Zustellfiktion aufgrund von Treu und Glauben im Prozessrechtsverhältnis

Im Urteil 7B_277/2023 vom 19. September 2023 aus dem Kanton Basel-Stadt geht es das äusserst praxisrelevante Thema der Fiktion von Zustellungen von Strafbefehlen. Das Bundesgericht äusserte sich auf der generell-abstrakten Ebene u.a. wie folgt: «Die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen […]. Diese Obliegenheit beurteilt sich nach den konkreten Verhältnissen und dauert nicht unbeschränkt an […]. Nach der Rechtsprechung muss die betroffene Person mit der Zustellung eines Entscheides rechnen, wenn sie davon Kenntnis hat, dass sie Gegenstand einer Strafuntersuchung im Sinne von Art. 309 StPO ist […]. Dies ist der Fall, wenn dem Beschuldigten von der Polizei Vorhalte gemacht werden und ihm die Eröffnung eines Vorverfahrens mitgeteilt wird […]. Die Zustellfiktion von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO kann bei der Mitteilung eines Strafbefehls insbesondere zum Tragen kommen, wenn der betroffenen Person von der Polizei anlässlich einer Verkehrskontrolle die Eröffnung eines Strafverfahrens in Aussicht gestellt wurde und der Strafbefehl relativ zeitnah dazu erging.» (E.2.3.2). Im vorliegenden griff die Zustellfiktion allerdings nicht, so dass das Bundesgericht die Beschwerde der Beschwerdeführerin guthiess (E.2.4).

Sachverhalt

Mit Strafbefehlen der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt vom 18. Februar 2020 (bzw. vom 9. März 2020; Verfahren VT.2020.3694), vom 2. Dezember 2020 (VT.2020.19680) sowie vom 8. Februar 2021 (VT.2021.2301) wurde A. jeweils zu einer Busse von Fr. 1’000.–, bei schuldhaftem Nichtbezahlen ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von je 10 Tagen, verurteilt.

Instanzenzug

Das Amt für Justizvollzug des Kantons Basel-Stadt verfügte am 17. September 2021 (betreffend Strafbefehl vom 18. Februar 2020), am 13. Oktober 2021 (betreffend Strafbefehl vom 2. Dezember 2020) und am 5. Januar 2022 (betreffend Strafbefehl vom 8. Februar 2021) die Umwandlung der Bussen von je Fr. 1’000.– in Ersatzfreiheitsstrafen von je 10 Tagen. Am 22. Dezember 2021 lud das Amt für Justizvollzug A._ auf den 22. März 2022 zum Strafantritt betreffend die Ersatzfreiheitsstrafe von 10 Tagen aus Busse aus dem Strafbefehl vom 18. Februar 2020 vor. Mit Schreiben vom 10. Januar 2022 und vom 7. Februar 2022 teilte die Vollzugsbehörde A. mit, dass die Ersatzfreiheitsstrafen aus den drei Strafbefehlen gemeinsam vollzogen würden, und der Strafantritt (unverändert) der 22. März 2022 sei.

Am 21. März 2022 beantragte A. dem Amt für Justizvollzug, es sei ihre Hafterstehungsunfähigkeit festzustellen und die auf den 22. März 2022 angeordnete Ersatzfreiheitsstrafe sei nicht zu vollziehen beziehungsweise es sei der Vollzugsantritt aufzuschieben. Das Amt für Justizvollzug wies das Gesuch mit Verfügung vom 21. April 2022 ab. Eine von A. dagegen erhobene Beschwerde wies das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 24. April 2023 ab.

Weiterzug ans Bundesgericht

Der A. gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, das Urteil des Appellationsgerichts sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Strafbefehle in den Verfahren VT.2021.2301, VT.2020.19680 sowie VT.2020.3694 nichtig seien; eventualiter sei der Antritt des Strafvollzugs aufzuschieben, subeventualiter die Streitsache zur Durchführung eines rechtskonformen Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem sei ihr im Fall eines Unterliegens die unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu bewilligen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_277/2023 vom 19. September 2023

Die Beschwerdeführerin macht vor Bundesgericht zunächst geltend, die Strafbefehle seien ihr nicht (rechtsgenüglich) zugestellt worden und deshalb nichtig. (E.2)

