April 1, 2025 2:08 pm

Im Urteil 7B_1295/2024 vom 19. März 2025 aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, ob ein Anspruch auf telefonische Kontakte des Beschuldigten mit seiner Verteidigung besteht. Das Bundesgericht äussert sich einleitend wie folgt: «Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig (Art. 32 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Art. 10 Abs. 1 StPO). Dementsprechend darf die strafprozessual inhaftierte beschuldigte Person in ihrer persönlichen Freiheit nicht stärker eingeschränkt werden, als es der Haftzweck sowie die Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt erfordern (Art. 235 Abs. 1 StPO). Die Kontakte zwischen der inhaftierten Person und anderen Personen bedürfen der Bewilligung der Verfahrensleitung. Besuche finden wenn nötig unter Aufsicht statt (Art. 235 Abs. 2 StPO). Die inhaftierte Person kann indessen nach Art. 235 Abs. 4 Satz 1 StPO frei und ohne inhaltliche Kontrolle mit der Verteidigung verkehren. Bei der Verteidigung handelt es sich demnach nicht um eine "andere Person" im Sinne von Art. 235 Abs. 2 StPO, deren Kontakt mit der inhaftierten Person durch die Verfahrensleitung zu bewilligen ist […]. Eine (befristete) Einschränkung dieses freien Verkehrs zwischen der inhaftierten Person und ihrer Verteidigung durch die Verfahrensleitung ist nach Art. 235 Abs. 4 Satz 2 StPO nur bei begründetem Verdacht auf Missbrauch und mit Genehmigung des Zwangsmassnahmengerichts zulässig. Von einer eigentlichen Einschränkung des freien Verkehrs im Sinne von Art. 235 Abs. 4 Satz 2 StPO zu unterscheiden sind administrative und organisatorische Schutzvorkehren zur Gewährleistung der Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt, welche lediglich die Modalitäten des Verkehrs mit der Verteidigung beschlagen […]. Die konkrete Ausgestaltung des Verkehrs der inhaftierten Person mit ihrer Verteidigung richtet sich nach kantonalem Vollzugsrecht (vgl. Art. 235 Abs. 5 StPO), wobei aber die bundesrechtlichen Vorgaben gewahrt werden müssen […]» (E.4). Im vorliegenden Fall schützt das Bundesgericht die Beschwerde wie folgt: Die Abweisung des Gesuchs des Beschwerdeführers um Erteilung einer "Dauertelefonbewilligung" durch die Staatsanwaltschaft bzw. die Abweisung der dagegen gerichteten Beschwerde durch die Vorinstanz ist bundesrechtswidrig. Der Beschwerdeführer verfügt gestützt auf Art. 235 Abs. 4 StPO über einen grundsätzlichen Anspruch auf telefonischen Verkehr mit seiner Verteidigung, weshalb sein Antrag auf Erteilung einer "Dauertelefonbewilligung" mit seiner Verteidigung gutzuheissen ist (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG). Die konkrete Ausgestaltung der Modalitäten des telefonischen Kontakts mit der Verteidigung obliegt den nach Massgabe des kantonalen Rechts zuständigen Vollzugsbehörden (Art. 235 Abs. 5 StPO).» (E.6.4).

