März 18, 2024 4:43 am

Im Urteil 6B_962/2023 vom 26. Februar 2024 aus dem Kanton Bern ging es um die Frage der Ausfällung einer unbedingten Freiheitsstrafe und den Widderruf des Vollzugs der Freiheitsstrafe, also um äusserst praxisrelevantes Thema. Das Bundesgericht erklärt u.a. bezüglich der Prognosekriterien Folgendes: «Bei der Prüfung des künftigen Wohlverhaltens bzw. der Bewährungsaussichten sind alle wesentlichen Umstände zu beachten. Zu berücksichtigen sind neben den Tatumständen namentlich das Vorleben und der Leumund sowie alle weiteren Tatsachen, die gültige Schlüsse auf den Charakter des Täters und die Aussichten seiner Bewährung zulassen. Ein relevantes Prognosekriterium ist insbesondere die strafrechtliche Vorbelastung, die Sozialisationsbiografie, das Arbeitsverhalten oder das Bestehen sozialer Bindungen. Dabei sind die persönlichen Verhältnisse bis zum Zeitpunkt des Entscheids miteinzubeziehen. Es ist unzulässig, einzelnen Umständen eine vorrangige Bedeutung beizumessen und andere zu vernachlässigen oder überhaupt ausser Acht zu lassen.» (E.2.3.4). Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, weil die Vorinstanz nicht alle Umstände für die Würdigung der Legalprognose geprüft hat.

März 16, 2024 12:12 pm

Im Urteil 7B_293/2022 vom 26. Januar 2024 aus dem Kanton Thurgau ging es für die Entschädigung aus der Staatskasse für Wahlverteidigung während dem Vorverfahren, welche der Anwalt beim Bezirksgericht verlangt und beziffert hatte, nicht aber in der Berufungserklärung und an der Berufungsverhandlung vor dem Obergericht des Kantons Thurgau. Das Bundesgericht weist die Beschwerde mit der folgenden Begründung ab: ««In seinen Berufungsanträgen (Beschwerdebeilage 6, Ziff. 5) hat sich der Beschwerdeführer hinsichtlich des Kostenpunkts auf die pauschale Formel "Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolge nebst 7.7 % MwSt zu Lasten des Staates" beschränkt. Gleichzeitig hat er die amtliche Verteidigung auch für das Berufungsverfahren beantragt. Dass der Beschwerdeführer auch für die Wahlverteidigungsphase eine Entschädigung geltend machen will, ergibt sich aus den Berufungsanträgen nicht explizit. Auch in seiner Berufungsbegründung erwähnt er seinen Aufwand für die Wahlverteidigungsphase mit keinem Wort (Plädoyernotizen vom 8. Juni 2022, Beschwerdebeilage 6).» (E.2.4.2).

März 15, 2024 6:15 am

Im Urteil 7B_155/2024 vom 5. März 2024 aus dem Kanton Zürich äusserte sich das Bundesgericht, soweit ersichtlich, erstmals zum neuen Haftgrund von Art. 221 Abs. 1bis StPO (zur amtl. Publ. vorgesehen). Ohne auf die intertemporale Regelung im Detail einzugehen, prüfte das Bundesgericht in diesem Leiturteil den Haftgrund der «qualifizierten Wiederholungsgefahr» nach altem und neuem Recht. Hier ist eine der Schlüsselerwägungen: «Art. 221 Abs. 1bis lit. a StPO setzt zunächst eine untersuchte qualifizierte Anlasstat voraus, nämlich den dringenden Verdacht, dass die beschuldigte Person durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt hat. Diese gesetzliche Voraussetzung ist im vorliegenden Fall unbestritten. Eine einschlägige Vortat ist im Falle der qualifizierten Wiederholungsgefahr nicht erforderlich […].  Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO verlangt sodann als Prognoseelement die ernsthafte und unmittelbare Gefahr, dass die beschuldigte Person ein gleichartiges "schweres Verbrechen" verüben werde. Zwar wurde in der bisherigen Bundesgerichtspraxis nicht wörtlich vom Erfordernis einer "ernsthaften und unmittelbaren" Gefahr (von neuen Schwerverbrechen) gesprochen. Es bestand aber in diesem Sinne schon altrechtlich eine restriktive Haftpraxis, indem das Bundesgericht ausdrücklich betonte, qualifizierte Wiederholungsgefahr komme nur in Frage, wenn das Risiko von neuen Schwerverbrechen als "untragbar hoch" erschiene (BGE 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 13 E. 3 f.). Bei der konkreten Prognosestellung wird im Übrigen weiterhin dem Umstand Rechnung zu tragen sein, dass bei qualifizierter Wiederholungsgefahr Schwerverbrechen drohen. Bei einfacher und qualifizierter Wiederholungsgefahr geht die Bundesgerichtspraxis von einer sogenannten "umgekehrten Proportionalität" aus zwischen Deliktsschwere und Eintretenswahrscheinlichkeit (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.8-2.10; […]). Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass bei ernsthaft drohenden schweren Gewaltverbrechen auch nach neuem Recht keine sehr hohe Eintretenswahrscheinlichkeit verlangt werden kann. Die richterliche Prognosebeurteilung stützt sich dabei auf die konkreten Umstände des Einzelfalles (BGE 146 IV 136 E. 2.2-2.5; 143 IV 9 E. 2.6-2.7; […]» (E.3.6.2).

