Im wegweisenden Urteil 2C_523/2021 vom 25. April 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit der Frage ob der verzögerte Beginn der stationären therapeutischen Massnahme bzw. der Verbleib in Organisationshaft des Beschwerdeführers Staatshaftungsansprüche begründet. Nach Ansicht des Bundesgerichts verstiess die rund 17-monatige Wartezeit bzw. Organisationshaft des Beschwerdeführers gegen die Vorgaben von Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK, und die Unterbringung im Gefängnis ist als rechtswidrig anzusehen (E.8.4). «Die festgestellte Rechtswidrigkeit der Unterbringung begründet nach Art. 5 Ziff. 5 EMRK grundsätzlich einen Entschädigungsanspruch» (E.9).
Anpassung der Genugtuung für erlittene Haft gegen unten
Im wichtigen Urteil 6B_1160/2022 vom 1. Mai 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) macht das Bundesgericht umfassende Ausführungen zur Berechnung der Genugtuung für die erlittene Haft, auch unter Verweis auf die bisherige eigene Praxis (E.2.1). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind die Unterhaltskosten am Wohnsitz der berechtigten Person bei der Festsetzung der Entschädigung für immaterielle Schäden grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Die Entschädigung muss somit unabhängig davon festgelegt werden, wo der Berechtigte lebt und was er mit dem erhaltenen Geld machen wird. Sofern jedoch der im Ausland wohnhafte Begünstigte aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse an seinem Wohnort übermässig begünstigt würde, ist die Entschädigung nach unten anzupassen. Die Höhe der Genugtuung muss unter Berücksichtigung der besonderen Umstände und unter Abwägung aller Interessen gerechtfertigt sein und darf daher nicht unbillig erscheinen (E.2.1.5). Die Festsetzung der Entschädigung für immaterielle Schäden ist eine Frage der Anwendung des Bundesrechts und wird daher vom Bundesgericht nach freiem Ermessen geprüft. Da es sich hierbei zu einem grossen Teil um eine Frage der Würdigung der Umstände handelt, greift das Gericht zurückhaltend ein (E.2.1.7).
Im sehr lesenswerten Urteil 1B_268/2023 vom 12. Juni 2023 aus dem Kanton Zürich ging es um die notwendige Zeit zur Stellungnahme der Verteidigung in Haftfällen vor dem Zwangsmassnahmengericht sowie um die Frage der Pflicht zur Führung von digitalen Haftakten. Das Bundesgericht u.a. wie folgt Stellung: «[Es] besteht – auch im Haftverfahren – grundsätzlich kein Anspruch auf eine digitale Aktenführung durch die Strafbehörden bzw. auf elektronische Übermittlung der Verfahrensakten. Der Beschwerdeführer bringt indessen zu Recht vor, die ohnehin bereits knapp bemessene Frist zur Stellungnahme von nicht einmal sieben Stunden sei durch die Vorgabe, die hierfür notwendige Akteneinsicht am Ort des Gerichts vorzunehmen, faktisch weiter verkürzt und sein entsprechendes Recht daher im Ergebnis erschwert worden.» (E.3.4.2). Das Bundesgericht vermied es aber «abschliessend Stellung zu nehmen», da der Verteidiger aus dem Kanton Aargau kein Fristerstreckungsgesuch gestellt hatte, welches vom Bundesgericht hypothetisch als aussichtsreich beurteilt wurde (E.3.4.3). Mit dem Projekt Justitia 4.0 dürfte sich dieses Thema aber in diesem Jahrzehnt wohl erledigen.
Staatsanwaltschaft vergisst Antrag auf Sicherheitshaft
Im Urteil 1B_250/2023 vom 8. Juni 2023 aus dem Kanton Zürich hatte sich das Bundesgericht mit der Situation zu befassen, dass die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich in einer Strafuntersuchung vergessen hatte, bei der Anklage den Antrag auf Sicherheitshaft zu stellen. Das Bundesgericht äusserte sich dazu wie folgt: «Der Argumentation des Beschwerdeführers kann nicht gefolgt werden. Ihm ist zwar zuzustimmen, dass die Verfahrensleitung mit Anklageerhebung auf das Bezirksgericht Zürich übergegangen und damit zumindest fraglich ist, ob die Staatsanwaltschaft nach dem 1. März 2023 noch dazu befugt war, beim Zwangsmassnahmengericht Sicherheitshaft zu beantragen, um ihr Versäumnis nachzuholen. Nach der verbindlichen Feststellung des Sachverhalts der Vorinstanz (vgl. E. 2 hiervor) beantragte die Staatsanwaltschaft die Anordnung der Sicherheitshaft jedoch "auf Bitte des Sachgerichts hin" bzw. "im Einvernehmen mit" diesem. Der Antrag auf Anordnung von Sicherheitshaft wurde demnach sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch vom Bezirksgericht unterstützt. Damit kann offenbleiben, welche der beiden Behörden am 6. März 2023 für die Stellung des Antrages zuständig war bzw. ob für die Festlegung der Zuständigkeit hierfür an die vorbestehende Untersuchungshaft oder an die Verfahrensleitung anzuknüpfen ist; bei dieser besonderen Sachlage erscheint es jedenfalls vertretbar, dass die Vorinstanz den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, auf den Antrag einzutreten, geschützt hat.» (E.3.4)
Bei der lebenslangen Freiheitsstrafe stellen sich keine Anwendungs- oder Sicherheitsprobleme. Sie soll aber besser von der 20-jährigen Freiheitsstrafe und der Verwahrung abgegrenzt werden. Der Bundesrat schlägt deshalb vor, die bedingte Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe neu erstmals nach 17 Jahren zu prüfen. Beim Zusammentreffen von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung soll zudem der Vollzug klar geregelt werden. Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 2. Juni 2023 die Vernehmlassung zu einer entsprechenden Änderung des Strafgesetzbuches (StGB) eröffnet.
