Kantonale Instanzen sollten sämtliche in Frage kommenden Haftgründe prüfen

Im Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023 aus dem Kanton Schaffhausen geht es um Untersuchungshaft. Einerseits verneint das Bundesgericht, im Gegensatz zur Vorinstanz, den besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr (E.3). Die Staatsanwaltschaft hatte zudem den besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr angerufen, der aber weder vom Zwangsmassnahmengericht noch von der Vorinstanz geprüft wurde. Der Beschwerdeführer hatte aber diesen Haftgrund substantiiert bestritten. Dazu das Bundesgericht: «Das Bundesgericht hat zuletzt mehrfach darauf hingewiesen, dass die kantonalen Instanzen nach dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO; Art. 31 Abs. 4 BV) sowie aus Gründen der Prozessökonomie grundsätzlich dazu gehalten sind, sämtliche in Frage kommenden Haftgründe zu prüfen. Damit soll verhindert werden, dass die Rechtsmittelinstanz die Haftsache bei (teilweiser) Gutheissung der Beschwerde zur Prüfung weiterer Haftgründe zurückweisen muss.» (E.4.1). Im vorliegenden Fall entschied das Bundesgericht selber gegen das Vorliegen der Fluchtgefahr und ordnete die Freilassung des Beschuldigten an (E.4.3).

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen führt gegen A. eine Strafuntersuchung wegen Verdachts auf Diebstahl und Hausfriedensbruch (vollendeter Einschleichdiebstahl am 4. Mai 2023, zwei versuchte Einschleichdiebstähle am 6. Mai 2023). Darüber hinaus werden ihm diverse weitere Straftaten zur Last gelegt (insb. Diebstahl), wofür er teilweise bereits mit Strafbefehl vom 5. Mai 2023 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt wurde.

Instanzenzug

Der A. wurde am 12. Mai 2023 polizeilich festgenommen und mit Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 15. Mai 2023 in Untersuchungshaft versetzt. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 9. Juni 2023 ab.

Weiterzug an das Bundesgericht

Dagegen erhob A. mit Eingabe vom 16. Juni 2023 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, den angefochtenen Entscheid des Obergerichts (wie auch den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts), mit Ausnahme der Dispositivziffer 3 Absatz 1 zur Entschädigung der amtlichen Verteidigung, aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Eventualiter sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dabei sei festzuhalten, „dass die Vorinstanz und das erstinstanzliche Zwangsmassnahmengericht das Beschleunigungsgebot gemäss Art. 5 Abs. 2 StPO und Art. 31 Abs. 4 BV verletzt haben“. Weiter beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren. Das Bundesgericht hat die Vorinstanz, das Zwangsmassnahmengericht und die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 19. Juni 2023 zur Vernehmlassung eingeladen und hierfür eine Frist bis zum 27. Juni 2023 angesetzt. Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet, und das Zwangsmassnahmengericht hat sich nicht vernehmen lassen. Die Staatsanwaltschaft hat mit Schreiben vom 28. Juni 2023 eine Stellungnahme eingereicht.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023

Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a; sog. Fluchtgefahr) oder Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Abs. 1 lit. b; sog. Kollusionsgefahr). An Stelle der Haft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO). Die Vorinstanz hat sowohl das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts als auch den besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht. Den von der Staatsanwaltschaft ebenfalls vorgebrachten besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr haben weder die Vorinstanz noch das Zwangsmassnahmengericht geprüft. (E.2)

Der Beschwerdeführer bestreitet vor Bundesgericht das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts nicht. Er kritisiert jedoch die vorinstanzliche Annahme von Fluchtgefahr als bundesrechtswidrig. (E.3)

Das Bundesgericht äussert sich zum Haftgrund der Fluchtgefahr im Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023 wie folgt allgemein:

«Die Annahme von Fluchtgefahr als besonderer Haftgrund setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass die beschuldigte Person sich dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion durch Flucht entziehen könnte (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO). Fluchtgefahr darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Es braucht vielmehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die beschuldigte Person, wenn sie in Freiheit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland. Zu berücksichtigen sind die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere der Charakter der beschuldigten Person, ihre moralische Integrität, ihre finanziellen Mittel, ihre Verbindungen zur Schweiz, ihre Beziehungen zum Ausland und die Höhe der ihr drohenden Strafe. Die Schwere der drohenden Strafe darf als Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen (vgl. BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.3; je mit Hinweisen; zum Ganzen siehe Urteil 1B_268/2023 vom 12. Juni 2023 E. 4.1).» (E.3.1)

Die Vorinstanz hat gemäss Bundesgericht bezüglich der Fluchtgefahr zusammengefasst festgehalten, der Beschwerdeführer, ein Asylbewerber aus Äthiopien, dessen Asylgesuch am 28. April 2021 rechtskräftig abgewiesen wurde, sei in der Schweiz weder beruflich integriert noch verfüge er über soziale oder familiäre Bindungen zu in der Schweiz lebenden Personen. Zwar sei er zwischen dem 22. Mai 2021 und dem 22. März 2022 bereits fünfmal zu unbedingten Freiheitsstrafen zwischen einem Monat und vier Monaten verurteilt worden und habe sich diesen Verfahren und dem angeordneten Strafvollzug bisher nicht entzogen. Allerdings sei zu beachten, dass ihm „nun eine empfindlich höhere Freiheitsstrafe“ drohe. So seien „nebst den dem Haftverfahren zugrundeliegenden Verfahren […] die Verfahren gemäss Strafbefehl vom 5. Mai 2023 mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten […] und weitere Verfahren […] hängig.“ Gesamthaft bestehe daher die ernsthafte Gefahr einer drohenden Flucht oder eines Untertauchens in der Schweiz. (E.3.2).

