Ausweis- und Schriftensperre als Ersatzmassnahme

Im Urteil 1B_5/2023 vom 23. März 2023 aus dem Kanton Basel-Stadt äusserte sich das Bundesgericht ausführlich zur Ausweis- und Schriftensperre. Es nahm u.a. wie folgt Stellung: «Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss eine Ausweis- und Schriftensperre anstelle von Sicherheitshaft von der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts nicht periodisch überprüft werden, sondern kann sie grundsätzlich unbefristet bzw. bis zum rechtskräftigen Abschluss des Berufungsverfahrens angeordnet werden ([…]). Insoweit ist der Grundrechtsschutz durch das Recht der beschuldigten Person, bei der Verfahrensleitung jederzeit die Aufhebung der Ersatzmassnahme zu beantragen, hinreichend garantiert […]» (E.2.6.2)

Sachverhalt

Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte A. am 8. September 2020 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, mehrfachen Raufhandels sowie Unterlassung der Buchführung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sowie einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 100.–. Zudem verwies es A. für die Dauer von zehn Jahren aus dem Gebiet der Schweiz und ordnete die Ausschreibung der Ausweisung im Schengener Informationssystem an. Überdies entliess es A._ unter Auflage einer Sicherheitsleistung von Fr. 30’000.– sowie gleichzeitiger Anordnung einer Ausweis- und Schriftensperre aus dem vorzeitigen Strafvollzug.

Mit Urteil vom 9. Juni 2022 bestätigte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die Schuldsprüche und die ausgesprochene Landesverweisung, erhöhte aber die Freiheitsstrafe auf fünf Jahre und sechs Monate. Gegen dieses Urteil erhob A. am 21. November 2022 Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Das Bundesgericht eröffnete hierzu das Verfahren 6B_1391/2022, welches noch hängig ist.

Instanzenzug

Mit Eingabe vom 15. Juni 2022 ersuchte A. beim Appellationsgericht um Aufhebung, eventualiter um vorübergehende Sistierung der vom Strafgericht Basel-Stadt mit Urteil vom 8. September 2020 angeordneten Ausweis- und Schriftensperre. Die Präsidentin des Appellationsgerichts wies dieses Gesuch mit Verfügung vom 22. Juni 2022 ab. Auf die dagegen erhobene Beschwerde in Strafsachen trat das Bundesgericht mit Urteil 1B_449/2022 vom 1. September 2022 nicht ein.

Am 30. November 2022 beantragte A. beim Appellationsgericht die vollumfängliche Aufhebung der gegen ihn angeordneten Ausweis- und Schriftensperre. Mit Verfügung vom 5. Dezember 2022 wies die Präsidentin des Appellationsgerichts das Gesuch ab.

Weiterzug ans Bundesgericht

Gegen die Verfügung des Appellationsgerichts vom 5. Dezember 2022 gelangt A. mit Beschwerde in Strafsachen vom 4. Januar 2023 an das Bundesgericht. Er beantragt, die angefochtene Verfügung und die Ausweis- und Schriftensperre seien aufzuheben.

Die Präsidentin des Appellationsgerichts beantragt die Abweisung der Beschwerde. Diese Vernehmlassung wurde dem Beschwerdeführer zur Kenntnisnahme zugestellt.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_5/2023 vom 23. März 2023

Die Vorinstanz hat in der angefochtenen Verfügung das Gesuch des Beschwerdeführers um Aufhebung der Ausweis- und Schriftensperre (Art. 237 Abs. 2 lit. b StPO) wegen des Vorliegens von Fluchtgefahr abgewiesen. Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. (E.2)

Das Bundesgericht machte hierzu im Urteil 1B_5/2023 vom 23. März 2023 die folgenden Ausführungen:

