Electronic Monitoring: Erweiterung des Anwendungsbereichs

Electronic Monitoring (elektronische Überwachung) kann als Strafvollzugsform in Betracht kommen, wenn der vollziehbare Teil einer teilbedingten Freiheitsstrafe höchstens 12 Monate beträgt. Das Bundesgericht gleicht im Urteil 7B_261/2023 vom 18. März 2024 seine Praxis zum Electronic Monitoring derjenigen zur Halbgefangenschaft an. Bis anhin war Electronic Monitoring nur zulässig, wenn die Gesamtfreiheitsstrafe nicht über einem Jahr lag. Das Bundesgericht stützt sich insbesondere, nach eingehender Begründung, auch auf Lehrmeinungen. Das Bundesgericht argumentiert u.a. wie folgt: «Insgesamt liegen ernsthafte, sachliche Gründe vor, die für eine gleiche Bemessung der zeitlichen Höchststrafe von 12 Monaten bei den besonderen Vollzugsformen der Halbgefangenschaft (Art. 77b Abs. 1 StGB) und der elektronischen Überwachung (Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB) sprechen. Die Gründe, die für eine unterschiedliche Behandlung dieser Vollzugsformen hinsichtlich dieser zeitlichen Voraussetzung in der bisherigen bundesgerichtlichen Praxis vorgebracht wurden (vgl. oben E. 2.3.4-2.3.7), erweisen sich unter Berücksichtigung der berechtigten Kritik in der Lehre nicht mehr als stichhaltig. Aus der Auslegung der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung von Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB ergibt sich, dass angesichts der spezialpräventiven Zielsetzung (vgl. oben E. 2.3.10) und der grundsätzlichen Gleichstellung der besonderen Vollzugsformen (vgl. oben E. 2.3.11) in Abänderung der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei teilbedingten Freiheitsstrafen (Art. 43 StGB) für die Bemessung der massgebenden Maximaldauer von 12 Monaten sowohl bei der Halbgefangenschaft (Art. 77b Abs. 1 StGB) als auch bei der elektronischen Überwachung (Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB) auf den unbedingt vollziehbaren Teil der ausgesprochenen teilbedingten Strafe und nicht auf die Gesamtfreiheitsstrafe abzustellen ist.» (E.2.4).

Sachverhalt und Instanzenzug

Das Obergericht des Kantons Bern hatte eine Frau 2019 zu einer Freiheitsstrafe von 36 Monaten verurteilt; 10 Monate davon sprach es unbedingt aus. Ihr Gesuch um Vollzug des unbedingten Teils der Freiheitsstrafe in Form von Electronic Monitoring wurde abgewiesen, ebenso ihre spätere Beschwerde ans Berner Obergericht.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_261/2023 vom 18. März 2024

Das Bundesgericht heisst im Urteil 7B_261/2023 vom 18. März 2024 die Beschwerde der Frau gut und weist die Sache zu neuem Entscheid zurück ans Berner Obergericht.

Als Alternative zum Normalvollzug einer Freiheitsstrafe in einer Strafanstalt wurden per 1. Januar 2018 für kurze Freiheitsstrafen unter anderem die besonderen Vollzugsformen der Halbgefangenschaft und des Electronic Monitoring eingeführt. Sowohl die Halbgefangenschaft als auch die elektronische Überwachung kommen von Gesetzes wegen nur bei Freiheitsstrafen mit einer Maximaldauer von 12 Monaten in Frage. In seiner bisherigen Rechtsprechung ging das Bundesgericht davon aus, dass als zeitliche Voraussetzung für Electronic Monitoring die ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe (unbedingter und bedingter Teil) 12 Monate nicht übersteigen dürfe. Es liegen ernsthafte sachliche Gründe vor, diese Praxis aufzugeben und die zeitliche Grenze für Electronic Monitoring derjenigen für Halbgefangenschaft anzugleichen. Bei der Prüfung beider besonderer Strafvollzugsformen ist demnach massgebend, dass der unbedingt ausgesprochene – also der tatsächlich vollziehbare – Teil der Freiheitsstrafe nicht mehr als 12 Monate beträgt. Zu diesem Ergebnis kommt das Bundesgericht aufgrund der Auslegung der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Regelung der besonderen Vollzugsformen auf Bundesebene. Unter anderem berücksichtigt es dabei die entsprechenden parlamentarischen Debatten und die in der Lehre geübte Kritik. Im konkreten Fall beträgt der unbedingt ausgesprochene Strafteil 10 Monate, womit ein Electronic Monitoring grundsätzlich in Betracht fällt.

