Zustellungen im Strafverfahren müssen an Rechtsbeistand erfolgen

Im Urteil 6B_231/2024 vom 21. Juni 2024 aus dem Kanton Aargau ging es um die Zustellung eines Urteils direkt an die freigesprochene Person, die anwaltlich vertreten war (mit Vollmacht in den Akten). Der Freigesprochene wehrte sich gegen die Auflegung von Verfahrenskosten sowie die Verweigerung einer Entschädigung. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Haben Parteien einen Rechtsbeistand bestellt, müssen Mitteilungen der Strafbehörden nach Art. 87 Abs. 3 StPO an diesen zugestellt werden, ansonsten sie ungültig sind […] Die dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Fallkonstellationen betrafen Wahl- und Pflichtverteidigungen beschuldigter Personen. Nach dem Wortlaut von Art. 87 Abs. 3 StPO bezieht sich die Bestimmung jedoch auf alle Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, weshalb sie auch vorliegend Anwendung findet (vgl. Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO).  […] Eine Partei, die in einem Strafverfahren ihre Interessen nicht (bzw. nicht ausschliesslich) selbst wahrnehmen will oder kann und deshalb einen Rechtsbeistand bestellt, darf sich darauf verlassen, dass das Vertretungsverhältnis vom Staat berücksichtigt und nicht mit einer Direktzustellung untergraben wird. Es liegt in der alleinigen Verantwortung der mitteilenden Strafbehörde, eine korrekte, den gesetzlichen Formvorschriften entsprechende Zustellung an die Parteien sicherzustellen. Sobald ein Rechtsbeistand bestellt ist, kann die Zustellung deshalb nur an diesen gültig erfolgen. Diese Zustellregel ist vorliegend missachtet worden. Die Zustellung der vorinstanzlichen Verfügung vom 20. September 2023 ist ausschliesslich an die Beschwerdeführerin und somit ungültig erfolgt. Sie hat keine Rechtswirkung entfaltet. Sie vermochte demnach weder die Frist im Sinne von Art. 400 Abs. 3 StPO (Antrag auf Nichteintreten, Erklärung der Anschlussberufung) noch jene zur Stellungnahme, ob die Beschwerdeführerin am vorinstanzlichen Verfahren teilnehmen wolle, auszulösen.» (E.2.4.2). Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut (E.3).

Das Bezirksgericht Kulm stellte am 21. Juni 2023 das Verfahren gegen B. wegen Tätlichkeiten ein und sprach ihn vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs frei. Es verwies die Zivilforderungen von A. auf den Zivilweg, auferlegte B. gestützt auf Art. 426 Abs. 2 StPO die Verfahrenskosten und wies sein Entschädigungsbegehren ab. Dagegen erhob B., beschränkt auf die Kosten- und Entschädigungsfolgen, Berufung.

Instanzenzug

Das Obergericht des Kantons Aargau stellte mit Urteil vom 6. Februar 2024 fest, dass das Urteil des Bezirksgerichts Kulm in Bezug auf die Verfahrenseinstellung, den Freispruch und den Verweis der Zivilforderungen auf den Zivilweg in Rechtskraft erwachsen war. Es verpflichtete A., B. eine Entschädigung von Fr. 7’216.50 für das Verfahren vor dem Bezirksgericht Kulm zu bezahlen und auferlegte ihr dessen Kosten von Fr. 2’390.–. Die Kosten des Berufungsverfahrens nahm es auf die Staatskasse.

Weiterzug an das Bundesgericht

Der A. führt Beschwerde in Strafsachen und subsidiäre Verfassungsbeschwerde. Sie beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 6. Februar 2024 sei aufzuheben. Die Sache sei zur Durchführung des Berufungsverfahrens und zum neuen Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Oberstaatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Aargau sowie B. verzichten auf eine Stellungnahme.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_231/2024 vom 21. Juni 2024  

Die Beschwerdeführerin rügt vor Bundesgericht in formeller Hinsicht, ihr sei in Verletzung des rechtlichen Gehörs die Teilnahme am vorinstanzlichen Verfahren verwehrt worden. Demgegenüber geht die Vorinstanz davon aus, die Beschwerdeführerin habe auf die Verfahrensteilnahme verzichtet, so das Bundesgericht. Die Frage, ob die Vorinstanz sie zu Unrecht vom Verfahren ausgeschlossen hat, kann vom Bundesgericht überprüft werden. Die Voraussetzung von Art. 81 Abs. 1 lit. a BGG ist somit erfüllt, erklärt das Bundesgericht (E.1.3.1).

In tatsächlicher Hinsicht ist gemäss dem Bundesgericht Folgendes unbestritten: Rechtsanwalt Erwin Leuenberger wies sich in der Strafsache gegen den Beschwerdegegner gegenüber den Strafuntersuchungsbehörden und der ersten Instanz mit einer Vollmacht als Rechtsbeistand der Beschwerdeführerin aus und nahm deren Interessen als Privatklägerin anlässlich der erstinstanzlichen Verhandlung wahr; sowohl im Rubrum als auch im Verteiler des erstinstanzlichen Urteils wird auf dieses Vertretungsverhältnis hingewiesen (E.2.1).