Die Vorinstanz erwägt, wie das Bundesgericht ausführt, aufgrund der zahlreichen aktenkundigen Zustellungen, teilweise auch eingeschrieben, habe die Beschwerdeführerin mit der Zustellung der gegen sie ergangenen Strafbefehle rechnen müssen, weshalb die nicht abgeholten Strafbefehle als zugestellt zu gelten hätten. Bezüglich der geltend gemachten Schuldunfähigkeit im Zusammenhang mit den Zustellungen der Strafbefehle sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin im Verfahren betreffend Errichtung einer Beistandschaft geltend gemacht habe, sie sei sehr wohl in der Lage, ihre Angelegenheiten selbstständig zu erledigen. Sie habe bis anhin immer grösstenteils selbst für sich gesorgt. Zudem sei den eingeholten KESB-Akten in diesem Verfahren zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin Mitte 2019 noch habe verlauten lassen, dass sie grundsätzlich keine Post aufmache. Dies deute darauf hin, dass sie sich in der fraglichen Zeit der Zustellungen (2019-2021) bewusst dafür entschieden habe, keine Post entgegenzunehmen oder zu öffnen. Aus den betreffenden Akten ergebe sich überdies, dass gemäss der KESB bei der Beschwerdeführerin damals keine erwachsenenschutzrechtlichen Massnahmen notwendig gewesen seien. Zusammengefasst sei eine Schuldunfähigkeit der Beschwerdeführerin in Zusammenhang mit den Zustellungen bzw. eine Nichtigkeit der Strafbefehle bei dieser Ausgangslage nicht anzunehmen. (E.2.1)

Die Beschwerdeführerin kritisiert vor Bundesgericht, entgegen der Vorinstanz gehe aus den Akten nicht hervor, dass sie mit der Zustellung der gegen sie ergangenen Strafbefehle habe rechnen müssen. Aus dem angefochtenen Entscheid ergebe sich auch nicht, um welche aktenkundigen Zustellungen es sich handeln solle. Die Zustellungsfiktion gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO könne keine Anwendung finden, da sie (die Beschwerdeführerin) nicht mit der Zustellung der Strafbefehle habe rechnen müssen. (E.2.2)

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_277/2023 vom 19. September 2023 zunächst allgemein wie folgt zu Strafbefehlen und deren Zustellung sowie dem sehr praxisrelevanten Thema der Zustellfiktion:

«Die beschuldigte Person kann gegen den Strafbefehl innert 10 Tagen bei der Staatsanwaltschaft schriftlich Einsprache erheben (Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO). Ohne gültige Einsprache wird der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil (Art. 354 Abs. 3 StPO). Die zehntägige Einsprachefrist beginnt einen Tag nach der Mitteilung des Strafbefehls zu laufen (Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 354 Abs. 1 StPO; BGE 147 IV 518 E. 3.1). Der Strafbefehl muss der zur Einsprache berechtigten Person schriftlich eröffnet werden (Art. 353 Abs. 3 StPO; BGE 147 IV 518 E. 3.1). Nach konstanter Rechtsprechung obliegt der Behörde die Beweislast für die erfolgte Zustellung und das Datum der Zustellung (BGE 144 IV 57 E. 2.3; 142 IV 125 E. 4.3). Die Behörde trägt somit auch die Konsequenzen eines fehlenden Nachweises, falls die Zustellung bestritten ist (BGE 129 I 8 E. 2.2; 124 V 400 E. 2a; Urteil 6B_699/2021 vom 21. Juni 2022 E. 2.4.1). Da Art. 354 Abs. 1 StPO nur die kurze Frist von 10 Tagen für die Einsprache vorsieht, ist es zentral, dass die betroffene Person ihre Rechte effektiv wahren kann und ihr das Ergreifen eines Rechtsmittels nicht unnötig erschwert oder verunmöglicht wird. Die Rechtsmittelfrist kann erst dann zu laufen beginnen, wenn die betroffene Person im Besitz aller für die erfolgreiche Wahrung ihrer Rechte wesentlichen Elemente ist (BGE 144 IV 57 E. 2.3.2).  Auf den grundrechtlich garantierten gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 29a und Art. 30 BV) kann nur der ausreichend informierte Beschuldigte wirksam verzichten (BGE 147 IV 518 E. 3.1; 140 IV 82 E. 2.6). Wurde der Strafbefehl nicht gehörig zugestellt, erwächst er nicht in Rechtskraft und kann damit auch nicht vollstreckt werden. Er kann grundsätzlich keine Rechtswirkungen entfalten (BGE 144 IV 57 E. 2.3; Urteil 6B_699/2021 vom 21. Juni 2022 E. 2.4.1 mit Hinweis).» (E.2.3.1)