Das Berner Obergericht wird prüfen müssen, ob die weiteren Voraussetzungen dieser Vollzugsform erfüllt sind; dazu gehört unter anderem, dass weder Flucht- noch Rückfallgefahr besteht.

Hier sind die wichtigsten Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_261/2023 vom 18. März 2024 im Originalwortlaut:

«Am 1. Januar 2018 ist das revidierte Sanktionenrecht in Kraft getreten (AS 2016 1249). Dabei wurden als Alternative zum Normalvollzug in einer Strafanstalt (Art. 77 StGB) die Halbgefangenschaft (Art. 77b StGB), die gemeinnützige Arbeit (Art. 79a StGB) und die elektronische Überwachung (Art. 79b StGB) als besondere Vollzugsformen für kurze Freiheitsstrafen eingeführt (Botschaft vom 4. April 2012 zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes [Änderung des Sanktionenrechts], BBl 2012 4738 ff. Ziff. 1.4.4, 4746 ff. Ziff. 2.1).» (E.2.2.1).

«Gemäss Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB kann die Vollzugsbehörde auf Gesuch des Verurteilten hin den Einsatz elektronischer Geräte und deren feste Verbindung mit dem Körper des Verurteilten (elektronische Überwachung) für den Vollzug einer Freiheitsstrafe oder einer Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen bis zu 12 Monaten anordnen. Nach Art. 79b Abs. 2 StGB kann die Vollzugsbehörde die elektronische Überwachung nur anordnen, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte flieht oder weitere Straftaten begeht (lit. a), der Verurteilte über eine dauerhafte Unterkunft verfügt (lit. b), er einer geregelten Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung von mindestens 20 Stunden pro Woche nachgeht oder ihm eine solche zugewiesen werden kann (lit. c), die mit dem Verurteilten in derselben Wohnung lebenden erwachsenen Personen zustimmen (lit. d) und der Verurteilte einem für ihn ausgearbeiteten Vollzugsplan zustimmt (lit. e). Sind die Voraussetzungen nach Absatz 2 lit. a, b oder c nicht mehr erfüllt oder verletzt der Verurteilte seine im Vollzugsplan festgehaltenen Pflichten, so kann die Vollzugsbehörde den Vollzug in Form der elektronischen Überwachung abbrechen und den Vollzug der Freiheitsstrafe im Normalvollzug oder in der Form der Halbgefangenschaft anordnen oder die dem Verurteilten zustehende freie Zeit einschränken (Art. 79b Abs. 3 StGB).» (E2.2.2).

«Das Bundesgericht hielt zu den kantonalen Modellversuchen vor Einführung einer Regelung auf Bundesebene fest, es sei nicht willkürlich, dass eine kantonale Rechtsgrundlage die Vollzugsform der elektronischen Überwachung nur bei Gesamtfreiheitsstrafen (d.h. bedingter und unbedingter Teil) von bis zu 12 Monaten zulasse (Urteil 6B_582/2008 vom 5. November 2008 E. 2.4; etwa bestätigt in: Urteile 6B_240/2009 vom 8. Mai 2009 E. 2.3; 6B_874/2016 vom 25. Oktober 2016 E. 2.2). Es ging weiter davon aus, eine kantonale Regelung, die bei teilbedingten Strafen bloss auf den vollziehbaren Strafteil abstelle, verletze die im Bundesratsbeschluss vom 2. September 2015 (BBl 2015 6925) bewilligte Strafmassobergrenze und sei bundesrechtswidrig. Massgebend sei das vom Gericht „ausgesprochene Strafmass“ (Urteil 6B_1253/2015 vom 17. März 2016 E. 2.5 f. mit Verweis auf BBl 2012 4748). Diese Rechtsprechung wurde in der Folge unter altem Recht mehrfach bestätigt (vgl. Urteile 6B_1204/2015 vom 3. Oktober 2016 E. 1.4; 6B_51/2016 vom 3. Juni 2016 E. 5.4).» (E.2.2.3).

