Haft
Januar 22, 2024 4:34 am

Im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 aus dem Kanton Schaffhausen ging es um eine strafrechtliche Beschwerde betreffend Untersuchungshaft. Das Bundesgericht machte im Urteil zwar vielversprechende theoretische Ausführungen, bestätigte aber die Zulässigkeit der Untersuchungshaft dann doch: «Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Dabei ist nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt. Diese Grenze ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (zum Ganzen: BGE 145 IV 179 E. 3.1).» (E.4.2). «Eine strafprozessuale Haft kann die bundesrechtskonforme Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO). Eine Haftentlassung kommt allerdings nur bei besonders schwer wiegenden bzw. häufigen Versäumnissen in Frage, die erkennen lassen, dass die verantwortlichen Behörden nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung zu tragen. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen.» (E.4.3).

November 8, 2023 2:38 pm

Im Urteil 7B_752/2023 vom 27. Oktober 2023 aus dem Kanton Zug hatte sich das Bundesgericht mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs im Haftverfahren zu befassen. Dem Beschwerdeführer wurde weder die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zugesandt vor dem Entscheid noch wurde er angehört. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst zudem das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Eingaben neue oder wesentliche Vorbringen enthalten (sog. Replikrecht, BGE 146 III 97 E. 3.4.1; 142 III 48 E. 4.1.1; 138 I 484 E. 2.1; je mit Hinweisen). Er gilt auch im Haftprüfungsverfahren (Urteil 1B_574/2020 vom 3. Dezember 2020 E. 4.1 mit Hinweisen).» (E.2.2)

Oktober 16, 2023 4:53 am

Im Urteil 7B_650/2023 vom 6. Oktober 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit dem besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr bei einem Schweizer Bürger. Das Bundesgericht erklärte u.a.: «Der Beschwerdeführer ist Schweizer, hat aber hierzulande keinen festen Wohnsitz. Zwar trifft zu, dass ein gefestigter und gemeldeter Wohnsitz in der Schweiz für sich allein nicht geeignet ist, einen behördlichen Zugriff zu garantieren. Ein solcher kann aber geregelte und gefestigte Lebensverhältnisse indizieren, die ein Untertauchen oder eine Flucht ins Ausland weniger wahrscheinlich erscheinen lassen. Der Beschwerdeführer lebt nicht nur in unsteten Wohn- und Meldeverhältnissen, sondern verfügt, wie die Vorinstanz feststellt, hierzulande auch über keine gefestigten sozialen Bindungen. Demgegenüber unterhält er konkrete Beziehungen nach Spanien. Seine Wohnverhältnisse und sozialen und familiären Beziehungen sprechen, wie die Vorinstanz zu Recht annimmt, für Fluchtgefahr.» (E.2.3.2)  

September 20, 2023 7:20 am

Im Urteil 7B_485/2023 vom 11. September 2023 aus dem Kanton Zürich geht es einerseits um die Prüfung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft in einem Fall des Verdachts von Geldwäscherei (E.2 und E.3). Andererseits und vor allem geht es um die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Vertretung im bundesgerichtlichen Haftbeschwerdeverfahren (E.4). Das Bundesgericht erklärt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sich die notwendige Verteidigung grundsätzlich nicht auf Beschwerdeverfahren erstrecke. In solchen Verfahren fällt - jedenfalls wenn die beschuldigte Person Beschwerde führt - einzig die amtliche Verteidigung nach den allgemeinen Regeln der unentgeltlichen Rechtspflege in Betracht. […] In Haftbeschwerdeverfahren ist es deshalb zulässig, die Erteilung der amtlichen Verteidigung von der Nichtaussichtslosigkeit des Rechtsmittels abhängig zu machen. (E.4.3). Im vorliegenden Fall hatte hätte die Vorinstanz gemäss Bundesgericht das Gesuch um amtliche Verteidigung bzw. unentgeltliche Rechtspflege nicht wegen Aussichtslosigkeit abweisen dürfen. Indem sie dies tat, verletzte sie Bundesrecht. (E.4.4). Hochinteressant ist der Einwand des Anwalts des Beschwerdeführers, dass er keinen Vorschuss aus «Verbrechererlös» entgegennehmen könne. Das Bundesgericht hielt das Thema offenbar für relevant, äusserte sich aber nur wie folgt dazu: «Der Beschwerdeführer machte im kantonalen Verfahren geltend, aus Gründen der anwaltlichen Sorgfaltspflicht sei es seinem Rechtsvertreter derzeit nicht möglich, einen Kostenvorschuss von ihm anzunehmen. Er weist damit sinngemäss auf die möglichen disziplinar- und strafrechtlichen Konsequenzen hin, die seiner Verteidigung drohen, wenn diese damit rechnen muss, dass ihr Honorar aus Verbrechenserlös bezahlt wird (vgl. Art. 305 bis StGB; PIETH/SCHULTZE, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2021, N. 19 zu Art. 305bis StGB; DAMIAN K. GRAF, Annotierter Kommentar StGB, 2020, N. 16 zu Art. 305bis StGB). Die Vorinstanz weist zwar in ihrem Entscheid selbst darauf hin, dass derzeit nicht bekannt sei, welche Vermögenswerte des Beschwerdeführers aus illegaler Herkunft stammen könnten, geht aber mit keinem Wort auf das Argument des Beschwerdeführers ein, wonach es seinem Rechtsvertreter aus ebendiesem Grund nicht möglich sei, einen Kostenvorschuss anzunehmen.» (E.4.5)