Im Berufungsverfahren stellte die Vorinstanz gemäss dem Bundesgericht mit Verfügung vom 20. September 2023 die Berufungserklärung des Beschwerdegegners, welche Rechtsanwalt Erwin Leuenberger ebenfalls als Vertreter der Beschwerdeführerin aufführt, Letzteren direkt zu und setzte ihr eine Frist von 20 Tagen, um u.a. einen begründeten Antrag auf Nichteintreten zu stellen, Anschlussberufung zu erklären und (unter Annahme des Verzichts bei Säumnis) mitzuteilen, ob sie am Verfahren als Partei teilnehmen wolle. Eine Zustellung dieser Verfügung an Rechtsanwalt Erwin Leuenberger blieb aus. Nachdem innert 20 Tagen keine Eingabe der Beschwerdeführerin eingegangen war, stellte die Vorinstanz mit Verfügung vom 23. Oktober 2023 fest, dass diese nicht mehr als Partei am Verfahren teilnehme. Diese Verfügung sowie alle weiteren Entscheide der Vorinstanz wurden – mit Ausnahme des angefochtenen Entscheids – nur den beiden Beschwerdegegnern zugestellt, so dass Bundesgericht (E.2.1).

Die Beschwerdeführerin macht zusammengefasst  durch das Bundesgericht geltend, Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt hätten, könnten rechtsgültig nur an diesen zugestellt werden. Da die Verfügung vom 20. September 2023 ihr, nicht aber ihrem Rechtsbeistand zugestellt worden sei, hätten die darin gesetzten Fristen nie zu laufen begonnen, rügt die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht (E.2.2).

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_231/2024 vom 21. Juni 2024 generell-abstrakt wie folgt:

«Gemäss Art. 87 StPO sind Mitteilungen den Adressatinnen und Adressaten an ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder an ihren Sitz zuzustellen (Abs. 1). Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen; vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vereinbarungen, wonach Mitteilungen direkt zugestellt werden können (Abs. 2). Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig an diesen zugestellt (Abs. 3). Hat eine Partei persönlich zu einer Verhandlung zu erscheinen oder Verfahrenshandlungen selbst vorzunehmen, so wird ihr die Mitteilung direkt zugestellt. Dem Rechtsbeistand wird eine Kopie zugestellt (Abs. 4).  

Die Vorschriften über die Eröffnung und Zustellung von Entscheiden (Art. 84 ff. StPO) gelten auch im Rechtsmittelverfahren (BGE 148 IV 362 E. 1.2; Urteile 6B_876/2013 vom 6. März 2014 E. 2.4.2; 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.2). Der Beweis ordnungsgemässer Zustellung bzw. Eröffnung sowie deren Datums obliegt der Behörde, die daraus rechtliche Konsequenzen ableiten will (vgl. BGE 144 IV 57 E. 2.3; 142 IV 125 E. 4.3; Urteil 6B_271/2021 vom 12. Mai 2021 E. 4.1; je mit Hinweisen). Die Zustellungsregeln bezwecken, die Rechtssicherheit und Verfahrensökonomie zu gewährleisten (vgl. BGE 144 IV 64 E. 2.5, in: Pra 2018 Nr. 150; Urteile 6B_304/2019 vom 22. Mai 2019 E. 2.3.4; 6B_1006/2018 vom 15. Januar 2019 E. 2.2; je mit Hinweisen). Art. 87 Abs. 1 StPO stellt die Regel dar, die durch Abs. 2 und Abs. 3 eingeschränkt wird, indem Abs. 2 den Parteien und Rechtsbeiständen mit Wohnsitz, gewöhnlichem Sitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland die Bezeichnung eines Zustellungsdomizils in der Schweiz vorschreibt und Abs. 3 trotz eines allfälligen Zustellungsdomizils nach Abs. 1 die Zustellung an deren Rechtsbeistand vorschreibt. Abs. 4 nimmt Bezug auf die Pflicht der Partei zum persönlichen Erscheinen an einer Verhandlung oder zur persönlichen Vornahme von Verfahrenshandlungen und sieht vor, dass in einem solchen Fall die Mitteilung direkt der Partei zuzustellen ist, selbst wenn diese einen Rechtsbeistand bestellt hat. Diese Bestimmung schränkt folglich die in Art. 87 Abs. 3 StPO statuierte Regel ein. Diese Systematik zeigt deutlich auf, dass die Zustellung an den bestellten Rechtsbeistand die Regel (Art. 87 Abs. 3 StPO) und die Zustellung an die Partei trotz dieses Rechtsbeistandes die Ausnahme ist (vgl. BGE 144 IV 64 E. 2.5, in: Pra 2018 Nr. 150; Urteil 6B_1006/2018 vom 15. Januar 2019 E. 2.2; je mit Hinweisen). 

