Sachverhalt/Instanzenzug
Mit Strafbefehl vom 15. Februar 2022 wurde die Beschwerdeführerin wegen Fahrens ohne Berechtigung verurteilt. Auf Einsprache hin überwies die Staatsanwaltschaft See/Oberland die Akten am 7. Juni 2022 an das Bezirksgericht Hinwil, welches die Verurteilung am 5. Juli 2022 bestätigte. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Berufung. Am 15. Dezember 2022 schrieb das Obergericht des Kantons Zürich das bei ihm hängige Verfahren unter Kostenauflage als durch Rückzug der Berufung erledigt ab und erklärte das Urteil des Bezirksgerichts Hinwil für rechtskräftig.
Die Beschwerdeführerin wendet sich mit Beschwerdeeingabe vom 2. Februar 2023 an das Bundesgericht und verlangt die Aufhebung des Abschreibungsbeschlusses und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz. Dass wegen ihrer angeblich mangelnden Mitwirkung an der Verhandlung von einem Desinteresse an der Weiterführung des Berufungsverfahrens ausgegangen, das Verfahren abgebrochen und ein Rückzug der Berufung angenommen worden sei, verletze Bundesrecht. Sie habe „nichts zurückgezogen“.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_193/2023 vom 16. August 2023
Das Bundesgericht äussert sich zunächst im Urteil 6B_193/2023 vom 16. August 2023 zum Rückzug bzw. zur Rückzugsfiktion in allgemeiner Art und Weise wie folgt:
«Wer ein Rechtsmittel ergriffen hat, kann dieses zurückziehen (Art. 386 Abs. 2 StPO). Nach der Rechtsprechung muss der Rückzug klar, ausdrücklich und unbedingt erfolgen (BGE 141 IV 269 E. 2.1; 119 V 36 E. 1b mit Hinweis; s.a. Urteil 6B_372/2013 vom 23. August 2013 E. 2.2). Voraussetzung für einen gültigen Rechtsmittelrückzug muss folglich sein, dass der Wille hierzu eindeutig und zweifelsfrei zum Ausdruck kommt. Gestützt auf eine solche Rückzugs- bzw. Abstandserklärung erklärt die zuständige Behörde das Verfahren für erledigt, d.h. sie schreibt es (vom Protokoll) ab. Der Rückzug des Rechtsmittels ist (unter Vorbehalt von Willensmängeln gemäss Art. 386 Abs. 3 StPO) endgültig: er beseitigt die Anfechtungswirkung des zurückgenommenen Rechtsmittels und führt zum Verzicht auf die materielle Überprüfung des Rechtsbegehrens mit der Folge, dass der Gegenstand des Rechtsmittels bildende Entscheid rechtskräftig wird. Nach dem Rückzug des Rechtsmittels und der Abschreibung des Verfahrens verhält es sich daher so, als wäre das Rechtsmittel nie erhoben worden (vgl. BGE 141 IV 269 E. 2.2.3). Die Berufung gilt gemäss Art. 407 Abs. 1 StPO sodann auch als zurückgezogen (Rückzugsfiktion), wenn die Berufungsklägerin (lit. a) der mündlichen Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt und sich auch nicht vertreten lässt; sie (lit. b) keine schriftliche Eingabe einreicht oder (lit. c) nicht vorgeladen werden kann.» (E.2)
Danach äussert sich das Bundesgericht im Urteil 6B_193/2023 vom 16. August 2023 zum Fall, wo es offenbar um «Obstruktion» durch das Verhalten des Berufungsklägers in der Berufungsverhandlung ging:
«Die Beschwerdeführerin hat gegen das Urteil des Bezirksgerichts Hinwil fristgerecht Berufung eingelegt und ist zur Berufungsverhandlung vor Vorinstanz erschienen. Damit geht es vorliegend offenkundig nicht um Säumnisse gemäss Art. 407 Abs. 1 StPO, gestützt auf welche eine eingelegte Berufung als zurückgezogen gilt. Ebenso wenig geht es vorliegend um einen Fall eines klaren, ausdrücklichen und unbedingten Rückzugs im Sinne von Art. 386 Abs. 2 StPO, den die Beschwerdeführerin in Bezug auf ihre Berufung gegenüber der Vorinstanz erklärt haben soll. Vielmehr geht es darum, dass die Vorinstanz aufgrund einer mangelnden Mitwirkung an der Berufungsverhandlung von einem Desinteresse an der Weiterführung des Verfahrens ausgegangen, die Berufungsverhandlung nach mehrmaligem Hinweis auf die Konsequenzen der „Obstruktion“ abgebrochen und einen Rechtsmittelrückzug angenommen hat. Die Vorinstanz stellt im angefochtenen Beschluss