Juli 6, 2023 8:44 am

Im wegweisenden Urteil 2C_523/2021 vom 25. April 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit der Frage ob der verzögerte Beginn der stationären therapeutischen Massnahme bzw. der Verbleib in Organisationshaft des Beschwerdeführers Staatshaftungsansprüche begründet. Nach Ansicht des Bundesgerichts verstiess die rund 17-monatige Wartezeit bzw. Organisationshaft des Beschwerdeführers gegen die Vorgaben von Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK, und die Unterbringung im Gefängnis ist als rechtswidrig anzusehen (E.8.4). «Die festgestellte Rechtswidrigkeit der Unterbringung begründet nach Art. 5 Ziff. 5 EMRK grundsätzlich einen Entschädigungsanspruch» (E.9). 

Juli 5, 2023 8:26 am

Die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts spricht den 2020 des qualifizierten Waschens von rund 194 Mio. Euro angeklagten ehemaligen CEO A. der Schweizer Bank B. mangels genügender Beweise für das Bestehen der angeblichen Vortat (Veräusserung der vom arabischen Geschäftsmann X. und zugleich Verwaltungsrat bzw. Verwaltungsratspräsident des arabischen Finanzinstituts C. privat gehaltenen Y-Aktien und «Certain Rights» an dieselbe C. zu einem überhöhten Preis im Sinne einer ungetreuen Geschäftsbesorgung) in dubio pro reo frei. Zufolge des Fehlens einer Geldwäscherei-Vortat und damit einer Anlasstat gemäss Art. 102 StGB erfolgt zweitinstanzlich auch für die Schweizer Bank B., der vorgeworfen wurde, die angeklagten Geldwäschereihandlungen wegen Desorganisation ermöglicht bzw. nicht verhindert zu haben, ein Freispruch.

Juli 3, 2023 1:13 pm

Das Urteil 6B_766/2022 vom 17. Mai 2023 des Bundesgerichts aus dem Kanton Aargau (zur amtl. Publ. vorgeseh.) ist ein wichtiges Leiurteil zum Thema Gutachten von Sachverständigen und standardisierten Prognoseinstrumenten sowie zu ambulanten und stationären Massnahmen. Wer in der Strafverteidigung mit Gutachten konfrontiert ist, sollte dieses Urteil beiziehen.

Juli 1, 2023 2:04 pm

Im wichtigen Urteil 6B_1160/2022 vom 1. Mai 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) macht das Bundesgericht umfassende Ausführungen zur Berechnung der Genugtuung für die erlittene Haft, auch unter Verweis auf die bisherige eigene Praxis (E.2.1). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind die Unterhaltskosten am Wohnsitz der berechtigten Person bei der Festsetzung der Entschädigung für immaterielle Schäden grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Die Entschädigung muss somit unabhängig davon festgelegt werden, wo der Berechtigte lebt und was er mit dem erhaltenen Geld machen wird. Sofern jedoch der im Ausland wohnhafte Begünstigte aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse an seinem Wohnort übermässig begünstigt würde, ist die Entschädigung nach unten anzupassen. Die Höhe der Genugtuung muss unter Berücksichtigung der besonderen Umstände und unter Abwägung aller Interessen gerechtfertigt sein und darf daher nicht unbillig erscheinen (E.2.1.5). Die Festsetzung der Entschädigung für immaterielle Schäden ist eine Frage der Anwendung des Bundesrechts und wird daher vom Bundesgericht nach freiem Ermessen geprüft. Da es sich hierbei zu einem grossen Teil um eine Frage der Würdigung der Umstände handelt, greift das Gericht zurückhaltend ein (E.2.1.7).

Juni 30, 2023 10:59 am

In der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) kommt es zu personellen Wechseln. Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 28. Juni 2023 zwei neue Kommissionsmitglieder ernannt. Die Wahl erfolgt, weil ein bisheriges Mitglied seinen Rücktritt bekannt gegeben und ein weiteres Mitglied die maximale Amtsdauer erreicht hat.

Juni 30, 2023 10:47 am

Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 28. Juni 2023 einen politisch-strategischen Krisenstab «Datenabfluss» mandatiert. Der departementsübergreifende Krisenstab soll die laufenden Arbeiten zur Bewältigung des Ransomware-Angriffes auf die Firma Xplain, von dem auch Daten aus der Bundesverwaltung betroffen sind, koordinieren und Massnahmen vorschlagen. Zudem lässt der Bundesrat ein Mandat für eine Administrativuntersuchung erarbeiten. Auch hat er entschieden, bestehende Verträge mit Informatikdienstleistern des Bundes überprüfen und nötigenfalls so anpassen zu lassen, dass die Cybersicherheit der Dienstleister verbessert wird und der Bund im Fall eines erfolgreichen Angriffs rasch reagieren kann. Schliesslich lässt er Massnahmen prüfen, mit denen sichergestellt werden kann, dass die heute von Xplain für die Polizei sowie für Sicherheits- und Migrationsbehörden erbrachten essenziellen Leistungen in jedem Fall gewährleistet werden können.

