Sachverhalt
Dem A. wird gemäss Anklageschrift vom 16. April 2020 u.a. vorgeworfen, am 20. März 2019 an B. in Aarau eine unbekannte Menge Heroingemisch übergeben und an C. im Mai 2018 in Aarau fünfmal Sevre-Long (ein Medikament zur Substitutionsbehandlung einer Opioidabhängigkeit) verkauft zu haben. Zudem wird ihm der unbefugte Besitz von Betäubungsmitteln zur Last gelegt, nachdem anlässlich einer Hausdurchsuchung vom 20. März 2019 diverse unter das Betäubungsmittelgesetz fallende Stoffe und Präparate sichergestellt worden waren, welche zum Verkauf an Dritte bestimmt gewesen seien. Daneben werden A. mehrfache Übertretungen des Betäubungsmittelgesetzes, der Besitz eines Nunchaku (japanische Schlagwaffe) sowie mehrere geringfügige Ladendiebstähle vorgeworfen.
Instanzenzug
Das Bezirksgericht Aarau sprach A. mit Urteil vom 26. August 2020 der mehrfachen Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Abs. 1 lit. c und lit. d BetmG), der mehrfachen Übertretungen des Betäubungsmittelgesetzes (Art. 19a Ziff. 1 BetmG, teilweise i.V.m. Art. 19 Abs. 1 lit. d BetmG), des Vergehens gegen das Bundesgesetz vom 20. Juni 1997 über Waffen, Waffenzubehör und Munition (Waffengesetz, WG; SR 514.54; Art. 33 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 4 Abs. 1 lit d, Art. 5 Abs. 2 lit. b und Abs. 6, Art. 8 und Art. 12 WG) sowie des mehrfachen geringfügigen Diebstahls (Art. 139 Ziff. 1 i.V.m. Art. 172ter Abs. 1 StGB) schuldig. Es widerrief den mit Urteil des Bezirksgerichts Aarau vom 18. Mai 2016 für eine ausgesprochene Freiheitsstrafe von 2 Jahren im Umfang von 18 Monaten gewährten bedingten Vollzug und bestrafte A. mit einer unbedingt ausgefällten Gesamtfreiheitsstrafe von 22 Monaten, unter Anrechnung von drei Tagen Haft, sowie mit einer Busse von Fr. 1000.–, bzw. 10 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung. Mit Berufung beantragte A., er sei vom Vorwurf der Veräusserung einer Folie mit Heroingemisch und des mehrfachen Besitzes von Heroingemisch und von Temesta und Zolodorm Tabletten gemäss Art. 19 lit. c und d BetmG freizusprechen und mit einer unbedingten Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu bestrafen. Auf den Widerruf des mit Urteil des Bezirksgerichts Aarau vom 18. Mai 2016 im Umfang von 18 Monaten bedingt gewährten Strafvollzug sei zu verzichten. Mit Anschlussberufung beantragte die Staatsanwaltschaft, A. sei zu einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von 25 Monaten zu verurteilen.
Mit Urteil vom 22. Dezember 2021 bestätigte das Obergericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, die erstinstanzlich ergangenen Schuldsprüche und den Widerruf des mit Urteil des Bezirksgerichts Aarau vom 18. Mai 2016 für 18 Monate bedingt gewährten Strafvollzuges. Es bestrafte A. mit einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von 25 Monaten, unter Anrechnung von drei Tagen Haft, sowie mit einer Busse von Fr. 1000.–, bzw. 10 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung.