März 30, 2025 12:15 pm

Das Bundesgericht präzisiert im Urteil 7B_136/2025 vom 4. März 2025 (zur amtl. Publ. vorgesehen) seine Rechtsprechung zur Anordnung von Haft (Untersuchungs- oder Sicherheitshaft) wegen Wiederholungsgefahr gegenüber verdächtigten Personen, die bisher noch nicht zweimal wegen gleichartiger Straftaten verurteilt wurden. Bei Betäubungsmitteldelikten fällt in solchen Fällen eine Inhaftierung wegen (qualifizierter) Wiederholungsgefahr in der Regel nicht in Betracht. Hier sind einige Ausführungen des Bundesgerichts: «Als Zwischenfazit ergibt sich, dass Haft wegen qualifizierter Wiederholungsgefahr nur zulässig ist, wenn die untersuchte Anlasstat gegen hochwertige Individualrechtsgüter gerichtet war und eine gleichartige Beeinträchtigung ernsthaft zu befürchten ist.» (E.2.3.8). «Widerhandlungen gegen das BetmG sind grundsätzlich keine Gewalthandlungen, aus denen konkrete Opfer hervorgehen. Sie sind in erster Linie gegen die öffentliche Gesundheit und somit nicht gegen ein Individualrechtsgut gerichtet […]. Zwar ist nicht auszuschliessen, dass Widerhandlungen gegen das BetmG, vordergründig solche nach Art. 19 Abs. 1 lit. c BetmG, allenfalls in Verbindung mit einem qualifizierenden Merkmal nach Abs. 2, zu einer konkreten Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Integrität einer Person führen können. Solche Fälle ausgenommen ist die Anwendung von Art. 221 Abs. 1bis StPO auf Betäubungsmitteldelinquenz nach der vorstehenden Auslegeordnung jedoch ausgeschlossen.» (E.2.4.1).  

März 27, 2025 7:24 am

Die Beweise aus einer präventiven verdeckten Fahndung durften gegen einen Mann für seine Verurteilung wegen versuchter sexueller Handlungen mit Kindern verwertet werden. Das Bundesgericht bestätigt im Urteil 6B_490/2024 vom 24. Januar 2025 ein Urteil des Freiburger Kantonsgerichts (zur amtl. Publ. vorgesehen).

März 17, 2025 11:37 am

Im Urteil 7B_743/2024 vom 26. Februar 2025 aus dem Kanton Schaffhausen kämpften eine Rechtsanwältin und ein Rechtsanwalt bis zum Bundesgericht um ein amtliches Mandat. Im Zentrum stand das Vorschlagsrecht des Beschuldigten bezüglich amtlicher Verteidigung. Das Bundesgericht äusserte sich wie folgt: «Das Vorschlagsrecht der beschuldigten Person nach Art. 133 Abs. 2 StPO begründet zwar keine strikte Befolgungs- bzw. Ernennungspflicht zulasten der Verfahrensleitung, für ein Abweichen vom Vorschlag der beschuldigten Person bedarf es jedoch zureichender sachlicher Gründe, wie Interessenskollisionen der erbetenen amtlichen Verteidigung, Überlastung, fehlende fachliche Qualifikation oder andere sachliche Hindernisse […]. Die Verfahrensleitung hat die beschuldigte Person auf das Vorschlagsrecht nach Art. 133 Abs. 2 StPO hinzuweisen, damit diese ihre Verfahrensrechte effektiv wahrnehmen kann. Tut sie dies nicht, führt der Umstand, dass die beschuldigte Person keine Einwände gegen die Mandatierung eines bestimmten Rechtsanwalts oder einer bestimmten Rechtsanwältin als amtliche Verteidigung erhebt, nicht zum Verlust ihres gesetzlich gewährleisteten Vorschlagsrechts […].» (E.2.2). «Die Rüge des Beschwerdeführers ist begründet: […] Er wurde jedoch weder nach seiner ersten noch nach seiner zweiten Festnahme über sein Vorschlagsrecht gemäss Art. 133 Abs. 2 StPO aufgeklärt. Zudem wiegen die am 30. September 2023 neu erhobenen Vorwürfe der vorsätzlich und versuchten vorsätzlichen Tötung viel schwerer als die dem Beschwerdeführer davor zur Last gelegten Delikte. […]. Angesichts der Schwere der neuen Vorwürfe hätte der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall spätestens nach seiner zweiten Verhaftung (erneut) umfassend über seine Rechte betreffend Bestellung der amtlichen Verteidigung aufgeklärt werden müssen. Indem die Strafbehörden dies unterliessen, haben sie das Vorschlagsrecht des Beschwerdeführers verletzt. Ob das Vertrauensverhältnis […] erheblich gestört ist, braucht bei dieser Sachlage nicht weiter geprüft zu werden.» (E.2.4).  