Art. 87 Abs. 3 StPO ist zwingender Natur und lässt keinen Raum für einen von der vertretenen Partei oder deren Rechtsbeistand angebrachten Vorbehalt, wonach Mitteilungen in der Sache, für welche der Rechtsbeistand bestellt worden ist, direkt an die vertretene Partei zugestellt werden können. Ist ein Rechtsbeistand bestellt, müssen Mitteilungen an diesen zugestellt werden, ansonsten sie ungültig sind (vgl. BGE 144 IV 64 E. 2.5, in: Pra 2018 Nr. 150; Urteile 6B_1393/2021 vom 22. Juni 2022 E. 2.2; 6B_304/2019 vom 22. Mai 2019 E. 2.3.4; je mit Hinweisen).» (E.2.3).

Mit fallbezogenen Elementen fährt das Bundesgericht im Urteil 6B_231/2024 vom 21. Juni 2024 fort:

«Haben Parteien einen Rechtsbeistand bestellt, müssen Mitteilungen der Strafbehörden nach Art. 87 Abs. 3 StPO an diesen zugestellt werden, ansonsten sie ungültig sind (vgl. hierzu E. 2.3). Die dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Fallkonstellationen betrafen Wahl- und Pflichtverteidigungen beschuldigter Personen. Nach dem Wortlaut von Art. 87 Abs. 3 StPO bezieht sich die Bestimmung jedoch auf alle Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, weshalb sie auch vorliegend Anwendung findet (vgl. Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO).  Den zitierten Entscheiden ist im Weiteren – im Unterschied zur vorliegenden Konstellation – gemeinsam, dass die Mitteilung dem Rechtsbeistand der Partei zugestellt wurde, Letztere sich aber auf den Standpunkt stellte, nur die direkt an sie erfolgte Zustellung könne fristauslösend sein. Diese Rechtsauffassung wurde höchstrichterlich mit Blick auf den klaren Wortlaut und zwingenden Charakter von Art. 87 Abs. 3 StPO stets verworfen (vgl. E. 2.3). Eine vertretene Partei kann sich hinsichtlich des Fristenlaufs nicht auf eine solche Direktzustellung berufen. Im Umkehrschluss kann ihr eine solche aber vom Staat auch nicht entgegengehalten werden. Eine Partei, die in einem Strafverfahren ihre Interessen nicht (bzw. nicht ausschliesslich) selbst wahrnehmen will oder kann und deshalb einen Rechtsbeistand bestellt, darf sich darauf verlassen, dass das Vertretungsverhältnis vom Staat berücksichtigt und nicht mit einer Direktzustellung untergraben wird. Es liegt in der alleinigen Verantwortung der mitteilenden Strafbehörde, eine korrekte, den gesetzlichen Formvorschriften entsprechende Zustellung an die Parteien sicherzustellen. Sobald ein Rechtsbeistand bestellt ist, kann die Zustellung deshalb nur an diesen gültig erfolgen. Diese Zustellregel ist vorliegend missachtet worden. Die Zustellung der vorinstanzlichen Verfügung vom 20. September 2023 ist ausschliesslich an die Beschwerdeführerin und somit ungültig erfolgt. Sie hat keine Rechtswirkung entfaltet. Sie vermochte demnach weder die Frist im Sinne von Art. 400 Abs. 3 StPO (Antrag auf Nichteintreten, Erklärung der Anschlussberufung) noch jene zur Stellungnahme, ob die Beschwerdeführerin am vorinstanzlichen Verfahren teilnehmen wolle, auszulösen.» (E.2.4.2).

«Die Frage, ob bzw. inwiefern die tatsächliche Kenntnisnahme der vorgenannten Verfügung durch den bestellten Rechtsbeistand mit einer rechtsgültigen Zustellung gemäss Art. 87 Abs. 3 StPO gleichgesetzt werden kann, stellt sich nur, wenn eine solche erwiesen ist. Wenn hingegen – wie vorliegend – weder dargetan noch aus den Akten ersichtlich ist, dass die Partei die Verfügung an ihren bestellten Rechtsbeistand weitergeleitet und dieser davon Kenntnis erlangt hat, erübrigen sich hierzu weitere Ausführungen.» (E.2.4.3).

«Die direkte Zustellung der vorinstanzlichen Verfügung vom 20. September 2023 an die Beschwerdeführerin verletzt die zwingende Bestimmung von Art. 87 Abs. 3 StPO. Sie ist ungültig und hat keine Rechtswirkung entfaltet. Die Vorinstanz nahm zu Unrecht an, die Säumnisfolgen seien eingetreten und die Beschwerdeführerin habe (konkludent) auf eine Verfahrensteilnahme verzichtet. Sie verwehrte ihr auf diese Weise das rechtliche Gehör hinsichtlich aller Aspekte des Berufungsverfahrens.» (E.2.4.4).

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut weist die Sache zur neuen Durchführung des Berufungsverfahrens sowie zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück (E.3).

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