«Für die Zustellung von Strafbefehlen gelten die allgemeinen Regeln (Art. 84 ff. StPO). Sie erfolgt gemäss Art. 85 Abs. 2 StPO durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung. Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste. Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO verankert eine gesetzliche Zustellungsfiktion (BGE 140 IV 82 E. 2.4). Die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; 141 II 429 E. 3.1; 138 III 225 E. 3.1; Urteil 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 142 IV 286; je mit Hinweisen). Diese Obliegenheit beurteilt sich nach den konkreten Verhältnissen und dauert nicht unbeschränkt an (Urteile 6B_4/2023 vom 5. April 2023 E. 3; 6B_1057/2022 vom 30. März 2023 E. 1.1; 6B_324/2020 vom 7. September 2020 E. 1.2 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung muss die betroffene Person mit der Zustellung eines Entscheides rechnen, wenn sie davon Kenntnis hat, dass sie Gegenstand einer Strafuntersuchung im Sinne von Art. 309 StPO ist (vgl. BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; Urteile 5D_90/2022 vom 26. April 2023 E. 5.3; 6B_880/2022 vom 30. Januar 2023 E. 2.1; 6B_1455/2021 vom 11. Januar 2023 E. 1.1 mit Hinweisen). Dies ist der Fall, wenn dem Beschuldigten von der Polizei Vorhalte gemacht werden und ihm die Eröffnung eines Vorverfahrens mitgeteilt wird (zuletzt: Urteile 5D_90/2022 vom 26. April 2023 E. 5.3; 6B_880/2022 vom 30. Januar 2023 E. 2.1; 6B_1455/2021 vom 11. Januar 2023 E. 1.1 mit Hinweisen). Die Zustellfiktion von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO kann bei der Mitteilung eines Strafbefehls insbesondere zum Tragen kommen, wenn der betroffenen Person von der Polizei anlässlich einer Verkehrskontrolle die Eröffnung eines Strafverfahrens in Aussicht gestellt wurde und der Strafbefehl relativ zeitnah dazu erging (Urteil 6B_4/2023 vom 5. April 2023 E. 3 mit Hinweisen).» (E.2.3.2)

Zum vorliegenden Fall äusserte sich das Bundesgericht im Urteil 7B_277/2023 vom 19. September 2023 alsdann wie folgt:

«Unbestritten ist, dass die Strafbefehle (deren zwei wegen Widerhandlung gegen das Übertretungsstrafgesetz des Kantons Basel-Stadt und einen wegen Ungehorsams des Schuldners im Betreibungs- und Konkursverfahren) der Beschwerdeführerin nicht zugestellt worden konnten und mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ an die Staatsanwaltschaft retourniert wurden. Unter den gegebenen Umständen kann der Beschwerdeführerin jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie hätte mit der Zustellung dieser Strafbefehle rechnen müssen: Aus dem vorinstanzlichen Entscheid ergibt sich jedenfalls nicht, auf welche „aktenkundigen Zustellungen“ sich eine Zustellfiktion im Sinne von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO stützen sollte. Den kantonalen Akten liegen zwar (teils eingeschriebene) an die Beschwerdeführerin adressierte Schreiben des Veterinäramts bzw. des Betreibungsamts des Kantons Basel-Stadt aus dem dem jeweiligen Strafbefehl vorangegangenen Verwaltungs- bzw. Betreibungsverfahren bei. Daraus geht hervor, dass der Beschwerdeführerin – nach mehrfacher Aufforderung zur Bezahlung der Hundesteuern bzw. Folgeleistung der Pfändungsankündigung – schliesslich mitgeteilt werden sollte, dass sie bei der Staatsanwaltschaft verzeigt worden sei bzw. verzeigt werde. Wie die Beschwerdeführerin indes zu Recht geltend macht, liegen keine Belege vor, welche den Nachweis dafür erbringen würden, dass diese Schreiben ihr effektiv zugestellt werden konnten. Auch sonst ist nicht ersichtlich, inwiefern die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der versuchten Zustellung der Strafbefehle hätte wissen sollen und müssen, dass die Staatsanwaltschaft jeweils einen Strafbefehl gegen sie erlassen könnte. Daran ändert nichts, dass die – offenbar unter somatischen und psychischen Beschwerden leidende – Beschwerdeführerin rund acht Monate vor dem ersten Strafbefehl in einem KESB-Verfahren habe verlauten lassen, dass sie grundsätzlich keine Post aufmache. Damit sind die fraglichen Strafbefehle in den Verfahren VT.2020.3694, VT.2020.19680 sowie VT.2021.2301 der Beschwerdeführerin nicht rechtswirksam zugestellt worden. Die Strafbefehle sind durch die zuständige Behörde neu auszufertigen und der Beschwerdeführerin formgültig zu eröffnen.  Nicht rechtskräftige Strafbefehle können wie erwähnt nicht vollstreckt werden (vgl. E. 2.3.1 hiervor). Auf die weiteren Rügen der Beschwerdeführerin braucht demzufolge nicht eingegangen zu werden.» (E.2.4)

Das Bundesgericht hiess im Urteil 7B_277/2023 vom 19. September 2023 die Beschwerde gut, hob das Urteil der Vorinstanz auf und wies diese zur neuen Entscheidung an.

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