«Das Bundesgericht hat auch nach Inkrafttreten von Art. 79b StGB am 1. Januar 2018 auf seine Rechtsprechung zu den kantonalen Modellversuchen verwiesen (vgl. Urteile 6B_223/2021 vom 27. April 2022 E. 2.2.6; 6B_627/2020 vom 21. April 2021 E. 1.2), allerdings ohne sich mit der neuen Regelung auf Bundesebene näher zu befassen. Gemäss dieser bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist bei teilbedingten Strafen auf die Gesamtstrafe (bedingter plus unbedingter Teil der Strafe) abzustellen, d.h. der Vollzug des unbedingten Teils der Freiheitsstrafe in Form der elektronischen Überwachung ist nur zulässig, wenn die ausgesprochene Strafe insgesamt nicht höher als 12 Monate ist (vgl. Urteile 6B_223/2021 vom 27. April 2022 E. 2.2.6; 6B_1204/2015 vom 3. Oktober 2016 E. 1.4; 6B_51/2016 vom 3. Juni 2016 E. 5.4; 6B_1253/2015 vom 17. März 2016 E. 2.6). Die elektronische Überwachung als Vollzugsform kommt demnach nur bei teilbedingten Strafen mit der absoluten Mindestdauer von 12 Monaten Gesamtstrafe, davon sechs Monate bedingt und sechs Monate unbedingt (vgl. Art. 43 Abs. 1 und 3 StGB) in Betracht (Urteil 6B_223/2021 vom 27. April 2022 E. 2.2.6 mit Hinweisen).» (E.2.2.4).

«Im Gegensatz zum Vollzug von teilbedingten Strafen mittels elektronischer Überwachung wird beim Vollzug teilbedingter Freiheitsstrafen in Form von Halbgefangenschaft nach Art. 77b Abs. 1 StGB für die Bemessung der Maximaldauer der Freiheitsstrafe in ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung an den unbedingten Teil der ausgesprochenen Strafe angeknüpft (vgl. Urteile 6B_1321/2016 vom 8. Mai 2017 E. 2.4; 6B_51/2016 vom 3. Juni 2016 E. 5.4; 6B_494/2011 vom 4. Oktober 2011 E. 2.3; 6B_175/2011 vom 1. September 2011 E. 1.7; 6B_169/2011 vom 8. Juni 2011 E. 3.4.2; 6B_471/2009 vom 24. Juli 2009 E. 4.2; 6B_668/2007 vom 15. April 2008 E. 5.4; implizit auch: Urteile 6B_607/2014 vom 27. Oktober 2014 E. 1.5; 6B_164/2011 vom 23. Dezember 2011 E. 4.4.3; vgl. zur seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung von Art. 77b Abs. 1 StGB: Urteile 6B_1273/2021 vom 14. März 2023 E. 5.4.2; 6B_942/2019 vom 2. Oktober 2020 E. 1.3.2).» (E.2.2.5).

«Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu den kantonalen Modellversuchen ist in der Literatur teils auf Kritik gestossen (vgl. Fabienne Germanier, Angehörigeninteressen in der Strafzumessung, 2019, S. 296 ff.; Markus Husmann, in: Annotierter Kommentar StGB, Damian K. Graf [Hrsg.], 2020, N. 9 zu Art. 79b StGB; Jasmine Stössel, Electronic Monitoring im Schweizer Erwachsenenstrafrecht unter besonderer Berücksichtigung der Änderungen des Sanktionenrechts, 2018 [zit. Jasmine Stössel, Electronic Monitoring], S. 183 f.; dies., Unterschiedliche Massstäbe für Electronic Monitoring und Halbgefangenschaft, ContraLegem 2019/2 [zit. Jasmine Stössel, ContraLegem 2019/2], S. 84 ff.; Thierry Urwyler, Electronic Monitoring [Front Door]: Berechnung der zulässigen Maximalstrafe bei teilbedingten Freiheitsstrafen, recht 1/2022, S. 24 ff.). Eine Auseinandersetzung mit der Kritik erfolgte in der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung indes nicht (s. Urteil 6B_223/2021 vom 27. April 2022 E. 2.2.6). Eine solche Auseinandersetzung drängt sich im vorliegenden Fall angesichts der vorgebrachten Rügen der Beschwerdeführerin (vgl. oben E. 2.1) auf.» (E.2.2.6).