Juni 30, 2023 4:21 am

Im Auftrag des Nationalen Testinstituts für Cybersicherheit NTC hat Walder Wyss AG ein ausführliches Rechtsgutachten mit dem Titel “Strafbarkeit von Ethical Hacking” erstellt. Das Nationale Testinstitut für Cybersicherheit NTC untersucht digitale Produkte und Infrastrukturen, die nicht oder nicht ausreichend geprüft werden - auch auf eigene Initiative. Das Aufspüren von Sicherheitslücken ohne ausdrücklichen Auftrag und ohne Einwilligung wirft Fragen nach einer allfälligen Strafbarkeit auf. Nach schweizerischem Recht macht sich strafbar, wer unbefugt die Zugangssicherung eines fremden Systems überwindet oder dies versucht. Zudem stellt das Strafgesetzbuch die Manipulation und Veränderung von Daten unter Strafe.

Juni 29, 2023 1:16 pm

Im Urteil 1C_180/2023 vom 20. Juni 2023 behandelt das Bundesgericht eine Auslieferung eines serbischen und bulgarischen Staatsangehörigen nach Serbien. Das Bundesgericht machte hierbei interessante Ausführungen zum Auslieferungsrecht. Im Zentrum steht die folgende: «Die Einhaltung des Spezialitätsprinzips wird grundsätzlich durch die Formulierung von Auflagen im Rechtshilfeentscheid sichergestellt […]. Bei der Auslieferung zwecks Strafverfolgung genügt es in aller Regel, die Auslieferung für bestimmte Delikte zu verweigern, weil damit für die Behörden des ersuchenden Staates ohne Weiteres klar ist, dass diese nicht Gegenstand des Strafverfahrens bilden dürfen. Schwieriger ist es, wenn die Auslieferung zur Strafvollstreckung nur teilweise bewilligt wird. Diesfalls liegt im ersuchenden Staat bereits ein rechtskräftiges und vollstreckbares Urteil vor, an das die Strafvollzugsbehörden grundsätzlich gebunden sind. Wird darin die Strafe nicht nach den einzelnen Delikten aufgegliedert, sondern einheitlich festgesetzt, besteht eine gewisse Gefahr, dass die Strafe vollständig vollzogen wird, unter Verletzung des Spezialitätsprinzips, sofern die ersuchende Behörde nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass eine neue Strafe festgesetzt werden muss, unter Berücksichtigung einzig der auslieferungsfähigen Delikte. Im vorliegenden Fall ist daher eine entsprechende Auflage im Entscheiddispositiv zu formulieren […]. Eine entsprechende Zusicherung Serbiens ist dagegen entbehrlich.» (E.3.6.2).

Juni 28, 2023 10:32 am

Eine Ärztin hat sich mit der Abgabe des Mittels Natrium-Pentobarbital an eine suizidwillige Person entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft keines Tötungsdelikts schuldig gemacht. Das Bundesgericht weist im Urteil 6B_1087/2021, 6B_1120/2021 vom 22. Mai 2023 die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft ab. Die Beschwerde der Ärztin heisst es gut. Das Kantonsgericht muss weitere Abklärungen zum Sachverhalt treffen und neu entscheiden.

Juni 23, 2023 1:28 pm

Im sehr lesenswerten Urteil 1B_268/2023 vom 12. Juni 2023 aus dem Kanton Zürich ging es um die notwendige Zeit zur Stellungnahme der Verteidigung in Haftfällen vor dem Zwangsmassnahmengericht sowie um die Frage der Pflicht zur Führung von digitalen Haftakten. Das Bundesgericht u.a. wie folgt Stellung: «[Es] besteht – auch im Haftverfahren – grundsätzlich kein Anspruch auf eine digitale Aktenführung durch die Strafbehörden bzw. auf elektronische Übermittlung der Verfahrensakten.  Der Beschwerdeführer bringt indessen zu Recht vor, die ohnehin bereits knapp bemessene Frist zur Stellungnahme von nicht einmal sieben Stunden sei durch die Vorgabe, die hierfür notwendige Akteneinsicht am Ort des Gerichts vorzunehmen, faktisch weiter verkürzt und sein entsprechendes Recht daher im Ergebnis erschwert worden.» (E.3.4.2). Das Bundesgericht vermied es aber «abschliessend Stellung zu nehmen», da der Verteidiger aus dem Kanton Aargau kein Fristerstreckungsgesuch gestellt hatte, welches vom Bundesgericht hypothetisch als aussichtsreich beurteilt wurde (E.3.4.3). Mit dem Projekt Justitia 4.0 dürfte sich dieses Thema aber in diesem Jahrzehnt wohl erledigen.