Urteile
Januar 10, 2023 1:08 pm

Die Staatsanwaltschaft verfügt gemäss dem Urteil des Bundesgerichts 1B_614/2022, 1B_628/2022 vom 10. Januar 2023 über kein Beschwerderecht gegen Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte über die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft gegen Beschuldigte. Das Bundesgericht passt seine Praxis per sofort an die beschlossene, aber noch nicht in Kraft getretene Revision der Schweizerischen Strafprozessordnung StPO an. Dabei ändert das Bundesgericht seine Praxis aus dem BGE 137 IV 22 wie folgt: "Nach dem Gesagten erweisen sich die Beschwerden insofern als begründet, als keine gesetzliche Grundlage für die Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft gegen die Haftentlassung des Beschwerdeführers vorliegt und die Vorinstanz auf die Beschwerden nicht hätte eintreten dürfen. Die Beschwerden 1B_614/2022 und 1B_628/2022 sind daher teilweise gutzuheissen und die angefochtenen Entscheide aufzuheben." (E.3) [Neue Fassung des Artikels vom 8. Februar 2023, nach Vorliegen des begründeten schriftlichen Urteils.]

Januar 9, 2023 6:36 am

Im Urteil 1B_254/2022, 1B_260/2022, 1B_261/2022, 1B_262/2022, 1B_263/2022, 1B_265/2022, 1B_266/2022, 1B_267/2022, 1B_272/2022, 1B_279/2022 vom 14. Dezember 2022, die Verfahren wurden vor dem Bundesgericht vereinigt, befasste sich das Bundesgericht u.a. mit Ausstandsbegehren gegen Gerichtspersonen, namentlich des Strafgerichtspräsidenten Lucius Hagemann. Das Bundesgericht hiess die Beschwerden, soweit es darauf eintrat gut, hob den Entscheid der Vorinstanz auf und wies die Sache zur vollständigen Feststellung des Sachverhalts zurück. Auf Seiten der Anwälte, wir meinen hier natürlich mehrheitlich Advokaten, fällt mit Dr. Andreas Noll, Alain Joset und Dr. Christian von Wartburg die hohe Quote von Fachanwälten SAV Strafrecht auf.

Januar 4, 2023 1:15 pm

Im Urteil 6B_324/2022 vom 16. Dezember 2022, einer Laienbeschwerde an das Bundesgericht, ging es einerseits um das Thema Rückzugsfiktion bezüglich der Einsprache gegen einen Strafbefehl durch Desinteresse am Verfahren, stipuliert durch das Nichterscheinen an der Hauptverhandlung. Andererseits stand die Rechtmässigkeit der Maskentragepflicht während den Covid-19-Massnahmen und die Möglichkeit des Dispenses davon vor der Berner Gerichten zur Diskussion. Aufgrund einer bei Laienbeschwerden «üblichen wohlwollenden Betrachtungsweise» des Bundesgerichts trat es zu weiten Teilen auf die Laienbeschwerde ein. Als Zugabe präsentierte das Bundesgericht nebenbei noch zwei andere «gerichtsnotorische» Fälle aus dem Kanton Bern.

Dezember 30, 2022 5:15 pm

Im Urteil 6B_310/2022, 6B_311/2022 vom 8. Dezember 2022 befasste sich das Bundesgericht mit einer gewalttätigen Auseinandersetzung in der Raucherlounge eines Zürcher Clubs. Dabei fand ein Messerangriff statt. Es stellte sich auch das Thema der Notwehr. In diesem Urteil gab das Bundesgericht einen schönen, allgemeinen Überblick über die Notwehr (Art. 15 und Art. 16 StGB) und deren Grenzen (E.5.3). Den Fall wies es zu näheren Sachverhaltsabklärungen an das Obergericht Zürich zurück.

Dezember 30, 2022 5:24 am

Im Urteil 6B_1399/2021 vom 7. Dezember 2022 stellte das Bundesgericht eine Verletzung des Beschleunigungsgebots durch das Obergericht Zürich fest. Die Berufungsverhandlung fand am 15. Januar 2021 statt. Das schriftlich begründete Berufungsurteil datiert vom 27. Oktober 2021. Damit hat das Obergericht Zürich gemäss dem Bundesgericht die von Art. 84 Abs. 4 StPO, welche als Ordnungsvorschrift angesehen wird, vorgesehene Frist klar überschritten. Aus dieser Überschreitung kann jedoch nicht automatisch auf eine Verletzung des Beschleunigungsgebots gefolgert werden. In der Vergangenheit hat das Bundesgericht dies etwa bejaht, wenn für die Urteilsbegründung ohne Vorliegen besonderer Umstände 13, zwölf, elf, acht oder mehr als sechs Monate benötigt Mit Blick auf diese Rechtsprechung und den durch das Obergericht Zürich zu beurteilenden Fragen ging das Bundesgericht hier von einer Verletzung des Beschleunigungsgebots aus (E.4.3).