«Gemäss Art. 237 StPO ordnet das zuständige Gericht anstelle der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Abs. 1). Anordnung und Anfechtung von Ersatzmassnahmen richten sich sinngemäss nach den Vorschriften über die Untersuchungs- und die Sicherheitshaft (Abs. 4). Ersatzmassnahmen sind nur zulässig, wenn die Voraussetzungen der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft erfüllt sind, insbesondere ein dringender Tatverdacht und ein besonderer Haftgrund im Sinne von Art. 221 Abs. 1 und 2 StPO vorliegt (BGE 137 IV 122 E. 2). Sodann müssen auch Ersatzmassnahmen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren (Art. 5 Abs. 2, Art. 36 Abs. 3 BV; Art. 197 StPO).» (E.2.3)

«Die Annahme von Fluchtgefahr als besonderer Haftgrund setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass die beschuldigte Person sich dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion durch Flucht entziehen könnte (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts darf die Schwere der drohenden Sanktion zwar als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um einen Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse der beschuldigten Person, in Betracht gezogen werden (BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.3; je mit Hinweisen). So ist es zulässig, ihre familiären und sozialen Bindungen, ihre berufliche Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches mitzuberücksichtigen, ebenso besondere persönliche Merkmale (wie z.B. eine Tendenz zu überstürzten Aktionen, ausgeprägte kriminelle Energie usw.), die auf eine Fluchtneigung schliessen lassen könnten. Selbst bei einer befürchteten Reise in ein Land, welches die beschuldigte Person grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen (BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.3 mit Hinweisen). Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Verfahrens- bzw. Haftdauer graduell ab, da sich auch die Länge des allenfalls noch zu absolvierenden Strafvollzugs mit der bereits geleisteten prozessualen Haft, die der mutmasslichen Freiheitsstrafe anzurechnen wäre (vgl. Art. 51 StGB), kontinuierlich verringert (BGE 143 IV 160 E. 4.3 mit Hinweis). Eine Anklageerhebung oder gerichtliche Verurteilung kann allerdings, je nach den Umständen des Einzelfalls, im Verlaufe des Verfahrens auch neue Fluchtanreize auslösen (vgl. BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.1; je mit Hinweisen). Für den Nachweis des Haftgrunds der Fluchtgefahr ist bei Ersatzmassnahmen grundsätzlich ein weniger strenger Massstab an die erforderliche Intensität anzulegen als bei strafprozessualem Freiheitsentzug (BGE 133 I 27 E. 3.3; Urteile 1B_651/2022 vom 18. Januar 2023 E. 5.2.2; 1B_382/2022 vom 11. Oktober 2022 E. 2.7; 1B_45/2021 vom 2. März 2021 E. 3.6; 1B_103/2018 vom 20. März 2018 E. 2.4).» (E.2.4)

Nach eingehender Prüfung der Ausführungen und Feststellungen der Vorinstanz bejahte das Bundesgericht das Vorliegen einer Fluchtgefahr.

Danach äusserte sich das Bundesgericht im Urteil 1B_5/2023 vom 23. März 2023 wie folgt zunächst allgemein zur Ausweis- und Schriftensperre:

«Eine Ausweis- und Schriftensperre ist grundsätzlich geeignet und sachlich geboten, um der dargelegten Fluchtneigung entgegen zuwirken bzw. diese zu mindern (siehe BGE 133 I 27 E. 3.5; Urteile 1B_382/2022 vom 11. Oktober 2022 E. 2.8; 1B_632/2011 vom 2. Dezember 2011 E. 5.1). Dass eine Ausweis- und Schriftensperre anstelle von Haft der Gefahr einer heimlichen Abreise ins nahe Ausland weniger gut begegnen kann als ein Freiheitsentzug, liegt in der Natur der Sache. Entgegen dem pauschalen Einwand des Beschwerdeführers lässt dieser Umstand ihre Geeignetheit im Sinne der Praxis zur Verhältnismässigkeit von strafprozessualen Zwangsmassnahmen jedoch nicht dahinfallen (BGE 130 I 234 E. 2.2; Urteil 1B_382/2022 vom 11. Oktober 2022 E. 2.8).» (E.2.6.1)

Danach nahm das Bundesgericht auf den zu beurteilenden Sachverhalt im Urteil 1B_5/2023 vom 23. März 2023 wie folgt weiter Stellung:

