Sachverhalt
Dem A. wird vorgeworfen, er habe am 31. Dezember 2020, um 18:14 Uhr, in Luzern auf der Höhe Kasernenplatz beim Fussgängerstreifen (Fahrtrichtung stadtauswärts/Autobahn) als Lenker des Personenwagens B. das dortige Lichtsignal, das seit 6.09 Sekunden auf Rot gestanden habe, pflichtwidrig missachtet. Auf dem mit dem Verkehrsüberwachungsgerät aufgenommenen Radarfoto sei ersichtlich, dass sich zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Fussgänger auf dem Fussgängerstreifen befunden hätten. Bei dieser Sachlage habe die beschuldigte Person durch ihr Nichtbeachten des Rotlichts eine erhöhte abstrakte Gefährdung geschaffen. Mit Strafbefehl vom 20. April 2021 hielt die Staatsanwaltschaft, Abteilung 1 Luzern, den Beschuldigten wegen Nichtbeachtens eines Lichtsignals (Rotlicht) nach Art. 90 Abs. 2 SVG, begangen am 31. Dezember 2020 in Luzern, für schuldig. Sie schlug ihm hierfür eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je Fr. 180.–, bedingt bei einer Probezeit von zwei Jahren, und eine Busse von Fr. 900.– vor. Der Beschuldigte erhob am 28. April 2021 fristgerecht Einsprache. Die Anklagebehörde hielt in der Folge an ihrem Strafbefehl fest und überwies die Akten mit Verfügung vom 19. Juli 2021 zur Durchführung des Hauptverfahrens an das Bezirksgericht Luzern.
Instanzenzug
Mit Urteil vom 5. November 2021 sprach das Bezirksgericht A. schuldig des Nichtbeachtens eines Lichtsignals (Rotlicht) nach Art. 90 Abs. 2 SVG, begangen am 31. Dezember 2020 in Luzern. Es verurteilte ihn hierfür mit einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je Fr. 100.–, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren, und einer Verbindungsbusse von Fr. 1’000.–. Hinsichtlich der Frage nach der Identität des geblitzten Lenkers erwog das Bezirksgericht Folgendes: Auf dem Radarfoto, welches den Lenker des genannten Personenwagens im Zeitpunkt des Vorfalles zeige, habe anlässlich der Hauptverhandlung der Beschuldigte wiedererkannt werden können. Die charakteristischen Gesichtszüge des Beschuldigten, insbesondere sein längliches Gesicht, die markante Kinnpartie, die längliche Nase und die ausgeprägte hohe Stirn, stimmten mit dem auf dem Radarfoto festgehaltenen Lenker überein. Es sei deshalb erstellt, dass es sich im Zeitpunkt des Vorfalles beim Lenker des Personenwagens B. um den Beschuldigten handle.
Mit Berufungserklärung vom 23. Dezember 2021 beantragte der Beschuldigte dem Kantonsgericht Luzern, er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Nach Zustimmung des Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft ordnete das Kantonsgericht das schriftliche Berufungsverfahren an und setzte dem Beschuldigten Frist zur schriftlichen Berufungsbegründung innert 20 Tagen. Mit Urteil vom 9. August 2022 bestätigte das Kantonsgericht den erstinstanzlichen Schuldspruch, reduzierte indessen die Geldstrafe auf 16 Tagessätze zu je Fr. 100.– und die Verbindungsbusse auf Fr. 400.–.
Weiterzug ans Bundesgericht
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A. dem Bundesgericht, es sei das Berufungsurteil aufzuheben und er sei vom Vorwurf der groben Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG freizusprechen. Eventualiter sei das Verfahren zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es wurden die kantonalen Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_257/2022 vom 4. Dezember 2023
Auf einzelne Rügen des Beschwerdeführers wird hier nicht eingegangen (E.1 und E.2).
Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht eine Verletzung von Art. 113 StPO, Art. 158 Abs. 1 StPO und Art. 177 Abs. 1 StPO in Verbindung mit Art. 141 Abs. 1 StPO, indem die Vorinstanz auf Beweismittel abgestellt hat, die in Verletzung oder Umgehung der Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte erhoben worden seien (E.3.1).
