Sachverhalt dieses Verfahrensteils im Fall Brian
Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte A. (auch öffentlich als Brian (früher «Carlos») bekannt), geboren 1995, mit Urteil vom 6. November 2019 wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfacher Drohung, mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie mehrfacher Beschimpfung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 6. März 2017, und einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu Fr. 10.–. Es ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe zugunsten der Massnahme auf. Hintergrund dieser Verurteilung waren verschiedene Vorkommnisse, die sich im Rahmen des Freiheitsentzugs aufgrund eines früheren Strafurteils ereignet hatten, darunter namentlich ein Vorfall vom 28. Juni 2017, bei dem A. einen Gefängnismitarbeiter angegriffen haben soll (Verfahren 2017/6670).
Im Berufungsverfahren verzichtete das Obergericht des Kantons Zürich am 26. Mai 2021 auf die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme, erhöhte die Freiheitsstrafe jedoch auf 6 Jahre und 4 Monate.
Mit Urteil 6B_882/2021, 6B_965/2021 vom 12. November 2021 hiess das Bundesgericht eine Beschwerde von A. gegen den Berufungsentscheid gut, hob diesen auf und wies die Sache zu neuer Beurteilung an das Obergericht zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, das Obergericht habe sich mit den zu den Tatzeitpunkten herrschenden Vollzugsbedingungen von A. und seinem Argument, die ihm vorgeworfenen Taten in einer Notstandslage begangen zu haben, ungenügend auseinandergesetzt. Damit habe es den massgeblichen Sachverhalt unvollständig festgestellt und den Gehörsanspruch von A. verletzt.
Am 20. Januar 2022 wurde A. von der Justizvollzugsanstalt (JVA) Pöschwies ins Gefängnis Zürich verlegt, wo er einem deutlich gelockerten Haftregime unterworfen ist (zu den vorherigen Haftbedingungen siehe insbesondere Urteil 1B_574/2021 vom 3. Dezember 2021 E. 5). Nachdem die Sicherheitshaft wegen Wiederholungsgefahr im Verfahren 2017/6670 einmal verlängert worden war, ordnete das Obergericht am 31. Oktober 2022 per 7. November 2022 die Haftentlassung von A. an.
In der Zwischenzeit hatte die Staatsanwaltschaft gegen A. eine neue Strafuntersuchung eingeleitet (Verfahren 2019/5468). Darin legt sie ihm für den Zeitraum vom 22. November 2018 bis 28. Juni 2022 33 weitere Straftaten zur Last, die er mehrheitlich in der JVA Pöschwies begangen haben soll, darunter versuchte schwere Körperverletzung, mehrfache (teils versuchte) einfache Körperverletzung, mehrfache Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, mehrfache Drohung sowie mehrfache Sachbeschädigung, je zum Nachteil des Vollzugspersonals bzw. der JVA. Die Staatsanwaltschaft liess A. in diesem Verfahren am 4. November 2022 erneut formell verhaften. Am 8. November 2022 erfolgte die Anordnung der Untersuchungshaft durch das Zwangsmassnahmengericht (ZMG) des Bezirks Zürich. Eine hiergegen von A. anhängig gemachte Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil 1B_22/2023 vom 13. Februar 2023 ab, soweit es darauf eintrat.
Am 4. April 2023 erhob die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht Dielsdorf im Verfahren 2019/5468 Anklage gegen A. wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfacher Drohung sowie mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte. Gleichzeitig beantragte sie beim ZMG des Bezirks Dielsdorf die Anordnung von Sicherheitshaft. Mit Verfügung vom 19. April 2023 wurde A. in Sicherheitshaft versetzt.
In der Folge wandte sich A. mit Beschwerde ans Obergericht des Kanton Zürich, das diese mit Beschluss vom 30. Mai 2023 kostenfällig abwies.
Weiterzug an das Bundesgericht
Der A. (Brian) erhebt Beschwerde in Strafsachen vor Bundesgericht mit dem Hauptantrag, der obergerichtliche Beschluss sei aufzuheben und er sei umgehend aus der Haft zu entlassen. Die Vorinstanz sei anzuweisen, die Kosten auf die Gerichtskasse zu nehmen und ihm eine Parteientschädigung zuzusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur weiteren Behandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter stellt A. den formellen Antrag, es sei davon Vormerk zu nehmen, dass die Bundesrichter Dr. iur. Lorenz Kneubühler, Dr. iur. Christian Kölz und lic. iur. Stephan Haag sowie der Gerichtsschreiber Prof. Dr. iur. Marc Forster durch das Urteil 1B_22/2023 vom 13. Februar 2023, E. 2.6 und 2.8, nicht mehr unparteilich und von Ausstandsgründen betroffen seien. Schliesslich ersucht er für das bundesgerichtliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege unter Beiordnung von Rechtsanwalt Stolkin als unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Die Vorinstanz verzichtet auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen.