«Nach einem Teil der Lehre soll für die Bemessung der zulässigen Maximaldauer der Freiheitsstrafe im Rahmen von Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB – wie bei der Halbgefangenschaft (Art. 77b Abs. 1 StGB; vgl. oben E. 2.2.5) – bei teilbedingten Strafen nur der unbedingte Teil der ausgesprochenen Freiheitsstrafe massgebend sein (vgl. Ludivine Ferreira Broquet, Le bracelet électronique en Suisse: hier, aujourd’hui et demain, 2015, Rz. 844; Fabienne Germanier, a.a.O., S. 303; Markus Husmann, a.a.O., N. 9 zu Art. 79b StGB; Jasmine Stössel, ContraLegem 2019/2, S. 87 f.; Thierry Urwyler, a.a.O., S. 31).  Ein Teil der Lehre ist hingegen der Ansicht, dass auch bei der Halbgefangenschaft (Art. 77b Abs. 1 StGB) – wie bei der elektronischen Überwachung (Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB; vgl. oben E. 2.2.4) – für die Bemessung der zulässigen Maximaldauer bei teilbedingten Strafen an die ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe und nicht an den unbedingten Teil der Freiheitsstrafe angeknüpft werden soll (vgl. Benjamin F. Brägger, Vollzugsrechtliche Auswirkungen der jüngsten Revision des Schweizerischen Sanktionenrechts, SZK 2/2017 [zit. Benjamin F. Brägger, SZK 2/2017], S. 25 f.; ders., Halbgefangenschaft, in: Das schweizerische Vollzugslexikon, Von der vorläufigen Festnahme zur bedingten Entlassung, Benjamin F. Brägger [Hrsg.], 2. Aufl. 2022 [zit. Benjamin F. Brägger, Halbgefangenschaft], S. 317; ders., Voraussetzungen für die Zulassung zur Halbgefangenschaft, in: Jusletter 18. Mai 2009, Rz. 12 ff.; Sophie Werninger, Die elektronische Überwachung [Art. 79b StGB], ZStrR 136/2018, S. 226). Weitere Autoren schliessen sich der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu den kantonalen Modellversuchen an, ohne diese näher zu kommentieren (vgl. Peter Aebersold, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Trechsel/Pieth [Hrsg.], 4. Aufl. 2021, N. 8 zu Art. 79b StGB; Baechtold/Weber/Hostettler, Strafvollzug, Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen in der Schweiz, 3. Aufl. 2016, S. 147; Cornelia Koller, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 12 zu Art. 79b StGB; Gino Lohri, Electronic Monitoring, in: Das schweizerische Vollzugslexikon, Von der vorläufigen Festnahme zur bedingten Entlassung, Benjamin F. Brägger [Hrsg.], 2. Aufl. 2022, S. 206; Stratenwerth/Bommer, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, 3. Aufl. 2020, § 3 Rz. 66; Wolfgang Wohlers, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, Wohlers/Schlegel/Godenzi [Hrsg.], 4. Aufl. 2020, N. 3 zu Art. 79b StGB; Baptiste Viredaz, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2. Aufl. 2021, N. 8 zu Art. 79b StGB).» (E.2.2.7).

Betreffend der Änderung der Praxis im allgemeinen und betreffend des konkreten Falles im besonderen führt das Bundesgericht im Urteil 7B_261/2023 vom 18. März 2024 weiter aus:

«Eine Änderung der Rechtsprechung muss sich auf ernsthafte, sachliche Gründe stützen können, die – vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit – umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis des Gesetzeszweckes, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht, andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten (BGE 149 II 381 E. 7.3.1; 149 V 177 E. 4.5; 148 III 270 E. 7.1; je mit Hinweisen).» (E.2.3.1).