Das Bundesgericht äussert sich herzu generell-abstrakt im Urteil 7B_257/2022 vom 4. Dezember 2023 wie folgt:
«Strafverfahren können nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO). Dieser Grundsatz der Formstrenge (BGE 148 IV 1 E. 3.5.1; 147 IV 93 E. 1.3.2 mit Verweis auf die Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1128 Ziff. 2.1.1) gilt auch für das Vorverfahren (Urteil 6B_787/2022 vom 5. Dezember 2022 E. 2.3.3.1 mit Hinweis). Die schützenden Förmlichkeiten des Strafverfahrens sind kein Selbstzweck, sondern dienen der Gewährleistung der Fairness des Verfahrens, indem sie Machtmissbrauch und willkürlich-rechtsungleiche Behandlung ausschliessen und unangemessene Beeinträchtigungen der Verteidigungsrechte verhindern (BGE 148 IV 1 E. 3.5.1 mit Hinweisen).» (E.3.2.1).
«Gemäss dem in Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II (SR 0.103.2) verankerten und aus Art. 32 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleiteten Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ ist im Strafverfahren niemand gehalten, zu seiner Belastung beizutragen, und ist der Beschuldigte aufgrund seines Aussageverweigerungsrechts berechtigt zu schweigen, ohne dass ihm daraus Nachteile erwachsen dürfen (vgl. Art. 113 Abs. 1 und Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO; BGE 148 IV 221 E. 2.2 mit Verweis auf BGE 142 IV 207 E. 8.3; Urteil 6B_230/2022 vom 25. Oktober 2023 E. 2.2.1 mit Hinweisen; vgl. BGE 148 IV 205 E. 2.4).» (E.3.2.2).
«Gemäss Art. 140 Abs. 1 StPO sind Zwangsmittel, Gewaltanwendung, Drohungen, Versprechungen, Täuschungen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheit einer Person beeinträchtigen können, bei der Beweiserhebung untersagt. Solche Methoden sind auch dann unzulässig, wenn die betroffene Person ihrer Anwendung zustimmt (Art. 140 Abs. 2 StPO). Beweise, die in Verletzung dieser Bestimmung erhoben wurden, sind in keinem Fall verwertbar (Art. 141 Abs. 1 StPO; BGE 148 IV 205 E. 2.8.1). Der Gesetzgeber misst der Willensfreiheit der beschuldigten Person hohe Bedeutung bei (BGE 148 IV 205 E. 2.8.5). Wenn der Beschuldigte nicht auf die Selbstbelastungsfreiheit resp. sein Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht hingewiesen wird, greift das absolute Verwertungsverbot im Sinne von Art. 141 Abs. 1 StPO (vgl. BGE 148 IV 205 E. 2.8.5; Urteile 6B_187/2020 vom 21. Oktober 2020 E. 3.2.1; 6B_1390/2019 vom 23. April 2020 E. 2.3.2 mit Hinweisen und Verweis auf BBl 2006 1193 Ziff. 2.4.2). Im gleichen Sinne betont das Bundesgericht, dass das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung absolut gilt und Verstösse die Unverwertbarkeit des betroffenen Beweismittels zur Folge haben (BGE 148 IV 205 E. 2.8.5 mit Hinweisen; vgl. Urteil 6B_990/2017 vom 18. April 2018 E. 2.4.4).» (E.3.2.3).
«Ermöglichte ein Beweis, der nicht verwertet werden darf, die Erhebung eines weiteren Beweises, so ist dieser nicht verwertbar, wenn er ohne die vorhergehende Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre (Art. 141 Abs. 4 StPO), das heisst, der erste Beweis „conditio sine qua non“ des zweiten ist (BGE 138 IV 169 E. 3.1 S. 171 mit Verweis auf BBl 2006 1184 Ziff. 2.4.1.1; Urteil 6B_224/2023 vom 26. Oktober 2023 E. 3.4.1). Eine Fernwirkung gemäss Art. 141 Abs. 4 StPO ist zu verneinen, wenn der Folgebeweis im Sinne eines hypothetischen Ermittlungsverlaufs zumindest mit einer grossen Wahrscheinlichkeit auch ohne den illegalen ersten Beweis erlangt worden wäre. Entscheidend sind die konkreten Umstände des Einzelfalls (zum Ganzen BGE 138 IV 169 E. 3.3.3 mit Hinweisen; Urteil 6B_224/2023 vom 26. Oktober 2023 E. 3.4.1). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum alten Verfahrensrecht unterschied für die Frage der Verwertbarkeit von Folgebeweisen sodann nicht danach, ob der Grund für die Unverwertbarkeit des Primärbeweises ein absolutes oder ein relatives Beweisverwertungsverbot ist (BGE 138 IV 169 E. 3.2 mit Hinweisen; Urteile 6B_654/2019 vom 12. März 2020 E. 3.2.2; 6B_976/2015 vom 27. September 2016 E. 6.3.2; je mit Hinweisen). Im Hinblick auf die künftige Fassung von Art. 141 Abs. 4 StPO, welche nun ausdrücklich neben dem Abs. 2 auch den Abs. 1 von Art. 141 StPO einbezieht (BBl 2022 1564), gilt diese Rechtsprechung weiterhin.» (E.3.2.4).