Die vorinstanzlichen Akten wurden antragsgemäss beigezogen.
Im Rahmen des kantonalen Haftverfahrens hat die Staatsanwaltschaft ein neues forensisch-psychiatrisches Gutachten über A. in Auftrag gegeben. Eine von ihm gegen den Gutachtensauftrag erhobene Beschwerde ist vor dem Obergericht des Kantons Zürich hängig.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023
Wir betrachten im «Epos Brian» hier nur die Ausführgen zum besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr:
Der Beschwerdeführer bestreitet im vorliegenden Verfahren vor Bundesgericht erneut den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr und dabei insbesondere das Vortatenerfordernis. Gemäss Bundesgericht ging die Vorinstanz zu Recht von zwei rechtsgenüglichen Vortaten aus (E.8).
Die Sicherheitsrelevanz der von den kantonalen Strafbehörden befürchteten neuen Delikte (zweite Voraussetzung für die Annahme von Wiederholungsgefahr) stellt der Beschwerdeführer vor Bundesgericht nicht spezifisch in Frage, weshalb sich weitere Ausführungen dazu gemäss Bundesgericht erübrigen (E.9).
Das Bundesgericht fährt im Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 wie folgt fort mit Fokus auf das Fokalgutachten:
«Der Beschwerdeführer kritisiert die vorinstanzliche Rückfallprognose und erkennt darin eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK. Dabei macht er geltend, die Vorinstanz gehe (einzig) gestützt auf das Gutachten von Dr. med. C. von einer allgemeinen, lediglich in der Diagnose liegenden Wiederholungsgefahr aus, ohne einen Kausalzusammenhang zu den angeblichen, hinter Gefängnismauern verübten 33 Delikten herzustellen, wie ihn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlange. Die Vorinstanz übersehe, dass der Gutachter bei seiner Diagnosestellung lediglich von einer Hypothese spreche, die zu validieren er insbesondere mangels Exploration nicht imstande sei und aus der auch nicht direkt auf das Verhalten geschlossen werden könne. Es handle sich zudem um eine Diagnose aus dem Jahr 2019, die der Gutachter im Fokalgutachten nicht mehr hinterfrage. Insbesondere befasse er sich nicht mit den Wechselwirkungen zwischen den Haftbedingungen bzw. der Isolationshaft, wie sie namentlich in Berichten von UNO-Gremien sowie der Nationalen Kommission zur Verhütung der Folter (NKVF) und auch in seinen Tagebucheinträgen dokumentiert seien, und den ihm zur Last gelegten Auseinandersetzungen. Die Legalprognose stütze sich letztlich auf ein veraltetes Gutachten, das von einem vorbefassten, einseitigen sowie institutionell und finanziell von der Staatsanwaltschaft abhängigen Gutachter, der sich schon längst eine Meinung über ihn gebildet habe, erstellt worden sei. Ausserdem habe sich der Gutachter an die Weisungen des Obergerichts zu halten, wonach von einer Schuldvermutung auszugehen sei, wenn sich der Explorand weigere, bei der Begutachtung mitzuwirken. Damit seien das Prinzip der Waffengleichheit als Ausfluss von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Verfahrensfairness), die Unschuldsvermutung, die Organisationsgarantie, die Vorschriften von Art. 183 i.V.m. Art. 56 StPO und das Willkürverbot verletzt. Dies gelte umso mehr, als die Staatsanwaltschaft genügend Zeit gehabt hätte, rechtzeitig ein beweistaugliches Gutachten in Auftrag zu geben. Offenbar wolle die Staatsanwaltschaft seine Haftentlassung unter allen Titeln verhindern. Mit Blick auf das Fairnessgebot und die Waffengleichheit sei den eingereichten Parteigutachten und Berichten von nationalen und internationalen Experten zumindest das gleiche Gewicht beizumessen wie dem Sachverständigenbericht von Dr. med. C.. Ferner weise das Fokalgutachten auch inhaltliche Mängel auf. So spreche der Gutachter von einem Risikokonsum psychotroper Substanzen (insbesondere Cannabis), obwohl seit Jahren keine entsprechende Blutprobe vorgelegen habe und andere Vorgutachter keine solche Disposition erblickt