Das Bundesgericht kann dieser Ansicht im Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023 nicht folgen (E.3). Zusammenfassend hält das Bundesgericht fest, dass angesichts des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers, namentlich dem widerstandslosen Antritt zahlreicher unbedingter Freiheitsstrafen, bei einer Gesamtwürdigung der Umstände vorliegend entgegen der Auffassung der Vorinstanz zumindest im jetzigen Verfahrensstadium (vgl. BGE 145 IV 503 E. 2.2; Urteil 1B_357/2022 vom 22. Juli 2022 E. 4.1) nicht von einer ernsthaften Gefahr bzw. Wahrscheinlichkeit der Flucht ausgegangen werden kann. (E.3.4)

Die Staatsanwaltschaft hatte jedoch auch um Anordnung der Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr ersucht. Dieser Haftgrund wurde weder vom Zwangsmassnahmengericht noch von der Vorinstanz geprüft, bemerkt das Bundesgericht (E.4).

Dazu erklärt das Bundesgericht im Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023:

«Das Bundesgericht hat zuletzt mehrfach darauf hingewiesen, dass die kantonalen Instanzen nach dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO; Art. 31 Abs. 4 BV) sowie aus Gründen der Prozessökonomie grundsätzlich dazu gehalten sind, sämtliche in Frage kommenden Haftgründe zu prüfen. Damit soll verhindert werden, dass die Rechtsmittelinstanz die Haftsache bei (teilweiser) Gutheissung der Beschwerde zur Prüfung weiterer Haftgründe zurückweisen muss (siehe Urteile 1B_197/2023 vom 4. Mai 2023 E. 4.5; 1B_24/2022 vom 3. Februar 2022 E. 5; 1B_476/2021 vom 23. September 2021 E. 5.1; 1B_560/2019 vom 5. Dezember 2019 E. 4.1).» (E.4.1)

«Der Beschwerdeführer wendet sich in seiner Beschwerdeschrift nicht bloss gegen die vorinstanzliche Annahme von Fluchtgefahr, sondern bestreitet auch substanziiert die Annahme von Kollusionsgefahr.  Der besondere Haftgrund der Kollusionsgefahr liegt vor, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass der oder die Beschuldigte Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO). Die theoretische Möglichkeit, dass sie kolludieren könnte, genügt indessen nicht, um Untersuchungshaft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen. Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 137 IV 122 E. 4.2; 132 I 21 E. 3.2; ausführlich zum Ganzen: Urteil 1B_357/2022 vom 22. Juli 2022 E. 3.1). Die Staatsanwaltschaft führte in ihrem Antrag auf Anordnung von Untersuchungshaft vom 13. Mai 2023 insbesondere aus, im Falle einer Freilassung bestünde die Gefahr, dass der Beschwerdeführer andernorts deponiertes Deliktsgut zu beseitigen versuche. Sodann könnte er versuchen, Kontakt mit Geschädigten aufzunehmen, um diese zu beeinflussen. Der Beschwerdeführer bringt dagegen zu Recht vor, die bloss abstrakte Möglichkeit, er könnte über Zugriff auf weiteres Deliktsgut verfügen, sei nicht ausreichend, um von Kollusionsgefahr auszugehen (vgl. Urteil 1B_357/2022 vom 22. Juli 2022 E. 3.3.3). Dies gilt umso mehr, als es sich vorliegend um verhältnismässig geringfügige Vermögensdelikte handelt. Auch für eine allfällige Beeinflussung von Geschädigten scheint es sodann keine konkreten Anzeichen zu geben, zumal die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt (für zumindest einen Teil der Delikte) als ausreichend erstellt erachtet hat, um einen Strafbefehl zu erlassen (vgl. Art. 352 Abs. 1 Satz. 1 StPO), und der Beschwerdeführer gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen für die beiden Einbruchsdiebstähle vom 4. und 6. Mai 2023 (die nicht vom Strafbefehl erfasst sind) zumindest teilweise geständig ist.» (E.4.2)

«Angesichts des Umstands, dass sowohl die Vorinstanz als auch das Zwangsmassnahmengericht auf eine Prüfung des besonderen Haftgrunds der Kollusionsgefahr verzichtet haben und letzterer zumindest bei summarischer Prüfung als nicht gegeben erscheint, ist vorliegend auf eine Rückweisung der Haftsache zu verzichten und stattdessen die unverzügliche Freilassung des Beschwerdeführers anzuordnen (vgl. Urteil 1B_243/2023 vom 26. Mai 2023 E. 3.3)» (E.4.3)

Bemerkungen zum Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023

Das lobenswerte Urteil 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023 hat für die Strafverteidigung eine klare Botschaft: Im kantonalen Haftverfahren sollte zu allen (möglichen) Haftgründen substantiiert Stellung genommen werden, auch wen einzelne nicht behandelt oder offengelassen werden.

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