Richtig interessant werden die Ausführungen des Bundesgerichts zum Fall bzw. zum Vorgehen der Untersuchungsbehörden im Urteil 7B_257/2022 vom 4. Dezember 2023:
«Zum Prozesssachverhalt hielt die Vorinstanz Folgendes fest: Am 6. Januar 2021 habe die Luzerner Polizei zwecks Lenkerermittlung ein Rechtshilfegesuch an die Kantonspolizei Zürich gestellt. Zu diesem Zeitpunkt sei einzig die Fahrzeughalterin bekannt gewesen. Am 25. Januar 2021 sei diese von der Kantonspolizei Zürich telefonisch kontaktiert worden. Die Fahrzeughalterin sei ersucht worden, selber auf der Polizeistation zu erscheinen oder gegebenenfalls dem Lenker der vorliegenden Verkehrsregelverletzung mitzuteilen, dass er sich selbst bei den Polizeiangehörigen melden solle. Am 28. Januar 2021 habe sich der Beschwerdeführer, der Sohn der Fahrzeughalterin, telefonisch bei der Polizei gemeldet. Am 18. Februar 2021 sei dieser zur polizeilichen Einvernahme erschienen. Dabei sei dem Beschwerdeführer die Einleitung eines Strafverfahrens eröffnet worden, dass er als Beschuldigter einvernommen werde und dass er das Recht auf Verweigerung der Aussage und der Mitwirkung habe. Dem Beschwerdeführer seien die Radarfotos vorgelegt worden, worauf dieser die Aussage verweigert habe.» (E.3.3.1).
«Was die Feststellungen zum Lebenssachverhalt anbelangt, hat die Vorinstanz – wie bereits die erste Instanz – hinsichtlich der auch oberinstanzlich umstrittenen Frage, wer der Lenker des geblitzten Autos gewesen ist, unter anderem auf den Umstand abgestellt, dass der Beschwerdeführer sich „freiwillig“ per Telefon bei der Polizei gemeldet hat. Hinsichtlich des bereits mit Berufung geltend gemachten Einwandes des Beschwerdeführers, auf seine Meldung bei der Polizei könne wegen Verstosses gegen die Selbstbelastungsfreiheit nicht abgestellt werden, erwog die Vorinstanz, dass die Meldung auf dem Polizeiposten freiwillig erfolgt sei. Ihr habe das telefonische Ersuchen an die Fahrzeughalterin zugrunde gelegen, der bis dahin noch unbekannte Lenker solle sich melden. Dieses Ersuchen sei transparent und mit keinerlei Zwang, Täuschung oder sonstiger unzulässiger Methoden nach Art. 140 StPO verbunden gewesen. Insbesondere habe keine Täuschung vorgelegen, da Absicht und Zweck der Aufforderung jederzeit klar und verständlich „aufgeschienen“ seien. Das Ersuchen habe mithin eine blosse formlose Aufforderung bzw. eine Einladung dargestellt. Eine förmliche oder zwangsbewehrte Vorladung sei nicht ergangen. Der Beschuldigte sei dabei stets frei gewesen, sich zu melden oder eben nicht. Dies habe alleine in seiner Verantwortung und Willensfreiheit gelegen. Ein eigentlicher Zwang zur Selbstbelastung oder eine Pflicht, sich zu melden, sei nicht ersichtlich. Ein absolutes Verwertungsverbot im Sinne von Art. 141 Abs. 1 StPO bestehe somit nicht.» (E.3.3.2).