«Gemäss der Rechtsprechung zu den kantonalen Modellversuchen kommt die elektronische Überwachung als Vollzugsform für eine teilbedingte Freiheitsstrafe mit der absoluten Mindestdauer von 12 Monaten Gesamtstrafe, davon sechs Monate bedingt und sechs Monate unbedingt (vgl. Art. 43 Abs. 1 und 2 StGB), in Betracht (vgl. oben E. 2.2.4). Grundvoraussetzung für eine teilbedingte Strafe gemäss Art. 43 StGB ist wie bei Art. 42 StGB, dass die Legalprognose des Täters nicht schlecht ausfällt (vgl. BGE 144 IV 277 E. 3.1.1; 139 IV 270 E. 3.3; 134 IV 1 E. 5.3.1). Eine Strafe wird hingegen unbedingt ausgesprochen (d.h. ist in voller Länge zu vollziehen), wenn eine ungünstige Legalprognose vorliegt, d.h. wenn keinerlei Aussicht besteht, dass der Täter sich durch den ganz oder teilweise gewährten Strafaufschub im Hinblick auf sein zukünftiges Legalverhalten positiv beeinflussen lässt (vgl. BGE 144 IV 277 E. 3.1.1; 134 IV 1 E. 5.3.1; Urteile 6B_962/2023 vom 26. Februar 2024 E. 2.3.2; 6B_1157/2022 vom 24. Februar 2023 E. 2.3.2; 6B_1485/2022 vom 23. Februar 2023 E. 2.3). Die in Bezug auf die kantonalen Modellversuche ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. oben E. 2.2.4) führt im Ergebnis dazu, dass etwa bei Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten eine ungünstige Prognose vorliegt, der elektronisch überwachte Vollzug nach Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB jedoch möglich ist, während bei einer teilbedingten Freiheitsstrafe im überschneidenden Anwendungsbereich von bedingter und teilbedingter Strafe (d.h. zwischen einem und zwei Jahren) die Prognose an sich besser ist (vgl. BGE 134 IV 1 E. 5.5.2), der Vollzug mittels elektronischer Überwachung jedoch nicht zulässig ist. Diese Rechtsfolge wird zu Recht als widersprüchlich kritisiert (vgl. Markus Husmann, a.a.O., N. 9 zu Art. 79b StGB; Jasmine Stössel, ContraLegem 2019/2, S. 87; Thierry Urwyler, a.a.O., S. 30 f.; vgl. in diesem Sinne bereits Votum Schwaab, AB 2013 N 1651 [„pas cohérent“]).» (E.2.3.7).

«Wie bereits erwähnt (vgl. oben E. 2.2.7), wird in der Literatur zum Teil postuliert, dass für die Bemessung der zulässigen Maximalstrafe von 12 Monaten bei teilbedingten Strafen sowohl bei der Halbgefangenschaft als auch bei der elektronischen Überwachung an die ausgesprochene Gesamtstrafe angeknüpft werden soll. Als Begründung wird vorgebracht, dass im Falle von teilbedingten Strafen Angeschuldigte zu Freiheitsstrafen bis zu 36 Monaten verurteilt werden könnten, wobei der nicht aufgeschobene Teil vielfach eine Dauer von 12 Monaten nicht übersteige. Diese Fälle beträfen den Bereich der mittleren bis schweren Kriminalität. Aus dem Blickwinkel der öffentlichen Sicherheit sei anzuzweifeln, ob diese Täterkategorie automatisch in den Genuss der Halbgefangenschaft kommen solle (Benjamin F. Brägger, SZK 2/2017, S. 25 f.; ders., Halbgefangenschaft, S. 317). Diese Ansicht vermag nicht zu überzeugen.  