insofern fest, die Beschwerdeführerin habe anlässlich der Berufungsverhandlung geltend gemacht, die Fragen der Richterschaft aufgrund einer Gesundheitsbeeinträchtigung (Allergie, geschwollene Schleimhäute, Ohren) nicht zu verstehen. Die Verhandlung sei daher in einem kleineren Gerichtssaal fortgeführt und ihr gestattet worden, sich vor die Richterbank zu setzen. Ungeachtet dessen habe sie weiterhin vorgebracht, die Richter aus akkustischen Gründen nicht zu verstehen. Aufgefallen sei dabei, dass sie Fragen selektiv verstanden habe oder eben auch nicht. Angesichts dessen stehe fest, dass nicht eine mangelhafte Hörleistung, sondern Obstruktion der eigentliche Grund für die Mitwirkungsverweigerung gewesen sei. Die Beschwerdeführerin könne nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und sich zugleich selektiv der Mitwirkung entziehen. Dass sie die Fragen nicht verstanden habe, sei unglaubhaft. Ihr Verhalten verdiene keinen Rechtsschutz. Die Berufungsverhandlung sei daher mangels Mitwirkung abzubrechen und ein Rückzug der Berufung anzunehmen.» (E.3)
«Dass die Vorinstanz das festgestellte selektive Hörvermögen weder auf gesundheitliche noch akkustische Gründe zurückgeführt und das geltend gemachte Nichtverstehen bzw. Nichtverstehenkönnen als unglaubhaft gewürdigt hat, vermag die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht mit den bloss pauschalen Hinweisen auf ihren angeblich beeinträchtigten Gesundheitszustand bzw. das „Genuschel“ der Richter nicht als willkürlich zu widerlegen; ebenso wenig mit der Behauptung, mit Wollen habe das nichts zu tun, sie habe einfach schlecht gehört. Die Rügen betreffend die vorinstanzlichen Feststellungen gehen damit nicht über eine rein appellatorische und damit unzulässige Kritik am angefochtenen Beschluss hinaus, auf die nicht eingetreten werden kann. Die Beschwerdeführerin verkennt, dass sich Willkür (und andere Verfassungsverletzungen) nicht mit blossen Behauptungen begründen lassen.» (E.4).
«Hingegen ist die Kritik der Beschwerdeführerin berechtigt, soweit sie rügt, die Vorinstanz habe das Verfahren unzulässigerweise wegen mangelnder Mitwirkung abgebrochen und zu Unrecht auf einen Rückzug der Berufung geschlossen. In der Tat kann die Vorinstanz ihr Vorgehen nicht auf eine gesetzliche Grundlage in der StPO stützen; sie nennt im angefochtenen Beschluss bezeichnenderweise denn auch keine solche. Art. 386 Abs. 2 StPO kommt hier nicht in Frage. Offenkundig will die Vorinstanz mit ihrem Beschluss an die Rechtsprechung im Zusammenhang mit den gesetzlichen Rückzugsfiktionen nach Art. 407 Abs. 1 StPO anknüpfen, wonach die Berufungsklägerin nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und im Rahmen ihrer prozessualen Obliegenheiten gleichzeitig die Mitwirkung daran verweigern kann (vgl. BGE 148 IV 362 E.1; s.a. später ergangenes Urteil 6B_1433/2022 vom 17. April 2023 E. 2, zur Publikation vorgesehen; für die gesetzliche Rückzugsfiktion in Bezug auf Art. 355 Abs. 2 StPO siehe Urteil 6B_600/2022 vom 17. August 2022 mit zahlreichen Hinweisen). Um einen solchen Fall geht es hier aber, wie bereits ausgeführt, augenscheinlich nicht. Die Beschwerdeführerin konnte vorgeladen werden und ist zur Berufungsverhandlung erschienen; damit hat sie der Vorladung gemäss Art. 205 Abs. 1 StPO Folge geleistet und ist ihrer Verpflichtung, persönlich zu erscheinen, nachgekommen (vgl. vorstehend E. 3).» (E.5)
Die Vorinstanz wirft der Beschwerdeführerin vor, so das Bundesgericht, anlässlich der Verhandlung bei der Befragung durch die Richterschaft nur selektiv mitgewirkt zu haben („Fragen selektiv verstanden zu haben oder eben dann auch nicht“), und schliesst aus diesem als „ambivalent“ beurteilten Verhalten auf ein Desinteresse am weiteren Verfahrensgang und einen (konkludenten) Rückzug der Berufung, weswegen sie das Verfahren abgebrochen hat. Dies greift offensichtlich zu kurz. (E.6).