Ausweis- und Schriftensperre als Ersatzmassnahme
Im Urteil 1B_5/2023 vom 23. März 2023 aus dem Kanton Basel-Stadt äusserte sich das Bundesgericht ausführlich zur Ausweis- und Schriftensperre. Es nahm u.a. wie folgt Stellung: «Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss eine Ausweis- und Schriftensperre anstelle von Sicherheitshaft von der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts nicht periodisch überprüft werden, sondern kann sie grundsätzlich unbefristet bzw. bis zum rechtskräftigen Abschluss des Berufungsverfahrens angeordnet werden ([…]). Insoweit ist der Grundrechtsschutz durch das Recht der beschuldigten Person, bei der Verfahrensleitung jederzeit die Aufhebung der Ersatzmassnahme zu beantragen, hinreichend garantiert […]» (E.2.6.2)
Restriktive Anwendung des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr
Im Urteil des Bundesgerichts 1B_195/2023 vom 27. April 2023 aus dem Kanton Zürich hatte das Bundesgericht die Frage des Vorliegens des restriktiv handzuhabenden Haftgrunds der Wiederholungsgefahr zu beurteilen, wobei auch bereits ein Gutachten vorlag. Im Gegensatz zur Vorinstanz, verneinte das Bundesgericht den Haftgrund wie folgt: «Insgesamt ist dem Gutachten zu entnehmen, dass die Gefahr besteht, dass der Beschwerdeführer bei einer Haftentlassung wiederum exzessiv von Suchtmitteln Gebrauch macht und unter Einfluss der Suchtmittel allenfalls Gewalt anwenden könnte. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass diese Risiken und somit die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung "untragbar hoch" sind für die Allgemeinheit. Vielmehr ist vor dem Hintergrund, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr restriktiv angewendet werden und dessen Anwendung auf Ersttäter gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung auf Ausnahmefälle besonders gefährlicher Gewalttäter beschränkt bleiben muss, festzuhalten, dass mit der Haftentlassung Risiken für die Allgemeinheit einhergehen, diese jedoch nicht untragbar hoch sind.» (E.4.3).
Verletzung des Beschleunigungsgebots im Haftverfahren
Im Urteil 1B_174/2023 vom 21. April 2023 aus dem Kanton Zürich ging es um die Überschreitung der 96-Stunden-Frist gemäss Art. 224 Abs. 2 und Art. 226 Abs. 1 StPO, innert welcher das Zwangsmassnahmengericht über den Haftantrag der Staatsanwaltschaft zu entscheiden hat, um 70 Minuten. Das Bundesgericht sah darin eine Verletzung des Beschleunigungsgebots und urteilte: «Die Verletzung des Beschleunigungsgebots ist im Urteilsdispositiv festzustellen und bei den Kosten- und Entschädigungsfolgen zu berücksichtigen. Im Übrigen wird das Sachgericht der Rechtsverletzung bei seiner Urteilsfindung in angemessener Weise Rechnung zu tragen haben.» (E.2.4.3)
Kein Haftgrund der Wiederholungsgefahr bei Drohungen
Im Urteil 1B_95/2023 vom 8. März 2023 befasste sich das Bundesgericht mit einem Haftfall aus dem Kanton Zürich, wo es um den Vorwurf der Drohung ging. Das Bundesgericht korrigierte hier zunächst die falsche Feststellung des Sachverhalts durch das Obergericht Zürich (E.2) und erklärte, dass durch den «Wechsel» des Haftgrunds auch dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör hätte gewährt werden müssen (E.3). Schliesslich und vor allem erkannte das Bundesgericht, dass im vorliegenden Fall der mit sehr hohen Hürden behaftete Haftgrund der Wiederholungsgefahr («Präventivhaft» nicht gegeben war (E.4): «Die vom Beschwerdeführer möglicherweise künftig ausgehenden Drohungen stellen folglich mangels seiner Gefährlichkeit keine erhebliche Sicherheitsgefährdung dar und rechtfertigen keine mehrere Monate andauernde Inhaftierung. Dies gilt insbesondere auch unter Berücksichtigung der restriktiven Anwendung des besonderen Haftgrunds der Wiederholungsgefahr.» (E.4.3).
Im Urteil 1B_81/2023 vom 27. Februar 2023 aus dem Kanton Basel-Landschaft geht es um Untersuchungshaft beim Vorwurf des Delikts der Brandstiftung. Das Bundesgericht äussert sich dabei einerseits eingehend zum dringenden Tatverdacht und zu den Indizien (E.3). Andererseits prüft das Bundesgericht im Detail den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, wobei die Einordnung eines Gutachtens mit grundsätzlich positiver Legalprognose im Fokus stand (E.4). Hier die Schlüsselausführung: «Nach dem Gesagten durfte die Vorinstanz gemäss dem Bundesgericht gestützt auf die Häufigkeit und Intensität der fraglichen dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Delikte sowie die Ausführungen im psychiatrischen Gutachten betreffend die erhöhte Rückfallgefahr von Serientätern, ungeachtet der grundsätzlich positiven gutachterlichen Beurteilung der persönlichen Lebensumstände des Beschwerdeführers, willkürfrei von einer ungünstigen Legalprognose ausgehen.» (E.4.4).