Zunächst trifft keineswegs zu, dass eine bestimmte Täterkategorie „automatisch“ in den Genuss einer besonderen Vollzugsform kommen würde. Vielmehr setzt die Gewährung einer besonderen Vollzugsform stets die Erfüllung bestimmter, im Gesetz genannter Voraussetzungen voraus. Dem Aspekt der öffentlichen Sicherheit wird unabhängig von der Strafdauer und der Deliktsart mit der Voraussetzung der fehlenden Rückfallgefahr im Rahmen der Anordnung der besonderen Vollzugsformen der elektronischen Überwachung (Art. 79b Abs. 2 lit. a StGB) und der Halbgefangenschaft (Art. 77b Abs. 1 lit. a StGB) Rechnung getragen (vgl. Fabienne Germanier, a.a.O., S. 300 Fn. 1144; Cornelia Koller, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 8 zu Art. 77b StGB; Jasmine Stössel, ContraLegem 2019/2, S. 86; Thierry Urwyler, a.a.O., S. 30; Sophie Werninger, a.a.O., S. 223 und 226). Das Gesetz sieht die Voraussetzung der fehlenden Rückfallgefahr für beide besondere Vollzugsformen vor. Diese ist in beiden Bestimmungen gleich anzuwenden (Urteile 7B_130/2023 vom 9. Februar 2024 E. 2.2.3; 6B_1261/2021 vom 5. Oktober 2022 E. 2.1; 6B_872/2021 vom 28. Juni 2022 E. 2.2; Cornelia Koller, a.a.O., N. 17 zu Art. 79b StGB). Die Rückfallgefahr muss von einer gewissen Bedeutung sein und die zu erwartenden neuen Straftaten müssen eine gewisse Erheblichkeit aufweisen, um eine der genannten besonderen Vollzugsformen auszuschliessen (BGE 145 IV 10 E. 2.2.1; Urteile 7B_130/2023 vom 9. Februar 2024 E. 2.2.3; 6B_1261/2021 vom 5. Oktober 2022 E. 2.2; 6B_872/2021 vom 28. Juni 2022 E. 2.1; 6B_1082/2016 vom 28. Juni 2017 E. 2.1; Cornelia Koller, a.a.O., N. 9 zu Art. 77b StGB; Baptiste Viredaz, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2. Aufl. 2021, N. 9 zu Art. 77b StGB). Für die Prognose im Hinblick auf das künftige Verhalten des Verurteilten hat die Vollzugsbehörde namentlich seine Vorstrafen, seine Persönlichkeit, sein Verhalten im Allgemeinen und bei der Arbeit sowie die Umstände, unter denen er leben wird, zu berücksichtigen (BGE 145 IV 10 E. 2.2.1; Urteile 7B_130/2023 vom 9. Februar 2024 E. 2.2.3; 6B_1261/2021 vom 5. Oktober 2022 E. 2.2; 6B_872/2021 vom 28. Juni 2022 E. 2.1; je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen ist ferner, dass Electronic Monitoring ohnehin kein taugliches Mittel ist, um (weitere) Straftaten zu verhindern (vgl. BGE 145 IV 503 E. 3.3.1; Cornelia Koller, a.a.O., N. 17 zu Art. 79b StGB; Gino Lohri, a.a.O., S. 207; vgl. dazu bereits Votum Sommaruga, AB 2013 N 1650, und Votum Jositsch, AB 2013 N 1649). Diese besondere Vollzugsform – wie auch die Halbgefangenschaft – kommt damit von vornherein ausschliesslich in Fällen in Betracht, bei welchen eine Rückfallgefahr des Verurteilten ausgeschlossen ist, was im Gesetzestext klar zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Art. 79b Abs. 2 lit. a StGB). Eine unterschiedliche Behandlung der elektronischen Überwachung und der Halbgefangenschaft bei teilbedingten Strafen lässt sich auch nicht damit begründen, dass im Falle der Halbgefangenschaft auf Grund des Aufenthaltes des Verurteilten innerhalb der Strafanstalt (vgl. Art. 77b Abs. 2 StGB) bessere Kontrollmöglichkeiten bestünden und der Verurteilte enger betreut und überwacht würde (vgl. die für das Ostschweizer Strafvollzugskonkordat und für das Strafvollzugskonkordat Nordwest- und Innerschweiz einschlägigen Richtlinien für die besonderen Vollzugsformen [gemeinnützige Arbeit, elektronische Überwachung, Halbgefangenschaft] vom 31. März 2017, Fn. 5). Der Aspekt der Kontrollmöglichkeit zielt auf die mögliche Gefahr, die vom Verurteilten ausgehen könnte. Indes setzt die Gewährung der besonderen Vollzugsform der elektronischen Überwachung voraus, dass weder eine Flucht- noch eine Rückfallgefahr des Verurteilten vorliegt (Art. 79b Abs. 2 lit. a StGB; vgl. Fabienne Germanier, a.a.O., S. 300 Fn. 1144).» (E.2.3.8).

«Sofern im Rahmen der parlamentarischen Debatte Zweifel betreffend den Strafcharakter von Electronic Monitoring geäussert wurden (vgl. Votum Rickli, AB 2013 N 1649), gilt es Folgendes zu beachten: Die besondere Vollzugsform der elektronischen Überwachung ist – wie die Halbgefangenschaft – an strenge Auflagen gebunden. Verlangt wird unter anderem, dass der Verurteilte einer geregelten Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung von mindestens 20 Stunden pro Woche nachgeht (Art. 79b Abs. 2 lit. c StGB) und dass er einem für ihn ausgearbeiteten Vollzugsplan zustimmt (Art. 79b Abs. 2 lit. e StGB). Die verurteilte Person ist in ihrer Lebensgestaltung beim Strafvollzug in Form der elektronischen Überwachung nicht frei (vgl. Votum Guhl, AB 2013 N 1650). Sie verpflichtet sich vielmehr, den festgelegten Wochenplan und das Betreuungsprogramm einzuhalten. Nebst der Arbeits- oder Ausbildungszeit von mindestens 20 Stunden pro Woche besteht auch Anspruch auf Freizeit ausserhalb der Wohnung. Diese Zeitfenster zur freien Verfügung ausserhalb der Wohnung sind jedoch zeitlich limitiert. Ausserhalb der Arbeits- oder Ausbildungszeit sowie der limitierten Zeit zur freien Verfügung befindet sich die verurteilte Person grundsätzlich im elektronisch überwachten Hausarrest (Urteil 6B_223/2021 vom 27. April 2022 E. 2.2.5). Electronic Monitoring verlangt vom Verurteilten mehr Selbstdisziplin als die Halbgefangenschaft, weshalb diese Vollzugsform durchaus als Strafe empfunden wird (vgl. Votum Sommaruga, AB 2014 S 630).  