September 19, 2023 1:47 pm

Im Urteil 7B_417/2023 vom 4. September 2023 aus dem Kanton Schaffhausen befasste sich das Bundesgericht mit der Frage der Kollusionsgefahr bei Delikten aus dem Zuhälter- und Rotlichtmilieu. Das Bundesgericht nahm hierzu u.a. wie folgt Stellung: «Es gilt weiter zu beachten, dass sich die überwiegende Mehrheit der Verfahrensbeteiligten des vorliegenden Verfahrens im Zuhälter- bzw. Rotlichtmilieu bewegen. Wie die Vorinstanz nachvollziehbar ausführt, begünstigt das damit verbundene Machtgefälle zwischen den noch jungen mutmasslichen Opfer und den Beschuldigten Kollusionshandlungen zusätzlich […]. Das Kollusionsrisiko erscheint damit mit Blick auf die bereits erfolgten Verdunkelungshandlungen des Beschwerdeführers gar erhöht zu sein. Zu beachten ist weiter auch, dass der Tatvorwurf des Menschenhandels und der Förderung der Prostitution bisher primär auf den Aussagen der mutmasslichen Opfer fusst. Es handelt sich somit um einen Indizienprozess und den ungetrübten Aussagen der mutmasslichen Opfer kommt daher ein grosser Stellenwert zu. Mit Blick auf die Schwere der Tatvorwürfe besteht somit ein erhebliches öffentliches Interesse daran, die Zeugen und Auskunftspersonen vor einer Einflussnahme abzuschirmen.» (E.3.5.3).

September 18, 2023 5:12 am

Im Urteil 7B_475/2023 vom 6. September 2023 aus dem Kanton Zürich ging es um die vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug. Das Urteil befasst sich einerseits eingehend mit dem besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr (E.4.1 ff.). Andererseits steht die Verhältnismässigkeit der Sicherheitshaft und die Frage des Anspruchs auf eine Entlassung nach verbüssten zwei Dritteln der Strafe zur Diskussion (E.5.1 ff.). Die Beschwerde wurde durch das Bundesgericht abgewiesen, soweit es darauf eintrat.

September 15, 2023 8:31 am

Im Urteil 7B_221/2023 vom 20. Juli 2023 aus dem Kanton St. Gallen ging um die Haftbedingungen eines Beschuldigten in Untersuchungshaft, u.a. auch um Familienbesuche am Wochenende. Der Entscheid ist sehr lesenswert, dass da das Bundesgericht generell-abstrakt zu den rechtlichen Grundlagen, auch zur EMKR, Stellung nimmt (E.2.1 ff.). Zentral ist die folgende Aussage des Bundesgerichts: «Das Besuchsrecht naher Angehöriger darf nicht durch eine allzu restriktive Festsetzung von Besuchszeiten, die den Angehörigen Besuche faktisch verunmöglichen, vereitelt werden.» (E.2.3 a.E.). Auch wenn die vorliegende Beschwerde abgewiesen wurde, sind die fallbezogenen Ausführungen dennoch sehr interessant und zeigen auch auf, wie solche Fälle vor Bundesgericht gewonnen werden könnten.