hätten. Im Weiteren liessen die Vorinstanz und der Gutachter den Umstand unberücksichtigt, dass er sich im Gefängnis Zürich bewähre. Die angeblich begangenen Delikte in der JVA Pöschwies seien dagegen als Widerstand gegen die menschenrechtswidrigen Haftbedingungen, mithin als Notstandshandlungen aufzufassen. Indem auch im Fokalgutachten und in der Folge im angefochtenen Beschluss die Auswirkungen der menschenrechtswidrigen Isolationshaft sowie das beidseitige Klima der Gewalt, namentlich die seitens der Wärter erfolgten Übergriffe, unberücksichtigt blieben, fehle bei der Legalprognose ein massgebender Gesichtswinkel. Schliesslich sei ein allfälliges künftiges Risiko nach Ort und Zeit zu konkretisieren. Diesem Erfordernis werde die Vorinstanz nicht gerecht; sie berufe sich einzig auf nicht näher definierte „negative Interaktionen“ und eine generelle Charakterstudie von ihm, dem Beschwerdeführer bzw. eine „amorphe allgemeine Gefährlichkeit“.» (E.10.1)
«Die Vorinstanz erwägt, gemäss Fokalgutachten gebe es Hinweise für eine depressive Entwicklung bzw. polymorphe Haftreaktion während und mit fortschreitender Isolationshaft, diese Hinweise seien jedoch ohne die Einlassung des Beschwerdeführers weder klar diagnostisch noch zeitlich zu fassen. Zudem werde festgehalten, dass die inzwischen ca. einjährigen Beobachtungen in einem reglementierten und geschützten Rahmen, der laut Angaben des Gefängnisses Zürich mit einem engmaschigen und wohlwollenden Bezugsbetreuungssystem auf den Beschwerdeführer eingehe, eine noch erhaltene Anpassungsfähigkeit des Beschwerdeführers aufzeigen würden und die dissoziale Persönlichkeitsstörung bei komplementärer Beziehungsgestaltung durchaus stabilisiert werden könne. Eine grundlegende Änderung sei im vergangenen Zeitraum nicht zu erwarten. Ob eine Milderung der beschriebenen Symptomatik bzw. des Ausprägungsgrades der dissozialen Persönlichkeitsstörung dauerhaft ohne wohlwollenden Rahmen vorliege, könne ohne Exploration nicht abgeschätzt werden. Die bisherigen Berichte liessen diese Möglichkeit zwar hypothetisch zu. In der Gesamtwürdigung scheine die zugrundeliegende, dissoziale Persönlichkeitsstruktur jedoch weiterhin zu bestehen – dafür seien die früheren lebenspraktischen Auswirkungen zu gravierend, die psychopathischen Wesenszüge zu ausgeprägt, die Symptomatik von zu grosser zeitlicher Dauer und eine eigentliche therapeutische Intervention nicht aus den Unterlagen ableitbar. Im Fazit sei weiterhin eine dissoziale Persönlichkeitsstruktur mit psychopathischen Wesenszügen zu diagnostizieren. Damit, so die Vorinstanz, seien sowohl die Reaktion des Beschwerdeführers auf die Isolationshaft als auch sein Wohlverhalten im Gefängnis Zürich in die Diagnosestellung einbezogen worden. Weshalb aus inhaltlichen Gründen nicht auf das Fokalgutachten abgestellt werden sollte, erschliesse sich mithin nicht. Auch die auf das Gutachten der Universität Heidelberg bezugnehmenden Argumente des Beschwerdeführers vermöchten an der Bejahung der Wiederholungsgefahr nichts zu ändern. Insbesondere sei keine Verletzung der Unschuldsvermutung erkennbar. Bezüglich Legalprognose sind die erstinstanzlichen Erwägungen in die vorinstanzliche Begründung miteinzubeziehen. Demnach komme der Gutachter zur Einschätzung, dass aus dem Wohlverhalten in Haft keine belastbaren Schlüsse für die Risikobeurteilung nach einer allfälligen Freilassung gezogen werden könnten. Sinngemäss werde dazu ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im Gefängnis Zürich derzeit auf ein engmaschiges und wohlwollendes Bezugsbetreuungssystem treffe, dem seine Persönlichkeitsstruktur bekannt sei und das entsprechend auf ihn eingehe und reagiere. Überdies sorge der strukturierte Rahmen dafür, dass er nicht mit zu vielen sozial negativen Interaktionen unkontrolliert konfrontiert werde. Diese Bedingungen seien extramural nicht gegeben und es sei ungewiss, wie der