Dezember 29, 2022 9:12 am

Das Bundesgericht befasste sich im Urteil 1B_282/2022 vom 29. November 2022 mit einem verspäteten Verlängerungsantrag der Staatsanwaltschaft bezüglich geheimer Überwachungsmassnehmen. Es entschied, dass Informationen, welche im Zeitraum zwischen dem Ende der bewilligten Überwachungsdauer und dem Eingang des Antrags auf Verlängerung (vgl. Art. 274 Abs. 5 StPO) erhoben wurden, als absolut unverwertbar zu betrachten sind.

Dezember 28, 2022 6:28 am

Im lesenswerten Urteil 6B_986/2022 vom 24. November 2022 befasste sich das Bundesgericht in einem Fall von versuchtem Raub und anderen Delikten, ausführlich mit der Dokumentationspflicht der Strafbehörden. Das Bundesgericht bemerkt u.a.: «Dem Recht auf Akteneinsicht steht im Strafverfahren als elementarer Grundsatz die Aktenführungs- und Dokumentationspflicht der Behörden gegenüber. Diese sind verpflichtet, alle verfahrensrelevanten Vorgänge schriftlich festzuhalten und die Akten vollständig und korrekt anzulegen und zu führen. In der Strafprozessordnung werden die Grundsätze zur Aktenführungs- und Dokumentationspflicht in Art. 100 StPO konkretisiert.» (E.2.1). Im weiteren ging es um das Thema welche Dokumente bei der Dokumentierung von Observationen relevant sind (E.2.2).

Dezember 27, 2022 6:58 am

Im Urteil 6B_171/2022 vom 29. November 2022, welches einen tragischen Verkehrsunfall mit Todesfolge in Bülach zum Gegenstand hat, hatte das Bundesgericht die Gelegenheit, sich zum Anklagegrundsatz zu äussern. Der Anklagegrundsatz ist verletzt, wenn die beschuldigte Person für Taten verurteilt wird, bezüglich welcher die Anklageschrift den inhaltlichen Anforderungen nicht genügt, bzw. wenn das Gericht mit seinem Schuldspruch über den angeklagten Sachverhalt hinausgeht (E.2.3). Das Bundesgericht kommt nach fundierten Erwägungen zum Schluss, dass Art. 333 Abs. 1 StPO  nicht über seinen klaren Wortlaut hinaus anzuwenden sei, wenn die Anklage innerhalb des angeklagten Straftatbestandes geändert werden soll, weil etwa wie im vorliegenden Fall in der Anklageschrift nicht alle tatsächlichen Umstände aufgeführt sind, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des vorgeworfenen Verhaltens (möglicherweise) ergeben könnte. Die Unterlassung der Staatsanwaltschaft, in der Anklageschrift alle (relevanten) tatsächlichen Feststellungen darzulegen, kann somit nicht zur Verpflichtung des Gerichts führen, dieser Gelegenheit zur Anklageänderung zu geben (E.3.4.5).

Dezember 26, 2022 10:14 am

Im Urteil 6B_731/2021, 6B_737/2021 vom 24. November 2022 hatte das Bundesgericht einzelne Schweizer Handlungsstränge eines grossen Betrugsfalls der 1990er Jahre aus Deutschland zu beurteilen. Im Zentrum stand die Frage, ob das Formular A weiterhin als Urkunde angesehen werden soll. Nach eingehender Auseinandersetzung mit der bisherigen Praxis und diversen, auch kritischen, Stimmen aus der Lehre, hält das Bundesgericht ausdrücklich weiterhin an der Urkundenqualifikation des Formulars A fest (E.6.3.3. ff.).

Dezember 22, 2022 2:19 pm

Das Bundesgericht heisst mit Urteil 1C_39/2021 vom 29. November 2022 eine Beschwerde im Zusammenhang mit Änderungen des Solothurner Gesetzes über die Kantonspolizei teilweise gut. Es hebt unter anderem eine Bestimmung zur automatisierten Fahrzeugfahndung auf, die den Datenabgleich mit sämtlichen Personen- und Sachfahndungsregistern ermöglicht hätte. Überdies darf die automatisierte Fahrzeugfahndung nicht angeordnet werden, solange keine ergänzenden Regelungen zu verschiedenen Aspekten des Datenschutzes in Kraft sind. Dieses Urteil enthält darüber hinaus und vor allem diverse allgemeingültige Ausführungen zu Fahndungsmethoden und Datenschutz und zitiert auch ausgiebig aus der bisherigen Praxis zu anderen kantonalen Polizeigesetzen, wie u.a. dem Kanton Zürich.