«Aber selbst wenn ein solches bestünde und sich die Frage der Fernwirkung von Art. 141 Abs. 4 StPO stellte, dürften die weiteren Beweise nach Auffassung der Vorinstanz berücksichtigt werden: Denn auch ohne die Meldung des Beschwerdeführers bei der Polizei wäre der notwendige Beweis der Lenkerschaft durch Abfrage des Fahrberechtigungsregisters (Informationssystems Verkehrszulassung) und der darin enthaltenen Fotos mit grosser Wahrscheinlichkeit gelungen. Immerhin gehe es um einen Vergehenstatbestand, was die Polizei zu entsprechend einlässlichen Abklärungen anhalte, die beispielsweise den Abgleich mehrerer oder gar zahlreicher Fotos von in Frage kommenden Lenkern beinhalten könne. Vorliegendenfalls hätten Abklärungen aus dem familiären Umfeld an erster Stelle gelegen. Selbst bei zahlreichen in Frage kommenden Familienmitgliedern werde der Anfang notorischerweise bei den näheren Verwandten gemacht. Dass auf diese Weise sehr rasch auf den Beschwerdeführer gestossen worden wäre, also den Sohn der Fahrzeughalterin, liege sehr nahe.» (E.3.3.3).
«Die vorinstanzlichen Erwägungen überzeugen nur teilweise. Was den Telefonanruf der Kantonspolizei Zürich an die Fahrzeughalterin und Mutter des Beschwerdeführers anbelangt, so geht aus den vorinstanzlichen Feststellungen zum Prozesssachverhalt nicht hervor, dass diese über den Grund des Anrufs, also den konkreten Vorhalt gegenüber dem Lenker informiert worden wäre. Es ist deshalb gerade nicht nachvollziehbar, wie die Vorinstanz zum Schluss kommen kann, dass „Absicht und Zweck der Aufforderung“, der bis dahin noch unbekannte Lenker solle sich bei der Polizei melden, „jederzeit klar und verständlich aufgeschienen“ seien. Vielmehr muss dieses „telefonische Ersuchen“, das die Vorinstanz selbst als „formlose Aufforderung“ bzw. als „Einladung“ bezeichnet, als eine polizeiliche Aufforderung an den Beschwerdeführer verstanden werden, sich gegenüber der Polizei zu erkennen zu geben und sich durch Bekanntgabe seiner Identität als Fahrzeugführer selbst zu belasten. Dass diese „Einladung“ ausserhalb der strafprozessualen Formen geschehen ist, macht dieses Vorgehen rechtsstaatlich nicht weniger heikel, sondern im Gegenteil umso problematischer. Indem die Polizei den Beschwerdeführer letztlich im Ungewissen darüber gelassen hat, aus welchem Grund er sich als Lenker zu erkennen geben soll, liegt zudem ein täuschungsähnliches Vorgehen vor, das mit der Selbstbelastungsfreiheit nicht mehr vereinbar erscheint und eine Unverwertbarkeit der Meldung des Beschwerdeführers als Primärbeweis nach Art. 141 Abs. 1 StPO grundsätzlich indiziert.» (E.3.4.1).
«Dies bedeutet aber nicht, dass der in der Folge anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung gewonnene persönliche Eindruck des Beschwerdeführers und dessen optischer Abgleich mit dem Radarfoto aufgrund einer Fernwirkung nach Art. 141 Abs. 4 StPO kontaminiert und damit ebenfalls unverwertbar wäre. Wie die Vorinstanz vielmehr zutreffend ausgeführt hat, wäre nämlich der Folgebeweis im Sinne eines hypothetischen Ermittlungsverlaufs zumindest mit einer grossen Wahrscheinlichkeit auch ohne den problematischen ersten Beweis erlangt worden: Es liegt auf der Hand, dass eine Ermittlung bei einem Stillschweigen des Beschwerdeführers und dessen Mutter rasch zu den nächsten Familienmitgliedern und damit zum Beschwerdeführer geführt hätte.» (E.3.4.2).
Befremdend bis kultverdächtig ist die Schlussfolgerung des Bundesgerichts im Urteil 7B_257/2022 vom 4. Dezember 2023:
«Aufgrund des Gesagten erweist sich die Rüge im Ergebnis als unbegründet, auch wenn der Beschwerdeführer das formlose Vorgehen der Polizei zu Recht als Verletzung seiner Selbstbelastungsfreiheit moniert.» (E.3.4.3).
Die Beschwerde wurde abgewiesen.