Beschwerdeführer in Freiheit auf negative und nicht-komplementäre Begegnungen reagieren würde. Mittel- und langfristig sei bei einer Entlassung in einen ungünstigen sozialen Empfangsraum eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit für Gewaltdelikte, Drohungen und Beleidigungen anzunehmen. Mittelfristig spreche mehr dafür als dagegen, dass solche Delikte gegen Dritte auch ausserhalb des nahen sozialen Empfangsraums erfolgen würden. Ausserdem müsse mit einem erhöhten Rezidivrisiko für Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz und allgemeiner Delinquenz gerechnet werden.» (E.10.2)
«Die Rückfallprognose (dritte Voraussetzung für die Annahme von Wiederholungsgefahr) muss ungünstig sein. Massgebende Kriterien hiefür sind nach der Praxis insbesondere die Häufigkeit und Intensität der fraglichen Delikte. Weiter sind allfällige Aggravationstendenzen, wie eine zunehmende Eskalation respektive Gewaltintensität oder eine raschere Kadenz der Taten zu berücksichtigen, ebenso die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person, ihr psychischer Zustand, ihre Unberechenbarkeit oder Aggressivität. Liegt bereits ein psychiatrisches Gutachten vor, ist dieses in die Beurteilung miteinzubeziehen. Je schwerer die drohenden Taten sind und je höher die Gefährdung der Sicherheit anderer ist, desto geringere Anforderungen sind an die Rückfallgefahr zu stellen (BGE 143 IV 9 E. 2.8 f.; Urteil 1B_293/2023 vom 19. Juni 2023 E. 3.1; je mit Hinweisen). Eine negative, d.h. eine ungünstige Rückfallprognose zur Annahme von Wiederholungsgefahr ist notwendig, grundsätzlich aber auch ausreichend (BGE 143 IV 9 E. 2.10; Urteil 1B_189/2023 vom 28. April 2023 E. 4.1; je mit Hinweisen). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus (BGE 143 IV 9 E. 2.2 mit Hinweisen).» (E.10.3.1)
«Im Haftprüfungsverfahren ist, anders als beim Urteil in der Sache, keine umfassende Würdigung eines psychiatrischen Gutachtens vorzunehmen. Die Überprüfung durch das Haftgericht ist lediglich summarischer Natur. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei der Beurteilung der Rückfallgefahr immer um Wahrscheinlichkeitsangaben handelt und Gefährlichkeitsprognosen naturgemäss unsicher und schwierig sind. Die Würdigung von Gutachten bildet ausserdem Teil der Beweiswürdigung und gehört somit zur Sachverhaltsfeststellung, die nur gerügt werden kann, wenn sie offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 141 IV 305 E. 6.6.1; zum Ganzen: Urteile 1B_180/2023 vom 25. April 2023 E. 3.3.1; 1B_555/2022 vom 25. November 2022 E. 6.3; je mit Hinweisen).» (E.10.3.2)
«Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die Sachverhaltsfeststellung eindeutig und augenfällig unzutreffend ist und der angefochtene Entscheid auf einer schlechterdings unhaltbaren oder widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dass eine andere Lösung ebenfalls möglich erscheint, genügt für die Annahme von Willkür dagegen nicht (vgl. BGE 148 IV 39 E. 2.3.5; 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E.1.3.1; je mit Hinweisen).» (E.10.3.3)
Das Bundesgericht schreitet im Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 dann zum Kernpunkt der Haftprüfung:
«Eigentliches Kernstück der vorliegenden Haftprüfung bildet die Frage, ob die Vorinstanz gestützt auf das Fokalgutachten willkürfrei annehmen durfte, dem Beschwerdeführer sei im Falle einer Haftentlassung eine negative Rückfallprognose zu stellen. Als Anknüpfungspunkt hierfür dient dem Gutachter und den Vorinstanzen die Diagnose und dabei in erster Linie die dissoziale Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägten psychopathischen Wesenszügen, wobei der Gutachter diesen Kriterienbereich im Hinblick auf die Prognose als „sehr ungünstig“ wertet. Inwiefern diese Vorgehensweise – die Prognose an die Diagnose anzubinden – nicht lege artis sein soll, ist nicht ersichtlich. Ausserdem liegt es in