Weiterzug ans Bundesgericht
Der A.führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die Aufhebung des Urteils des Obergerichts, mit Ausnahme der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile des Dispositivs, bzw. einen Freispruch vom Vorwurf der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz gemäss Art. 19 Abs. 1 lit. c und d BetmG (Anklageziffern 1.1 und 1.3). Er sei zu einer unbedingten Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu verurteilen. Auf den Widerruf des mit Urteil des Bezirksgerichts Aarau vom 18. Mai 2016 für 18 Monate bedingt gewährten Strafvollzuges sei zu verzichten. Eventualiter sei eine teilbedingte Strafe von 22 Monaten auszusprechen, „sodass der Vollzug in Halbgefangenschaft oder mittels Fussfessel verbüsst werden“ könne.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_184/2022 vom 18. August 2023
In Bezug auf den Sachverhalt des „angeblichen Verkaufs von Heroin“ an B. rügt der Beschwerdeführer vor Bundesgericht eine Verletzung von Art. 6 StPO und Art. 6 Abs. 3 EMRK; er macht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Grundsatzes „in dubio pro reo“ geltend und leitet daraus eine willkürliche Feststellung des Sachverhalts ab. Zur Begründung bringt er im Wesentlichen vor, dass es ausser dem Besitz von portioniertem Heroin und der angeblich beobachteten Übergabe eines weissen Säckchens keine Beweise für die Übergabe von Betäubungsmitteln gebe. Es bestünden erhebliche Zweifel, dass Drogen verkauft worden seien. Wichtige entlastende Sachverhaltselemente seien nicht untersucht und nicht in die Entscheidfindung und die Begründung einbezogen worden. Namentlich habe keine Einvernahme von B. stattgefunden und stelle der als gewichtiges Argument zwischen der vorgängigen polizeilichen Kontrolle von B. und dessen Konsumation von Heroin angeführte Zeitablauf keinen „triftigen“ Beweis dar. (E.1.1)
Das Bundesgericht äussert sich einleitend im Urteil 6B_184/2022 vom 18. August 2023 wie folgt lehrbuchartig zur Beweiswürdigung und zu Beweisen:
«Dem Grundsatz „in dubio pro reo“ kommt in seiner Funktion als Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor dem Bundesgericht keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung zu (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 145 IV 154 E. 1.1; Urteil 6B_555/2021 vom 29. Juni 2022 E. 1.2). Als Beweislastregel ist der Grundsatz verletzt, wenn das Gericht einen Angeklagten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Dies prüft das Bundesgericht frei (BGE 144 IV 345 E. 2.2.3.3; Urteil 6B_790/2021 vom 20. Januar 2022 E. 1.2.2.; je mit Hinweisen).» (E.1.2.2)
«Liegen keine direkten Beweise vor, ist nach der Rechtsprechung auch ein indirekter Beweis zulässig. Beim Indizienbeweis wird aus bestimmten Tatsachen, die nicht unmittelbar rechtserheblich, aber bewiesen sind (Indizien), auf die zu beweisende, unmittelbar rechtserhebliche Tatsache geschlossen. Eine Mehrzahl von Indizien, welche für sich allein betrachtet nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Tatsache oder Täterschaft hindeuten und insofern Zweifel offen lassen, können in ihrer Gesamtheit ein Bild erzeugen, das den Schluss auf den vollen rechtsgenügenden Beweis von Tat oder Täter erlaubt (Urteile 6B_790/2021 vom 20. Januar 2022 E. 1.2.3; 6B_198/2021 vom 17. November 2021 E. 1.2.3; 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.3, nicht publ. in BGE 147 IV 176; je mit Hinweisen). Der Grundsatz „in dubio pro reo“ als Entscheidregel verlangt nicht, dass bei sich widersprechenden Beweismitteln unbesehen auf den für den Angeklagten günstigeren Beweis abzustellen ist. Die Entscheidregel kommt nur zur Anwendung, wenn nach erfolgter Beweiswürdigung als Ganzem relevante Zweifel verbleiben (BGE 144 IV 345 E. 2.2.3.2; Urteile 6B_790/2021 vom 20. Januar 2022 E. 1.2.3; 6B_198/2021 vom 17. November 2021 E. 1.2.3; 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.3, nicht publ. in BGE 147 IV 176; je mit Hinweisen).» (E.1.2.3).