März 12, 2025 1:16 pm

Im Urteil 6B_419/2024 vom 10. Februar 2025 aus dem Kanton Zürich schützte das Bundesgericht die Aussprache einer Nicht obligatorischen Landesverweisung i.S.v. Art. 66abis StGB. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Gemäss Art. 66abis StGB kann das Gericht einen Ausländer für 3-15 Jahre des Landes verweisen, wenn er wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das nicht von Artikel 66a StGB erfasst wird, zu einer Strafe verurteilt oder gegen ihn eine Massnahme nach den Artikeln 59-61 oder 64 StGB angeordnet wird. Wie jeder staatliche Entscheid hat die nicht obligatorische Landesverweisung unter Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 2 und 3 BV) zu erfolgen. Das Gericht hat die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegen die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz abzuwägen. Die erforderliche Interessenabwägung entspricht den Anforderungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK an einen Eingriff in das Privat- und Familienleben […].» (E.5.3.1). «Art. 66abis StGB setzt keine Mindeststrafhöhe voraus […]. Demnach ist die nicht obligatorische Landesverweisung einer aufenthaltsberechtigten Person bei einer Verurteilung bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe nicht grundsätzlich als unverhältnismässig zu betrachten, sondern anhand einer Verhältnismässigkeitsprüfung zu beurteilen […]. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die nicht obligatorische Landesverweisung gerade in Fällen zur Anwendung gelangen, bei denen es um Gesetzesverstösse von geringerer Schwere, aber dafür um wiederholte Delinquenz geht […].» (E.5.3.2).

März 10, 2025 3:43 pm

Im Urteil 6B_789/2024 vom 3. Februar 2025 aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden befasste sich das Bundesgericht mit der Strafzumessung durch das Berufungsgericht und äusserte sich u.a. wie folgt: «Bei der Strafzumessung sind nebst dem objektiven und subjektiven Verschulden (Art. 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB) auch das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse des Täters, die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters sowie dessen Verhalten nach der Tat und im Strafverfahren zu berücksichtigen […]. Das Berufungsgericht muss eine eigene Strafzumessung vornehmen […]. Die Bemessung des Tagessatzes nach Art. 34 Abs. 2 StGB richtet sich daher nach den finanziellen Verhältnisse im Zeitpunkt des Berufungsurteils […]. Entscheidend für die Beurteilung der Täterkomponenten sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Berufungsurteils, soweit nicht ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens bildeten […]. Das Berufungsgericht muss - ausser im Anwendungsbereich von Art. 398 Abs. 4 StPO - die für die Strafzumessung erforderlichen persönlichen und finanziellen Verhältnisse daher von Amtes wegen abklären […].  Dies gilt auch dann, wenn die Verfahrensleitung wie vorliegend gestützt auf Art. 406 Abs. 2 StPO die Durchführung eines schriftlichen Berufungsverfahrens anordnete und die Parteien dagegen nicht […]. Angesichts der langen Verfahrensdauer von mehr als 11 Jahren, wobei alleine das zweite Berufungsverfahren rund 5½ Jahre dauerte, hätte sich die Vorinstanz zudem zwingend mit dem in Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 1 StPO verankerten Beschleunigungsgebot und dem Strafmilderungsgrund von Art. 48 lit. e StGB befassen müssen. Die Folgen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots sind meistens die Strafreduktion, manchmal der Verzicht auf Strafe oder, als ultima ratio in Extremfällen, die Einstellung des Verfahrens […]. Weshalb vorliegend eine die Verfahrenseinstellung rechtfertigende, extreme Verletzung des Beschleunigungsgebots vorliegen könnte, zeigt der Beschwerdeführer nicht auf und ist auch nicht ersichtlich. Die Vorinstanz hätte die Verletzung des Beschleunigungsgebots dennoch prüfen und gegebenenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigen müssen.» (E.2.5). 