Dazu äussert sich dann das Bundesgericht wie folgt:
«Zwar muss die Partei, die mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden ist und Berufung einlegt, ihren Standpunkt im Berufungsverfahren darlegen und sich vom Berufungsgericht dazu auch befragen lassen (vgl. BGE 148 IV 362 E. 1.10.3; s.a. Urteil 6B_1433/2022 vom 17. April 2023 E. 2.4.1, zur Publikation vorgesehen). Andererseits hat die beschuldigte Person gestützt auf Art. 113 Abs. 1 StPO das Recht, die Aussage und ihre Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern. Mit anderen Worten steht es ihr (grundsätzlich unter Vorbehalt einer Pflicht zur Angabe der Personalien) frei, ob und wie sie sich äussern will, ob sie zu einzelnen Fragen Stellung beziehen oder ob sie auf jegliche Aussage verzichten und folglich schweigen will (vgl. NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Auflage, Bern 2020, S. 131 Rz. 397 und 284 RZ. 908; VIKTOR LIEBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Andreas Donatsch et al. [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 14 ff. und N. 19 ff. zu Art. 113 StPO; GUNHILD GODENZI, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Andreas Donatsch et al. [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 22 zu Art. 143 StPO). Das Aussageverweigerungsrecht gewährleistet damit (nur) das Recht, ganz oder teilweise zu schweigen, ohne dass dies zu Sanktionen führt. Es schützt aber nicht davor, dass das Aussageverhalten im Rahmen der Beweiswürdigung mitberücksichtigt wird (vgl. OBERHOLZER, a.a.O., S. 285 Rz. 912 mit Hinweis auf Rechtsprechung; siehe auch LIEBER, a.a.O., N. 28 und 54 zu Art. 113 StPO). Ungeachtet der Mitwirkung (vor allem in Form von Aussagen) der beschuldigten Person ist das Verfahren alsdann fortzuführen (Art. 113 Abs. 2 StPO), wobei es ausschliesslich in den vom Gesetz, also der StPO, vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden kann (vgl. Art. 2 Abs. 2 StPO).» (E.7)
«Ausgehend davon, dass die Beschwerdeführerin an der Berufungsverhandlung auf der Grundlage von Art. 113 Abs. 1 StPO jegliche Aussage und Kooperation hätte verweigern dürfen, kann ihr Verhalten entgegen der Vorinstanz nicht zum Anlass genommen werden, die Verhandlung wegen mangelnder Mitwirkung („Obstruktion“) und angenommenem Desinteresse kurzerhand abzubrechen und das Verfahren zufolge Rechtsmittelrückzugs als erledigt abzuschreiben. Daran ändert auch nichts, dass die Beschwerdeführerin, wie die Vorinstanz feststellt, von ihrem Aussageverweigerungsrecht keinen Gebrauch hat machen wollen und sie auch nicht geltend gemacht habe, verhandlungsunfähig zu sein. Das Verfahren hätte richtigerweise nach den Vorgaben der StPO durchgeführt und erledigt werden müssen, wobei das Verhalten der Beschwerdeführerin (wohl als sinngemässe Aussageverweigerung) im Lichte der anderen Beweismittel zu würdigen gewesen wäre. Das Vorgehen der Vorinstanz verletzt Bundesrecht, namentlich Art. 113 StPO und Art. 2 StPO, und läuft auf eine Rechtsverweigerung hinaus. Die Sache ist folglich an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie einen neuen, den Vorgaben der StPO entsprechenden Entscheid fällt.» (E.8)