«Würdigt das Gericht einzelne belastende Indizien willkürlich oder lässt es entlastende Umstände willkürlich ausser Acht, führt dies nicht zwingend zur Aufhebung des angefochtenen Urteils durch das Bundesgericht. Die Beschwerde ist nur gutzuheissen, wenn der Entscheid auch bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich ist. Der Beschwerdeführer, der vor Bundesgericht eine willkürliche Beweiswürdigung rügt, darf sich daher nicht darauf beschränken aufzuzeigen, wie einzelne Indizien willkürfrei zu würdigen gewesen wären. Er muss sich vielmehr mit der gesamten Beweislage befassen und darlegen, inwiefern aus seiner Sicht auch der aus der Gesamtheit der verschiedenen Indizien gezogene Schluss geradezu willkürlich ist (Urteile 6B_790/2021 vom 20. Januar 2022 E. 1.2.4; 6B_582/2021 vom 1. September 2021 E. 2.3; 6B_1302/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.4, nicht publ. in BGE 147 IV 176; je mit Hinweisen).» (E.1.2.4)
«Im Strafverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Danach klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Art. 6 Abs. 1 StPO). Sie untersuchen die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt (Art. 6 Abs. 2 StPO). Die Ermittlung des wahren Sachverhalts ist von zentraler Bedeutung. Insofern ist es mit Blick auf das Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit erforderlich, dass die Gerichte eine aktive Rolle bei der Beweisführung einnehmen (vgl. BGE 144 I 234 E. 5.6.2; Urteile 6B_918/2021 vom 4. Mai 2022 E. 4.1; 6B_1372/2021 vom 3. März 2022 E. 1.1). Nur wenn die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht genügen, dürfen sie einen Sachverhalt als erwiesen (oder nicht erwiesen) ansehen und in freier Beweiswürdigung darauf eine Rechtsentscheidung gründen (Urteile 6B_1372/2021 vom 3. März 2022 E. 1.1; 6B_1087/2019 vom 17. Februar 2021 E. 1.2.1; 6B_1045/2020 vom 10. Februar 2021 E. 2.1.1; 6B_1352/2019 vom 14. Dezember 2020 E. 2.4.1). Da es den Strafbehörden obliegt, die Beweise rechtskonform zu erheben, sind die notwendigen Ergänzungen von Amtes wegen vorzunehmen. Dazu bedarf es keines Antrags durch eine Partei (BGE 143 IV 288 E. 1.4.1).» (E.1.2.5)
«Das Rechtsmittelverfahren setzt das Strafverfahren fort und knüpft an die bereits erfolgten Verfahrenshandlungen, namentlich die bereits durchgeführten Beweiserhebungen an. Gemäss Art. 389 Abs. 1 StPO beruht es auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind (BGE 143 IV 288 E. 1.4.1, 408 E. 6.2.1). Dieser Grundsatz gelangt indes nur zur Anwendung, soweit die Beweise, auf welche die Rechtsmittelinstanz ihren Entscheid stützen will, prozessrechtskonform erhoben worden sind. Erweisen sich die Beweiserhebungen des erstinstanzlichen Gerichts als rechtsfehlerhaft (lit. a), unvollständig (lit. b) oder erscheinen sie als unzuverlässig (lit. c), werden sie von der Rechtsmittelinstanz wiederholt (Art. 389 Abs. 2 StPO).» (E.1.2.6)
Auf den konkreten Fall bezogen erklärt das Bundesgericht im Urteil 6B_184/2022 vom 18. August 2023 die Beschwerde des Beschwerdeführers im folgenden Punkt als begründet:
«Die Rüge des Beschwerdeführers erweist sich als begründet. Unbestritten geblieben und damit für das Bundesgericht bindend ist (Art. 105 Abs. 1 BGG), dass der Beschwerdeführer bei seiner Anhaltung 33 portionierte Briefchen à 0.22 bis 0.23 Gramm und ein Säckchen mit ca. 2.5 Gramm Heroingemisch auf sich getragen und er an B._ eine Folie übergeben hat. Umstritten ist indes, ob es sich beim übergebenen Gegenstand um eine „blanke“ Folie gehandelt hat oder aber mit dieser Heroingemisch übergeben worden ist. Mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass Umstände vorliegen, welche letzteres zwar vermuten lassen. Das ist der Fall, wenn sie ausführt, dass der Beschwerdeführer