März 7, 2025 10:29 am

Im Urteil 7B_1092/2024 vom 11. Februar 2025 aus dem Kanton Luzern befasste sich das Bundesgericht mit den Kriterien ob eine amtliche Verteidigung notwendig ist oder ob ein Bagatellfall vorliegt. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ordnet die Verfahrensleitung eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist. Letzteres ist nach Art. 132 Abs. 2 StPO namentlich dann der Fall, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre. Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist (Art. 132 Abs. 3 StPO). Bei der Prüfung von Art. 132 Abs. 3 StPO ist nicht die abstrakte Strafandrohung massgebend, sondern eine konkrete Betrachtungsweise (vgl. BGE 143 I 164 E. 3.3 mit Hinweisen; Urteil 1B_228/2021 vom 16. Juli 2021 E. 3.2). Nach der Rechtsprechung ist zudem nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen, wenn die in dieser Bestimmung genannten Schwellenwerte nicht erreicht sind. Wie Art. 132 Abs. 2 StPO durch die Verwendung des Worts "namentlich" zum Ausdruck bringt, kann die Gewährung der amtlichen Verteidigung sodann auch aus anderen als den im Gesetz genannten Voraussetzungen geboten sein. Ausschlaggebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalls. Je schwerwiegender der Eingriff in die Interessen der betroffenen Person ist, desto geringer sind die Anforderungen an die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten und umgekehrt (BGE 143 I 164 E. 3.6; Urteile 7B_935/2023 vom 28. August 2024 E. 2.1; 1B_228/2021 vom 16. Juli 2021 E. 2; je mit Hinweisen). Droht zwar ein erheblicher, nicht aber ein besonders schwerer Eingriff, müssen zur relativen Schwere des Eingriffs besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die betroffene Person - auf sich allein gestellt - nicht gewachsen wäre. Als besondere Schwierigkeiten, die eine amtliche Vertretung rechtfertigen können, fallen namentlich in der betroffenen Person liegende Gründe in Betracht, insbesondere deren Unfähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Urteile 7B_935/2023 vom 28. August 2024 E. 2.1; 1B_72/2021 vom 9. April 2021 E. 4.1; je mit Hinweisen). Selbst in Bagatellfällen ist eine amtliche Verteidigung nicht ausgeschlossen, ein Anspruch auf amtliche Verteidigung besteht jedoch nur ausnahmsweise. Dies kann zutreffen, wenn der Fall ganz besondere Schwierigkeiten bietet oder eine besondere Tragweite aufweist, zum Beispiel wenn der Entzug einer Berufsausübungsbewilligung oder der elterlichen Sorge droht (vgl. Urteile 1B_94/2023 vom 4. Mai 2023 E. 2.1; 1B_618/2021 vom 15. Februar 2022 E. 3.3; je mit Hinweisen).» (E.2.3).