Auch die Lehre hat bereits wiederholt auf den Strafcharakter von Electronic Monitoring hingewiesen (vgl. dazu Fabienne Germanier, a.a.O., S. 301 ff.; Richter/Ryser/Hostettler, Punitiveness of electronic monitoring: Perception and experience of an alternative sanction, European Journal of Probation 2021, S. 262 ff.; Thierry Urwyler, a.a.O., S. 29 Fn. 32).» (E.2.3.9).

«Für eine Gleichbehandlung der besonderen Vollzugsformen der Halbgefangenschaft und der elektronischen Überwachung hinsichtlich der Bemessung der zeitlichen Obergrenze spricht auch deren spezialpräventive Zielsetzung. Diese liegt gemäss gesetzlicher Konzeption darin, die negativen Auswirkungen eines vollständigen Freiheitsentzugs für Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr einzuschränken (vgl. BBl 2012 4736 Ziff. 1.4.2; Jasmine Stössel, ContraLegem 2019/2, S. 86).  

Die Halbgefangenschaft ist spezialpräventiv ausgerichtet und soll dem Verurteilten ermöglichen, seinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu behalten, und so eine Desintegration aus der Arbeitswelt verhindern (vgl. BGE 145 IV 10 E. 2.2.1; Cornelia Koller, a.a.O., N. 2 zu Art. 77b StGB; Jasmine Stössel, Electronic Monitoring, S. 370). In dieser Vollzugsform setzt der Verurteilte „seine Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung ausserhalb der Anstalt fort und verbringt die Ruhe- und Freizeit in der Anstalt“ (Art. 77b Abs. 2 StGB). Auch die Vollzugsform mittels elektronischer Überwachung ist spezialpräventiv ausgerichtet. Im Gegensatz zur Halbgefangenschaft werden mit dem elektronisch überwachten Vollzug die negativen Auswirkungen des Strafvollzugs nicht nur im Arbeitsbereich, sondern auch im privaten, sozialen und familiären Bereich eingeschränkt (vgl. Fabienne Germanier, a.a.O., S. 298; Cornelia Koller, a.a.O., N. 5 zu Art. 79b StGB; Jasmine Stössel, ContraLegem 2019/2, S. 86; dies., Electronic Monitoring, S. 370). Die dargelegte spezialpräventive Zielsetzung beider Vollzugsformen lässt sich unabhängig davon erreichen, ob es sich um eine unbedingte Freiheitsstrafe oder um den unbedingten Teil einer teilbedingten Freiheitsstrafe handelt (vgl. Thierry Urwyler, a.a.O., S. 31).» (E.2.3.10).

«Aus dem Erfordernis des Gesuchs des Verurteilten, welches für sämtliche besondere Vollzugsformen gilt (vgl. Art. 77b Abs. 1, Art. 79a Abs. 1 und Art. 79b Abs. 1 StGB), ergibt sich, dass die besonderen Vollzugsformen gleichgestellt sind (vgl. Votum Engler, AB 2014 S 642). Bei gegebenen Voraussetzungen geht der Vollzug mittels elektronischer Überwachung als mildere Vollzugsform der Halbgefangenschaft allerdings vor (Cornelia Koller, a.a.O., N. 1 zu Art. 77b StGB und N. 9 zu Art. 79b StGB; Jasmine Stössel, ContraLegem 2019/2, S. 85). Dies ergibt sich sowohl aus dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz (vgl. Art. 5 Abs. 2, Art. 36 Abs. 3 BV) als auch aus Art. 79b Abs. 3 StGB, wonach die weitere Verbüssung der Strafe in der Form von Halbgefangenschaft beim Scheitern des elektronisch überwachten Vollzugs nach Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB möglich sein soll, während beim Scheitern der Halbgefangenschaft gemäss Art. 77b Abs. 4 StGB nur noch der Normalvollzug (Art. 77 StGB) offensteht (Cornelia Koller, a.a.O., N. 1 zu Art. 77b StGB und N. 9 zu Art. 79b StGB).» (E.2.3.11).