nachweislich mit verkaufsbereitem, in 33 Briefchen abgepacktem Heroin (gemisch) an einem stadtbekannten Drogenumschlagplatz unterwegs war (angefochtenes Urteil S. 6). Im Übrigen stützt sich der Schuldspruch indes einzig auf eine von zwei zivilen Polizeibeamten beobachtete Übergabe eines „kleinen weissen Gegenstandes“ und darauf, dass bei B. im Rahmen dessen (zweiter, dazu sogleich) Anhaltung offenbar eine Folie mit Heroinrückständen sichergestellt werden konnte. Dem Polizeirapport vom 26. Juni 2019 lässt sich hierzu entnehmen, dass es sich beim übergebenen Gegenstand „um ein Briefchen Heroin gehandelt haben dürfte “ [keine Hervorhebung im Originaltext] (UA act. 78). Die sichergestellten 33 Portionen Heroingemisch hatte der Beschwerdeführer alsdann nachweislich in der linken Tasche seines Kapuzenpullovers bzw. in der Hosentasche verstaut, während er den von ihm an B. zuvor übergebenen Gegenstand gemäss den Polizeirapporten seinem Rucksack bzw. seiner „Tasche“ entnommen hatte (vgl. Untersuchungsakten [UA] act. 12 und 78 [Rapporte vom 20. März 2019 und vom 26. Juni 2019]). Den in der Hosentasche und in der Tasche des Kapuzenpullovers mitgeführten Heroinbriefchen lagen – soweit aus den Akten ersichtlich – keine Folien bei (vgl. die Fotodokumentation in UA act. 93 ff.). Offenbar war B. sodann im Vorfeld der beobachteten Übergabe wegen eines begangenen Ladendiebstahls angehalten und kontrolliert worden und trug zu diesem Zeitpunkt keine Betäubungsmittel auf sich. Auch daraus kann indes nicht unbesehen geschlossen werden, dass ihm im Nachgang an diese erste Anhaltung vom Beschwerdeführer eine Folie samt Heroingemisch übergeben worden ist. Dies insbesondere deswegen nicht, weil keine Angaben zu den Zeitspannen vorliegen, welche zwischen der ersten Anhaltung und der beobachteten Übergabe eines Gegenstandes bzw. zwischen der erwähnten Beobachtung und der zweiten Anhaltung lagen und B. offenbar sowohl nach der ersten Anhaltung als auch nach der beobachteten Übergabe des fraglichen Gegenstandes „aus dem Blick“ der zivilen bzw. der Beamten, die ihn zuvor kontrolliert hatten, verschwand (vgl. wiederum UA act. 12 und 78). Schliesslich ist festzuhalten, dass dem Beschwerdeführer entgegen seinen Vorbringen zwar nicht vorgeworfen wird, das Heroingemisch an B. verkauft zu haben, sondern „lediglich“, dieses an ihn „gereicht“ zu haben. Tatsache ist indes, dass offenbar keine Geldübergabe beobachtet werden konnte. Hinweise für eine (vorgängig bereits erfolgte oder nachfolgende) Bezahlung fehlen. Ebenso Gründe, welche die unentgeltliche Überlassung des Heroingemischs nachvollziehbar erscheinen lassen könnten, dies im Gegensatz zur unentgeltlichen Überlassung einer „blanken“ Folie.
Zusammenfassend ist nochmals festzuhalten, dass zwar durchaus gewichtige Indizien dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführer Heroingemisch an B._ „gereicht“ hat, zumal sich der fragliche Vorfall an einem stadtbekannten Drogenumschlagplatz ereignet hat und zivile Polizeibeamte nachweislich verdächtige Beobachtungen gemacht haben. Anhand der für den vorliegenden Fall aufgezeigten, konkreten Umstände hätte die Vorinstanz aber nicht auf die Abnahme weiterer Beweise verzichten dürfen, so etwa auf eine Befragung des mutmasslichen Abnehmers B. oder derjenigen Polizeibeamten, die die Übergabe eines „kleinen weissen Gegenstandes“ beobachtet haben. Damit ist sie ihrer Untersuchungspflicht nicht nachgekommen und verfällt in Willkür, wenn sie den zur Anklage erhobenen Sachverhalt als erstellt erachtet. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet.» (E.1.3)
Eine weitere Rüge des Beschwerdeführers hielt das Bundesgericht für unbegründet (E.1.4).
Die Beschwerde wurde gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen (E.3).