März 5, 2025 3:24 pm

Im Urteil 6B_382/2024 vom 6. Februar 2025 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht u.a. mit der strafrechtlichen Landesverweisung. Es schützte die Beschwerde gegen die Landesverweisung und fällte einen (seltenen) reformatorischen Entscheid. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Bei der Frage, ob das Non-refoulement-Prinzip oder andere zwingende Bestimmungen des Völkerrechts der Landesverweisung entgegenstehen (Art. 66d Abs. 1 StGB), muss das zu deren Ausfällung angerufene urteilende Gericht prüfen, ob sich die Massnahme als verhältnismässig erweist. Es darf daher nicht einfach die Frage an die Vollzugsbehörde weiterleiten, die zuständig ist, die Ausweisung aufzuschieben. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass nach Art. 66c Abs. 2 StGB vor dem Vollzug der Landesverweisung die unbedingten Strafen oder Strafteile sowie die freiheitsentziehenden Massnahmen vollzogen werden müssen. Ist der zu vollziehende Freiheitsentzug von einer gewissen Dauer, kann somit eine relativ bedeutende Zeit zwischen der Ausfällung der Landesverweisung und ihrem Vollzug verstreichen, während der die Umstände, etwa in Verbindung mit dem Gesundheitszustand des Betroffenen, sich ändern können. Wenn daher der derzeitige Gesundheitszustand des Betroffenen ein Hindernis für seine Ausweisung in sein Ursprungsland darstellen kann, muss das Sachgericht prüfen, ob dieser Zustand stabil ist, und zwar in dem Sinne, dass er sich nach aller Wahrscheinlichkeit nicht bessern wird. In diesem ersten Fall wird es auf die Landesverweisung verzichten, wenn diese im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB und/oder Art. 8 EMRK unverhältnismässig ist. Wenn dagegen das Gericht feststellt, dass das zur Diskussion stehende Gesundheitsproblem behandelbar ist oder medikamentös beherrscht werden kann, wird es schliessen können, dass die Landesverweisung nicht aus diesem Grund unverhältnismässig erscheint. In diesem zweiten Fall stützt das Gericht seinen Entscheid auf konkrete Elemente ab, wie zum Beispiel die Aussicht auf eine Operation, die das aktuelle Gesundheitsproblem genügend beheben kann (zum Ganzen: BGE 145 IV 455 E. 9.4 mit weiteren Hinweisen). Diese im Anwendungsfall auf die medizinische Gesundheit bezogenen Erwägungen beanspruchen allgemeine Gültigkeit (Urteil 6B_1024/2019 vom 29. Januar 2020 E. 1.3.5) und können auf den vorliegenden Fall übertragen werden.» (E.6.3.4).  