März 14, 2024 12:02 pm

Das Bundesgericht weist im Urteil 7B_209/2022, 7B_210/2022 vom 9. Februar 2024 die Beschwerden von zwei Vorstandsmitgliedern des Vereins "Islamischer Zentralrat Schweiz" (IZRS) gegen ihre Verurteilung durch das Bundesstrafgericht ab. Es bestätigt die Schuldsprüche wegen Widerhandlung gegen das Al-Qaïda/IS-Gesetz durch Werbung für zwei Propaganda-Videos. Wir schauen uns hier insbesondere die Ausführungen zum Legalitätsprinzip sowie die vom Bundesgericht abgewiesenen Rügen zur Meinungsäusserungs- und Medienfreiheit an. Das Bundesgericht betonte in diesem Urteil in allgemeiner Art und Weise auch die grosse Bedeutung der Meinungsäusserungsfreiheit: «Gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) stellt die Meinungsäusserungsfreiheit das Fundament einer demokratischen Gesellschaft dar. Unter diese Freiheit fallen unter Vorbehalt von Art. 10 Ziff. 2 EMRK nicht nur unumstrittene Informationen oder Ideen, sondern - im Einklang mit den Erfordernissen von Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gibt - auch Aussagen, die verletzen, schockieren und beunruhigen (Urteile des EGMR Rouillan gegen Frankreich vom 23. Juni 2022, Nr. 28000/19, § 63; Z.B. gegen Frankreich vom 2. September 2021, Nr. 46883/15, § 52; Perinçek gegen Schweiz vom 15. Oktober 2015, Nr. 27510/08, § 196; je mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat in diesem Sinne bereits festgehalten, dass es in einer Demokratie von zentraler Bedeutung ist, auch Standpunkte vertreten zu können, die einer Mehrheit missfallen oder für viele schockierend wirken (BGE 148 IV 113 E. 3; 143 IV 193 E. 1; 131 IV E. 3.1; je mit Hinweisen).» (E.7.3.1).

März 13, 2024 12:06 pm

Ein Arzt hat mit der Abgabe von Natriumpentobarbital an eine sterbewillige urteilsfähige gesunde 86-jährige Frau nicht gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen. Das Bundesgericht weist mit Urteil 6B_393/2023 vom 13. März 2024 in öffentlicher Beratung die Beschwerde der Genfer Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch des Arztes durch das Genfer Kantonsgericht ab. Bereits 2021 hat das Bundesgericht entschieden, dass kein Verstoss gegen das Heilmittelgesetz vorliegt. Sobald das schriftliche, begründete Urteil vorliegt erfolgt hier ein Update.

März 12, 2024 12:26 pm

Das Bundesstrafgericht und das Bundesgericht haben heute ihre Jahresberichte 2023 veröffentlicht. Schauen wir uns hier die wichtigsten Informationen an. Das Bundesstrafgericht verzeichnete im Jahr 2023 weiterhin eine hohe Arbeitsbelastung bei einer insgesamt leichten Zunahme der Verfahrenseingänge. Die Fertigstellung des Gebäudes «Pretorio», das von der Berufungskammer genutzt werden wird, ist für Herbst 2026 vorgesehen. Die Einrichtung einer zweiten strafrechtlichen Abteilung bei Bundesgericht führte zu Platzknappheit am Hauptsitz Mon-Repos in Lausanne. Deshalb musste ein zusätzliches Gebäude im nahegelegenen Quartier Béthusy gemietet werden.