«Entgegen der Ansicht der Vorinstanz hätte eine Angleichung der Anwendungsbereiche des Electronic Monitoring (Front Door) und der Halbgefangenschaft hinsichtlich der Bemessung der zeitlichen Obergrenze von 12 Monaten Freiheitsstrafe nicht zur Folge, dass letztere „entbehrlich“ gemacht würde (angefochtener Beschluss S. 7).  Die Halbgefangenschaft setzt gleich wie die elektronische Überwachung voraus, dass weder Flucht- noch Rückfallgefahr vorliegt (Art. 77b Abs. 1 lit. a StGB, Art. 79b Abs. 2 lit. a StGB; vgl. oben E. 2.3.8) und der Verurteilte einer geregelten Arbeit, Ausbildung oder Beschäftigung von mindestens 20 Stunden pro Woche nachgeht (Art. 77b Abs. 1 lit. b StGB, Art. 79b Abs. 2 lit. c StGB). Für die Gewährung der besonderen Vollzugsform der elektronischen Überwachung wird darüber hinaus vorausgesetzt, dass der Verurteilte über eine dauerhafte Unterkunft verfügt (Art. 79b Abs. 2 lit. b StGB), die mit ihm in derselben Wohnung lebenden erwachsenen Personen zustimmen (Art. 79b Abs. 2 lit. d StGB) und er einem für ihn ausgearbeiteten Vollzugsplan zustimmt (Art. 79b Abs. 2 lit. e StGB). Der Umstand, dass – wie die Vorinstanz meint – diese zusätzlichen Voraussetzungen in den allermeisten Fällen erfüllt wären, weil sie „weitestgehend vom Willen der verurteilten Person sowie deren Umfeld“ abhängen würden, sodass kaum noch Anwendungsfälle für die Halbgefangenschaft denkbar wären (angefochtener Beschluss S. 7), vermag eine unterschiedliche Bemessung der zeitlichen Obergrenze von 12 Monaten bei der Halbgefangenschaft und bei der elektronischen Überwachung nicht zu rechtfertigen.» (E.2.3.12).

«Insgesamt liegen ernsthafte, sachliche Gründe vor, die für eine gleiche Bemessung der zeitlichen Höchststrafe von 12 Monaten bei den besonderen Vollzugsformen der Halbgefangenschaft (Art. 77b Abs. 1 StGB) und der elektronischen Überwachung (Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB) sprechen. Die Gründe, die für eine unterschiedliche Behandlung dieser Vollzugsformen hinsichtlich dieser zeitlichen Voraussetzung in der bisherigen bundesgerichtlichen Praxis vorgebracht wurden (vgl. oben E. 2.3.4-2.3.7), erweisen sich unter Berücksichtigung der berechtigten Kritik in der Lehre nicht mehr als stichhaltig. Aus der Auslegung der seit dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung von Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB ergibt sich, dass angesichts der spezialpräventiven Zielsetzung (vgl. oben E. 2.3.10) und der grundsätzlichen Gleichstellung der besonderen Vollzugsformen (vgl. oben E. 2.3.11) in Abänderung der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei teilbedingten Freiheitsstrafen (Art. 43 StGB) für die Bemessung der massgebenden Maximaldauer von 12 Monaten sowohl bei der Halbgefangenschaft (Art. 77b Abs. 1 StGB) als auch bei der elektronischen Überwachung (Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB) auf den unbedingt vollziehbaren Teil der ausgesprochenen teilbedingten Strafe und nicht auf die Gesamtfreiheitsstrafe abzustellen ist.» (E.2.4).

«Vorliegend wurde die Beschwerdeführerin zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von insgesamt 36 Monaten verurteilt, wovon 10 Monate als unbedingt vollziehbar erklärt wurden (vgl. Sachverhalt A). Folglich erfüllt sie die zeitlichen Voraussetzungen für die Gewährung des elektronisch überwachten Vollzugs nach Art. 79b Abs. 1 lit. a StGB. Entsprechend erweist sich die Beschwerde als begründet. Die Vorinstanz wird nach der Rückweisung prüfen müssen, ob die weiteren Voraussetzungen für die Gewährung der besonderen Vollzugsform der elektronischen Überwachung nach Art. 79b Abs. 2 StGB erfüllt sind.» (E.2.5).

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