«Soweit der Beschwerdeführer rügt, die seit mehr als zwei Jahren aufrechterhaltene und unbefristete Schriftensperre sei unzulässig und überdies in zeitlicher Hinsicht unverhältnismässig, ist seine Kritik unbegründet. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss eine Ausweis- und Schriftensperre anstelle von Sicherheitshaft von der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts nicht periodisch überprüft werden, sondern kann sie grundsätzlich unbefristet bzw. bis zum rechtskräftigen Abschluss des Berufungsverfahrens angeordnet werden (BGE 139 IV 186 E. 2.2.3; Urteil 1B_461/2020 vom 14. Oktober 2020 E. 7; je mit Hinweisen). Insoweit ist der Grundrechtsschutz durch das Recht der beschuldigten Person, bei der Verfahrensleitung jederzeit die Aufhebung der Ersatzmassnahme zu beantragen, hinreichend garantiert (BGE 141 IV 190 E. 3.3). Davon hat der Beschwerdeführer im Nachgang zur Berufungsverhandlung denn auch Gebrauch gemacht. Rechtsprechungsgemäss war die Vorinstanz somit nicht verpflichtet, periodisch über die vom Strafgericht Basel-Stadt im Rahmen des erstinstanzlichen Sachurteils vom 8. September 2020 unbefristet angeordnete Schriftensperre zu befinden. Dies hat vorliegend umso mehr zu gelten, als der Beschwerdeführer deren Rechtmässigkeit – soweit ersichtlich – erst einige Tage nach Abschluss der Berufungsverhandlung erstmals in Frage stellte (vgl. vorne E. 2.1). Im Übrigen ist die Gesamtdauer der am 8. September 2020 angeordneten und seither aufrechterhaltenen Schriftensperre angesichts der drohenden Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten ohne Weiteres verhältnismässig.» (E.2.6.2)

«Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nichts zu seinen Gunsten ableiten kann der Beschwerdeführer weiter aus seinem Vorbringen, die Schriftensperre beeinträchtige ihn unverhältnismässig stark in seinem Alltag, da sie ihm insbesondere Behördengänge, bei welchen er seinen Pass vorweisen müsse, verunmögliche. Als Beweis hierfür legt er ein Schreiben seiner Wohngemeinde vor, in welchem er aufgefordert wird, persönlich ein gültiges Reisedokument vorzuweisen. Es liegt auch insoweit wiederum in der Natur der Sache, dass mit einer Schriftensperre gewisse Einschränkungen, namentlich in der Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), einhergehen. Diese Einschränkungen erweisen sich vorliegend allerdings als zumutbar, da sie für den Beschwerdeführer nicht übermässig einschneidend sind. Einerseits kann er sich in der Schweiz frei bewegen. Andererseits steht es ihm offen, wie in der Vergangenheit in begründeten Fällen bei der Verfahrensleitung ein Gesuch um eine befristete Sistierung der Schriftensperre zu stellen (Art. 237 Abs. 5 StPO), da sich die Verweigerung jeglicher Lockerungen bei einer langjährigen Schriftensperre verbunden mit Wohlverhalten seit der Haftentlassung als unverhältnismässig erweisen kann (Urteil 1B_558/2012 vom 15. März 2013 E. 5.2). Wie die Vorinstanz zu Recht festhält, vermag sodann auch das genannte Schreiben seiner Wohngemeinde die Recht- bzw. Verhältnismässigkeit der Ersatzmassnahme von vornherein nicht in Frage zu stellen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer der Aufforderung zur Vorlage seiner Reisedokumente beispielsweise nicht mittels einer beglaubigten Kopie nachkommen könnte oder die Verfahrensleitung den Gemeindebehörde den Pass nicht auch auf dem Amtshilfeweg zukommen lassen könnte (Urteil 1B_382/2022 vom 11. Oktober 2022 E. 2.8).» (E.2.6.3)

Auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers wird hier nicht weiter eingegangen (E.2.7 ff.).

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