetmG, allenfalls in Verbindung mit einem qualifizierenden Merkmal nach Abs. 2, zu einer konkreten Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Integrität einer Person führen können. Solche Fälle ausgenommen ist die Anwendung von Art. 221 Abs. 1bis StPO auf Betäubungsmitteldelinquenz nach der vorstehenden Auslegeordnung jedoch ausgeschlossen.» (E.2.4.1).  

März 27, 2025 7:24 am

Die Beweise aus einer präventiven verdeckten Fahndung durften gegen einen Mann für seine Verurteilung wegen versuchter sexueller Handlungen mit Kindern verwertet werden. Das Bundesgericht bestätigt im Urteil 6B_490/2024 vom 24. Januar 2025 ein Urteil des Freiburger Kantonsgerichts (zur amtl. Publ. vorgesehen).

März 17, 2025 11:37 am

Im Urteil 7B_743/2024 vom 26. Februar 2025 aus dem Kanton Schaffhausen kämpften eine Rechtsanwältin und ein Rechtsanwalt bis zum Bundesgericht um ein amtliches Mandat. Im Zentrum stand das Vorschlagsrecht des Beschuldigten bezüglich amtlicher Verteidigung. Das Bundesgericht äusserte sich wie folgt: «Das Vorschlagsrecht der beschuldigten Person nach Art. 133 Abs. 2 StPO begründet zwar keine strikte Befolgungs- bzw. Ernennungspflicht zulasten der Verfahrensleitung, für ein Abweichen vom Vorschlag der beschuldigten Person bedarf es jedoch zureichender sachlicher Gründe, wie Interessenskollisionen der erbetenen amtlichen Verteidigung, Überlastung, fehlende fachliche Qualifikation oder andere sachliche Hindernisse […]. Die Verfahrensleitung hat die beschuldigte Person auf das Vorschlagsrecht nach Art. 133 Abs. 2 StPO hinzuweisen, damit diese ihre Verfahrensrechte effektiv wahrnehmen kann. Tut sie dies nicht, führt der Umstand, dass die beschuldigte Person keine Einwände gegen die Mandatierung eines bestimmten Rechtsanwalts oder einer bestimmten Rechtsanwältin als amtliche Verteidigung erhebt, nicht zum Verlust ihres gesetzlich gewährleisteten Vorschlagsrechts […].» (E.2.2). «Die Rüge des Beschwerdeführers ist begründet: […] Er wurde jedoch weder nach seiner ersten noch nach seiner zweiten Festnahme über sein Vorschlagsrecht gemäss Art. 133 Abs. 2 StPO aufgeklärt. Zudem wiegen die am 30. September 2023 neu erhobenen Vorwürfe der vorsätzlich und versuchten vorsätzlichen Tötung viel schwerer als die dem Beschwerdeführer davor zur Last gelegten Delikte. […]. Angesichts der Schwere der neuen Vorwürfe hätte der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall spätestens nach seiner zweiten Verhaftung (erneut) umfassend über seine Rechte betreffend Bestellung der amtlichen Verteidigung aufgeklärt werden müssen. Indem die Strafbehörden dies unterliessen, haben sie das Vorschlagsrecht des Beschwerdeführers verletzt. Ob das Vertrauensverhältnis […] erheblich gestört ist, braucht bei dieser Sachlage nicht weiter geprüft zu werden.» (E.2.4).  

März 12, 2025 1:16 pm

Im Urteil 6B_419/2024 vom 10. Februar 2025 aus dem Kanton Zürich schützte das Bundesgericht die Aussprache einer Nicht obligatorischen Landesverweisung i.S.v. Art. 66abis StGB. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Gemäss Art. 66abis StGB kann das Gericht einen Ausländer für 3-15 Jahre des Landes verweisen, wenn er wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das nicht von Artikel 66a StGB erfasst wird, zu einer Strafe verurteilt oder gegen ihn eine Massnahme nach den Artikeln 59-61 oder 64 StGB angeordnet wird. Wie jeder staatliche Entscheid hat die nicht obligatorische Landesverweisung unter Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 2 und 3 BV) zu erfolgen. Das Gericht hat die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegen die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz abzuwägen. Die erforderliche Interessenabwägung entspricht den Anforderungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK an einen Eingriff in das Privat- und Familienleben […].» (E.5.3.1). «Art. 66abis StGB setzt keine Mindeststrafhöhe voraus […]. Demnach ist die nicht obligatorische Landesverweisung einer aufenthaltsberechtigten Person bei einer Verurteilung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe nicht grundsätzlich als unverhältnismässig zu betrachten, sondern anhand einer Verhältnismässigkeitsprüfung zu beurteilen […]. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die nicht obligatorische Landesverweisung gerade in Fällen zur Anwendung gelangen, bei denen es um Gesetzesverstösse von geringerer Schwere, aber dafür um wiederholte Delinquenz geht […].» (E.5.3.2).