der Natur von Prognosen, dass sie mit Annahmen und Hypothesen arbeiten, was sie jedoch nicht a priori unbrauchbar macht. Insoweit erweist sich die Beschwerde als unbegründet. Darüber hinaus ist die Kritik des Beschwerdeführers am Fokalgutachten nicht gänzlich unberechtigt. Es fällt auf, dass der Gutachter verschiedentlich darauf hinweist, mangels Exploration keine abschliessende bzw. belastbare Einschätzung vornehmen zu können. So erkennt er etwa Hinweise für eine depressive Entwicklung mit fortschreitender Isolationshaft, vermag diese jedoch nicht klar zu erfassen, ebenso wenig, wie er beurteilen kann, ob bei den Anlasstaten eine Reaktivierung von traumatischen Inhalten als Folge dieser Haft stattgefunden hat (Fokalgutachten S. 27 und 35). Allgemein führt er unter dem Titel „Aktenauszug“ zwar verschiedene Berichte bzw. Parteigutachten zusammenfassend auf, die sich mit der Isolationshaft des Beschwerdeführers befasst haben (Sachverständigengutachten im Fall A. in Übersetzung des International Rehabilitation Council for Torture Vicitims vom 25. Mai 2021, medizinisch-rechtlicher Bericht zum Istanbul-Protokoll vom 28. April 2021, gutachterliche Stellungnahme von Dr. med. E. vom 24. Mai 2021 und allgemeinärztliches Gutachten von Dr. D. vom 3. Dezember 2021), zieht diese in seine eigentliche Beurteilung aber nicht mit ein. Damit findet ein nicht unwesentlicher Aspekt, nämlich die Haftbedingungen in der JVA Pöschwies, kaum Eingang in die Prognosestellung. Im Weiteren anerkennt der Gutachter, dass sich die Situation seit dem Übertritt ins Gefängnis Zürich stabilisiert hat, will sich aber – mangels Möglichkeit zur Exploration – nicht dazu äussern, ob diese positiven Veränderungen über eine reine Anpassungsleistung hinausgehen (Fokalgutachten S. 31 und 33). Vor allem aber stellt der Gutachter dem Beschwerdeführer (sollte er nicht störungsspezifisch betreut und nicht in einen adäquaten Empfangsraum entlassen werden) eine ungünstige Prognose, wobei er einräumt, diese Angaben seien nicht von hoher Belastbarkeit. Dies begründet er wiederum mit dem fehlenden direkten Zugang zum Beschwerdeführer sowie den weitgehend unklaren situativen Rahmenbedingungen im Falle einer Entlassung (Fokalgutachten S. 36 f.). Die Risikoeinschätzung des Sachverständigen für den Fall einer Haftentlassung ist somit wenig belastbar und dementsprechend nur von bedingter Aussagekraft. Dementsprechend wäre eine anderweitige Würdigung des Fokalgutachtens und als Folge davon eine anderslautende Beurteilung der Wiederholungsgefahr durch die Vorinstanz durchaus denkbar gewesen. Geradezu unhaltbar ist es jedoch nicht, wenn die Vorinstanzen gestützt auf das Gutachten von einer ungünstigen Prognose ausgehen. Denn das Fazit des Gutachters ist insoweit klar, als eine grundlegende Änderung des 2019 erstellten Risikoprofils nicht anzunehmen sei. Die Gesamtbeurteilung hinsichtlich Gewaltdelikten gegenüber Dritten im Falle einer sofort erfolgenden Entlassung falle insbesondere mittelfristig sehr ungünstig aus und es müsse von einem weiterhin hoch belasteten strukturellen Risikoprofil ausgegangen werden (Fokalgutachten S. 31 und 37). Nebst der festgestellten psychischen Störung berücksichtigt der Gutachter dabei namentlich auch die soziale Kompetenz, die bisherige Kriminalitätsentwicklung, die Therapiebereitschaft sowie das stereotype Konfliktverhalten und er hält fest, dass der Beschwerdeführer in den letzten Jahren nicht hinreichend protektive Faktoren habe aufbauen können. Er führt sodann vier seit dem Eintritt ins Bezirksgefängnis Zürich erlassene Disziplinarstrafen ins Feld, welche sich seiner Ansicht nach ungünstig auf die Rückfallwahrscheinlichkeit auswirken würden. Vor diesem Hintergrund ist die vorinstanzliche Beurteilung der Rückfallprognose vertretbar. Dabei brauchte die Vorinstanz die befürchtete erneute Tatbegehung entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers örtlich und zeitlich nicht weiter einzugrenzen. Zum einen ist eine derartige Konkretisierung bei Legalprognosen generell schwierig, zum andern scheint das Rückfallrisiko im Fall des Beschwerdeführers nach gutachterlicher Einschätzung gerade auch in seiner Unberechenbarkeit begründet zu sein.» (E.10.4.4)