März 12, 2024 11:57 am

Im Urteil 6B_228/2023 vom 8. Februar 2024 aus dem Kanton Solothurn geht es um die strafrechtliche Landesverweisung. Einerseits betont das Bundesgericht die Bedeutung von Kindern beim Entscheid ob ein Härtefall vorliegt, u.a. wie folgt: «Sind Kinder involviert, ist bei der Interessenabwägung als wesentliches Element zudem den Kindesinteressen und dem Kindeswohl Rechnung zu tragen […]. In Bezug auf die Kinder des von der Landesverweisung betroffenen Elternteils berücksichtigt die Rechtsprechung insbesondere, ob die Eltern des Kindes zusammenleben und ein gemeinsames Sorge- und Obhutsrecht haben oder, ob der von der Landesverweisung betroffene Elternteil das alleinige Sorge- und Obhutsrecht hat bzw. ob er gar nicht sorge- und obhutsberechtigt ist und seine Kontakte zum Kind daher nur im Rahmen eines Besuchsrechts pflegt […].» (E.2.4.2). In diesem Fall war das nicht zentral, mangels gelebter intensiver Beziehung. Andererseits betonte das Bundesgericht die «rigorose» Praxis hinsichtlich Ausweisung bei Betäubungsmitteldelikten: «Das Bundesgericht hat sich bei Straftaten von Ausländern gegen das Betäubungsmittelgesetz hinsichtlich der Ausweisung zwecks Verhinderung neuer Straftaten zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit stets rigoros gezeigt […]. Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz betrifft das vom Beschwerdeführer begangene Betäubungsmitteldelikt mit 330 Gramm reinem Kokain eine Menge, welche die Schwelle zum schweren Fall um ein Mehrfaches übersteigt. Es besteht ein hohes öffentliches Interesse an der Verhinderung von derartigen Taten.» (E.2.6.2). Das Bundesgericht bestätigte die Landesverweisung.

März 12, 2024 10:40 am

Heute  hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern an einer Medienkonferenz ihre Jahresstatistik aus dem Jahr 2023 vorgestellt. Auffallend dabei ist der erneute Anstieg der Fallzahlen. Mit knapp 54‘500 Falleingängen (+6%) hat man einen neuen Höchstwert erreicht. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern konnte dennoch einen Erledigungsquotienten von 95% halten. Im Zentrum der Medienkonferenz standen zwei Fokusthemen: Eine detaillierte Betrachtung der Tötungsdelikte der letzten Jahre zeigt auf, wie viele Gewaltdelikte dieser Art im Kanton begangen wurden und welche Besonderheiten sie aufweisen. In einem zweiten Themenschwerpunkt wird festgestellt, dass die Fallzahlen des Führens eines Motorfahrzeuges in fahrunfähigem Zustand in den letzten Jahren konstant angestiegen sind.

März 11, 2024 2:23 pm

Im Urteil 7B_254/2022 vom 8. Februar 2024 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht u.a. mit einem Geständnis betreffend «Scheinehe» ohne genügende Rechtsmittelbelehrung. Das Bundesgericht äusserte sich in diesem Urteil sehr ausführlich zu den verschiedenen Varianten der Einvernahme von Personen im Strafverfahren (E.2.5.1 ff.). Das Bundesgericht betonte dabei u.a.: «Strafverfahren können gemäss Art. 2 Abs. 2 StPO nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden [Grundsatz der Formstrenge]. […] Ziel des Grundsatzes der Formstrenge ist es, die Justizförmigkeit des Strafverfahrens zu gewährleisten. Die schützende Förmlichkeit des Strafprozessrechts kommt namentlich bei der Beurteilung von Beweisverwertungsverboten bei fehlerhafter Beweisgewinnung und/oder -erhebung zum Tragen.» (E.2.5.4). Einvernahmen ohne die rechtlich notwendigen Hinweise [Rolle im Verfahren, Rechte im Verfahren] sind nicht verwertbar, betont das Bundesgericht (E.2.7.1). Im vorliegenden Fall war das abgelegte Geständnis nicht verwertbar, da der Beschwerdeführer nicht als Beschuldigter einvernommen und über seine Rechte aufgeklärt wurde (E.2.7.2).

März 8, 2024 5:22 am

Im Urteil 6B_764/2023 vom 19. Februar 2024 aus dem Kanton Zürich ging es um die Parteientschädigung der Eltern des Opfers vor dem Bezirksgericht Pfäffikon und dem Obergericht des Kantons Zürich. Das Bundesgericht schützt die Beschwerde in dem Punkt, dass der Anwalt der Eltern des Opfers es versäumte, seine Honorarforderungen zu belegen. «Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass eine pauschale Bezifferung der Parteientschädigung, die weder nachvollziehbar noch überprüfbar ist, nicht ausreicht. Selbst die Vorinstanz hält ausdrücklich fest, der behauptete Aufwand sei unbelegt. Deshalb hätte sie auf den Antrag überhaupt nicht eintreten dürfen. Indem der Rechtsanwalt die beantragte Parteientschädigung bis zuletzt nicht belegte, hat er den Anspruch der Eltern verwirkt. Denn er hatte im Verlauf des Verfahrens immer wieder die Möglichkeit, die beantragte Prozessentschädigung zu beziffern und zu belegen […]. Die Vorinstanz erfüllte ihre Frage- und Fürsorgepflicht, indem sie den Rechtsanwalt zuletzt an der Berufungsverhandlung zur Bezifferung und Belegung aufforderte.» (E.3.3.1).