März 10, 2025 3:43 pm

Im Urteil 6B_789/2024 vom 3. Februar 2025 aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden befasste sich das Bundesgericht mit der Strafzumessung durch das Berufungsgericht und äusserte sich u.a. wie folgt: «Bei der Strafzumessung sind nebst dem objektiven und subjektiven Verschulden (Art. 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB) auch das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse des Täters, die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters sowie dessen Verhalten nach der Tat und im Strafverfahren zu berücksichtigen […]. Das Berufungsgericht muss eine eigene Strafzumessung vornehmen […]. Die Bemessung des Tagessatzes nach Art. 34 Abs. 2 StGB richtet sich daher nach den finanziellen Verhältnisse im Zeitpunkt des Berufungsurteils […]. Entscheidend für die Beurteilung der Täterkomponenten sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Berufungsurteils, soweit nicht ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens bildeten […]. Das Berufungsgericht muss - ausser im Anwendungsbereich von Art. 398 Abs. 4 StPO - die für die Strafzumessung erforderlichen persönlichen und finanziellen Verhältnisse daher von Amtes wegen abklären […].  Dies gilt auch dann, wenn die Verfahrensleitung wie vorliegend gestützt auf Art. 406 Abs. 2 StPO die Durchführung eines schriftlichen Berufungsverfahrens anordnete und die Parteien dagegen nicht […]. Angesichts der langen Verfahrensdauer von mehr als 11 Jahren, wobei alleine das zweite Berufungsverfahren rund 5½ Jahre dauerte, hätte sich die Vorinstanz zudem zwingend mit dem in Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 1 StPO verankerten Beschleunigungsgebot und dem Strafmilderungsgrund von Art. 48 lit. e StGB befassen müssen. Die Folgen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots sind meistens die Strafreduktion, manchmal der Verzicht auf Strafe oder, als ultima ratio in Extremfällen, die Einstellung des Verfahrens […]. Weshalb vorliegend eine die Verfahrenseinstellung rechtfertigende, extreme Verletzung des Beschleunigungsgebots vorliegen könnte, zeigt der Beschwerdeführer nicht auf und ist auch nicht ersichtlich. Die Vorinstanz hätte die Verletzung des Beschleunigungsgebots dennoch prüfen und gegebenenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigen müssen.» (E.2.5). 

März 7, 2025 10:29 am

Im Urteil 7B_1092/2024 vom 11. Februar 2025 aus dem Kanton Luzern befasste sich das Bundesgericht mit den Kriterien ob eine amtliche Verteidigung notwendig ist oder ob ein Bagatellfall vorliegt. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ordnet die Verfahrensleitung eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist. Letzteres ist nach Art. 132 Abs. 2 StPO namentlich dann der Fall, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre. Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist (Art. 132 Abs. 3 StPO). Bei der Prüfung von Art. 132 Abs. 3 StPO ist nicht die abstrakte Strafandrohung massgebend, sondern eine konkrete Betrachtungsweise (vgl. BGE 143 I 164 E. 3.3 mit Hinweisen; Urteil 1B_228/2021 vom 16. Juli 2021 E. 3.2). Nach der Rechtsprechung ist zudem nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen, wenn die in dieser Bestimmung genannten Schwellenwerte nicht erreicht sind. Wie Art. 132 Abs. 2 StPO durch die Verwendung des Worts "namentlich" zum Ausdruck bringt, kann die Gewährung der amtlichen Verteidigung sodann auch aus anderen als den im Gesetz genannten Voraussetzungen geboten sein. Ausschlaggebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalls. Je schwerwiegender der Eingriff in die Interessen der betroffenen Person ist, desto geringer sind die Anforderungen an die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten und umgekehrt (BGE 143 I 164 E. 3.6; Urteile 7B_935/2023 vom 28. August 2024 E. 2.1; 1B_228/2021 vom 16. Juli 2021 E. 2; je mit Hinweisen). Droht zwar ein erheblicher, nicht aber ein besonders schwerer Eingriff, müssen zur relativen Schwere des Eingriffs besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die betroffene Person - auf sich allein gestellt - nicht gewachsen wäre. Als besondere Schwierigkeiten, die eine amtliche Vertretung rechtfertigen können, fallen namentlich in der betroffenen Person liegende Gründe in Betracht, insbesondere deren Unfähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Urteile 7B_935/2023 vom 28. August 2024 E. 2.1; 1B_72/2021 vom 9. April 2021 E. 4.1; je mit Hinweisen). Selbst in Bagatellfällen ist eine amtliche Verteidigung nicht ausgeschlossen, ein Anspruch auf amtliche Verteidigung besteht jedoch nur ausnahmsweise. Dies kann zutreffen, wenn der Fall ganz besondere Schwierigkeiten bietet oder eine besondere Tragweite aufweist, zum Beispiel wenn der Entzug einer Berufsausübungsbewilligung oder der elterlichen Sorge droht (vgl. Urteile 1B_94/2023 vom 4. Mai 2023 E. 2.1; 1B_618/2021 vom 15. Februar 2022 E. 3.3; je mit Hinweisen).» (E.2.3).