«Unbehelflich sind ferner die Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die vom Gutachter angenommene Disposition zu einem Risikokonsum psychotroper Substanzen (insbesondere Cannabis), da diese bei der Risikoeinschätzung hinsichtlich allfälliger Gewaltdelikte, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielt. Offensichtlich fehlerbehaftet erscheint das Gutachten durch die entsprechenden Ausführungen im Übrigen nicht, zumal – wie auch die Vorinstanz zutreffend festhält – nur von einer Disposition gesprochen wird und der Gutachter anerkennt, dass keine Hinweise auf einen zwischenzeitlichen Konsum illegaler psychotroper Substanzen vorliegen.» (E.10.4.5)
«Nach dem Gesagten hält die vorinstanzliche Annahme von Wiederholungsgefahr der bundesgerichtlichen Überprüfung stand. Abschliessend sind jedoch folgende Bemerkungen angezeigt:» (E.10.5)
«Wie vom Beschwerdeführer zutreffend vorgebracht, werfen die zeitlichen Umstände des vorliegenden Falls gewisse Fragen auf. So ist, zumindest bei erster, summarischer Betrachtung, sachlich nicht nachvollziehbar, weshalb die Staatsanwaltschaft mit der Eröffnung der vorliegenden Strafuntersuchung derart lange zuwartete und die Haft gerade einmal drei Tage vor der geplanten Haftentlassung im vorausgehenden Verfahren 2017/6670 erneuern liess. Willkür oder eine Rechtsverletzung in den vorinstanzlichen Erwägungen zur Wiederholungsgefahr lässt sich daraus freilich nicht ableiten. Die zürcherischen Strafbehörden sind jedoch gehalten, die aktuelle Strafuntersuchung (2019/5468) nunmehr zügig voranzutreiben.» (E.10.5.1)
«Der Beschwerdeführer hat den Auftrag für die Erstellung des Fokalgutachtens mit Beschwerde angefochten. Sollte sich in diesem Verfahren bei entsprechend umfassender Prüfung herausstellen, dass das Gutachten wegen Befangenheit des Experten an einem formellen Mangel leidet, bedarf die Haft einer erneuten und raschen Überprüfung. Der vorinstanzliche Beschwerdeentscheid betreffend den Gutachtensauftrag muss daher zeitnah erfolgen.» (E.10.5.2)
«Im Hinblick auf allfällige künftige Haftprüfungsverfahren ist schliesslich nochmals hervorzuheben, dass die Führungsberichte des Gefängnisses Zürich ein erfreuliches Bild des Beschwerdeführers zeichnen.» (E.10.5.3)
«Zusammenfassend ist die streitige Sicherheitshaft mit Art. 221 Abs. 1 StPO und Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK vereinbar. Dass die Haft – namentlich im Hinblick auf allfällige Ersatzmassnahmen (Art. 239 StPO) oder das Vorliegen von Überhaft (Art. 212 Abs. 3 StPO) – zum jetzigen Zeitpunkt unverhältnismässig wäre, bringt der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde nicht vor und ist nicht ersichtlich.» (E.10.5.4).
Bemerkungen zum Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 des Bundesgerichts
Beim Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 sind verschiedene Aspekte bemerkenswert. Erstens ist das Urteil ein wichtiges Leiturteil sowohl zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr (bei Untersuchungshaft oder Sicherheitshaft) und dem genauen Schema der Haftprüfung. Zweites setzt sich das Bundesgericht in diesem Urteil mit einer seltenen Tiefe mit dem vorliegenden Fokalgutachten bzw. Kurzgutachten auseinander. Und drittens bejaht zwar das Bundesgericht die fehlende Bundesrechtswidrigkeit der Sicherheitshaft, es folgen aber anschliessend gleich drei Bemerkungen. Diese Bemerkungen sind aus meiner Sicht nur als (grosse) Fragezeichen des Bundesgerichts am eigenen Urteil zu werten. Und wohl auch als Aufforderung an die Zürcher Justiz, im Fall Brian voranzumachen bzw. etwas zu ändern.