August 22, 2023 12:07 pm

Im Urteil 7B_331/2023 vom 7. August 2023 aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit dem besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr bei einem Fall, wo es u.a. um «Stalking» ging. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Wird indessen wie vorliegend ein spezifisches Opfer - trotz des Vorliegens einer Fernhalteverfügung und mehrfachen Wechsels des Wohnorts - über Monate hinweg unter anderem mit dem Tode bedroht und dabei auch physisch angegangen, ist dieses Verhalten durchaus geeignet, die Sicherheitslage dieses Opfers erheblich zu beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass "Stalking" bei der betroffenen Person zu einer chronischen Stresssituation und allenfalls gar psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen (insb. posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen oder generalisierten Angststörungen) führen kann». (E.3.3.2).

August 3, 2023 6:01 am

Im Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 aus dem Kanton Zürich befasst sich das Bundesgericht erneut mit dem Fall Brian. Kern des sehr lesenswerten Urteils ist die Prüfung des besonderen Haftgrundes der Wiederholungsgefahr bei der Sicherheitshaft von Brian. Dabei steht ein Fokalgutachten im Zentrum. Das Bundesgericht erklärt zwar, nach eingehenden Ausführungen, Folgendes: «Zusammenfassend ist die streitige Sicherheitshaft mit Art. 221 Abs. 1 StPO und Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK vereinbar.» (E.10.4.5) Es ist aber eine Bejahung mit anschliessenden unmittelbaren «Bemerkungen», welche als durchaus als Kritik des Bundesgerichts an den Zuständen im Fall Brian gewertet werden können: Erstens: Die zeitlichen Umstände des vorliegenden Falls werfen gewisse Fragen auf. Es ist sachlich nicht nachvollziehbar, weshalb die Staatsanwaltschaft mit der Eröffnung der vorliegenden Strafuntersuchung derart lange zuwartete und die Haft gerade einmal drei Tage vor der geplanten Haftentlassung im vorausgehenden Verfahren 2017/6670 erneuern liess (E.10.5.1). Zweitens: Sollte sich in diesem Verfahren bei umfassender Prüfung herausstellen, dass das Gutachten wegen Befangenheit des Experten an einem formellen Mangel leidet, bedarf die Haft einer erneuten sowie raschen Überprüfung. Der vorinstanzliche Beschwerdeentscheid betreffend den Gutachtensauftrag muss daher zeitnah erfolgen (E.10.5.2). Drittens: Im Hinblick auf allfällige künftige Haftprüfungsverfahren hebt das Bundesgericht hervor, dass die Führungsberichte des Gefängnisses Zürich ein erfreuliches Bild von Brian zeichnen (E.10.5.3).

Juli 13, 2023 2:25 pm

Im Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023 aus dem Kanton Schaffhausen geht es um Untersuchungshaft. Einerseits verneint das Bundesgericht, im Gegensatz zur Vorinstanz, den besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr (E.3). Die Staatsanwaltschaft hatte zudem den besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr angerufen, der aber weder vom Zwangsmassnahmengericht noch von der Vorinstanz geprüft wurde. Der Beschwerdeführer hatte aber diesen Haftgrund substantiiert bestritten. Dazu das Bundesgericht: «Das Bundesgericht hat zuletzt mehrfach darauf hingewiesen, dass die kantonalen Instanzen nach dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO; Art. 31 Abs. 4 BV) sowie aus Gründen der Prozessökonomie grundsätzlich dazu gehalten sind, sämtliche in Frage kommenden Haftgründe zu prüfen. Damit soll verhindert werden, dass die Rechtsmittelinstanz die Haftsache bei (teilweiser) Gutheissung der Beschwerde zur Prüfung weiterer Haftgründe zurückweisen muss.» (E.4.1). Im vorliegenden Fall entschied das Bundesgericht selber gegen das Vorliegen der Fluchtgefahr und ordnete die Freilassung des Beschuldigten an (E.4.3).