März 4, 2025 12:40 pm

Im Urteil 6B_202/2024 vom 17. Februar 2025 aus dem Kanton Solothurn betreffend BetmG-Delikten befasste sich das Bundesgericht mit dem Anklagegrundsatz (u.a. Art. 9 StPO und Art. 325 StPO) bzw. dessen Verletzung. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde teilweise gut, hier die Ausführungen zum Anklagegrundsatz: «Nach dem aus Art. 29 Abs. 2 und 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a und b EMRK abgeleiteten Anklagegrundsatz (Art. 9 und 325 StPO) bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Die Anklage hat darin die der beschuldigten Person vorgeworfenen Taten mit Beschreibung von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung möglichst kurz, aber genau zu bezeichnen (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO). Sodann hat die Anklage gemäss Art. 325 Abs. 1 lit. g StPO die nach Auffassung der Staatsanwaltschaft erfüllten Straftatbestände unter Angabe der anwendbaren Gesetzesbestimmungen anzugeben. Die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte sind somit in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind (vgl. BGE 149 IV 128 E. 1.2; 147 IV 439 E. 7.2). Ob die zeitliche und örtliche Umschreibung ausreicht, ist nicht abstrakt, sondern zusammen mit dem übrigen Inhalt der Anklage zu beurteilen (Urteile 6B_584/2024 vom 27. November 2024 E. 3.1; 6B_62/2024 vom 13. September 2024 E. 3.1; 6B_151/2021 vom 15. Mai 2023 E. 4.2). Die Darstellung des tatsächlichen Vorgangs ist auf den gesetzlichen Tatbestand auszurichten, der nach Auffassung der Anklage als erfüllt zu betrachten ist, d.h. es ist anzugeben, welche einzelnen Vorgänge und Sachverhalte den einzelnen Merkmalen des Straftatbestandes entsprechen. Zu den gesetzlichen Merkmalen der strafbaren Handlung gehören neben den Tatbestandsmerkmalen die Schuldform (sofern vorsätzliches und fahrlässiges Verhalten strafbar ist), die Teilnahmeform (Mittäterschaft, Anstiftung, Gehilfenschaft), die Erscheinungsform (Versuch oder vollendetes Delikt) und allfällige Konkurrenzen (vgl. BGE 120 IV 348 E. 3c; Urteile 6B_584/2024 vom 27. November 2024 E. 3.1; 6B_594/2022 vom 9. August 2023 E. 4.2.2; 6B_1454/2021 vom 26. Mai 2023 E. 2.3.1; je mit Hinweisen). Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion). Unter diesem Gesichtspunkt muss die beschuldigte Person aus der Anklage ersehen können, wessen sie angeklagt ist. Dies bedingt eine zureichende Umschreibung der Tat. Entscheidend ist, dass die betroffene Person genau weiss, welcher konkreter Handlungen sie beschuldigt wird und welchen Straftatbestand sie durch ihr Verhalten erfüllt haben soll, damit sie sich in ihrer Verteidigung richtig vorbereiten kann (BGE 143 IV 63 E. 2.2; 141 IV 132 E. 3.4.1; 133 IV 235 E. 6.2 f.; Urteil 6B_1346/2023 vom 28. Oktober 2024 E. 2.3.1; je mit Hinweisen). Allgemein gilt, je gravierender die Vorwürfe, desto höhere Anforderungen sind an den Anklagegrundsatz zu stellen (Urteile 6B_1346/2023 vom 28. Oktober 2024 E. 2.3.1; 6B_151/2021 vom 15. Mai 2023 E. 4.2; 6B_549/2021 vom 18. Mai 2022 E. 2.4.2; je mit Hinweisen). Solange klar ist, welcher Sachverhalt der beschuldigten Person vorgeworfen wird, kann auch eine fehlerhafte und unpräzise Anklage nicht dazu führen, dass es zu keinem Schuldspruch kommen darf (BGE 149 IV 128 E. 1.2; 145 IV 407 E. 3.3.2). Die nähere Begründung der Anklage erfolgt an Schranken; es ist Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt verbindlich festzustellen und darüber zu befinden, ob der angeklagte Sachverhalt erstellt ist oder nicht (vgl. BGE 149 IV 128 E. 1.2; 145 IV 407 E. 3.3.2; Urteile 6B_1346/2023 vom 28. Oktober 2024 E. 2.3.1; 6B_140/2021 vom 24. Februar 2022 E. 1.4; je mit Hinweisen). Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip), nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (Art. 350 Abs. 1 StPO). Das Anklageprinzip ist verletzt, wenn die angeklagte Person für Taten verurteilt wird, bezüglich welcher die Anklageschrift den inhaltlichen Anforderungen nicht genügt, oder wenn das Gericht mit seinem Schuldspruch über den angeklagten Sachverhalt hinausgeht (Urteile 6B_1239/2021 vom 5. Juni 2023 E. 1.2; 6B_239/2022 vom 22. März 2023 E. 4.2; 6B_424/2021 vom 26. Januar 2023 E. 1.2.2; je mit Hinweisen). Ergibt das gerichtliche Beweisverfahren, dass sich das Tatgeschehen in einzelnen Punkten anders abgespielt hat als im Anklagesachverhalt dargestellt, so hindert der Anklagegrundsatz das Gericht nicht, die beschuldigte Person aufgrund des abgeänderten Sachverhalts zu verurteilen, sofern die Änderungen für die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts nicht ausschlaggebende Punkte betreffen und die beschuldigte Person Gelegenheit hatte, dazu Stellung zu nehmen (Urteile 6B_1239/2021 vom 5. Juni 2023 E. 1.2; 6B_611/2022 vom 23. Oktober 2023 E. 1.2; 6B_1424/2021 vom 5. Oktober 2023 E. 3.3.1; je mit Hinweisen).» (E.2.3).

Februar 28, 2025 12:13 pm

Eine Studie des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) beleuchtet die Hintergründe von Tötungsdelikten mit Schusswaffen im häuslichen Bereich in der Schweiz. Der Bundesrat wurde an seiner Sitzung vom 26. Februar 2025 über die Ergebnisse informiert. Die Untersuchung zeigt, dass es sich bei den Tatpersonen fast ausschliesslich um Männer handelt, mehrheitlich sind es Schweizer im Alter von über 60 Jahren. Besonders gefährdet sind Schweizer Frauen der gleichen Altersgruppe. Zudem zeigt die Studie, dass Informationen zu Legalität und Herkunft der Schusswaffen oft fehlen.