Verletzung des Anklagegrundsatzes

Im Urteil 6B_284/2024 vom 4. September 2024 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der Verletzung des Anklagegrundsatzes. Es äusserte sich u.a. wie folgt: «Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion). Entscheidend ist, dass die beschuldigte Person genau weiss, welcher konkreter Handlungen sie beschuldigt und wie ihr Verhalten rechtlich qualifiziert wird, damit sie sich in ihrer Verteidigung richtig vorbereiten kann. Solange klar ist, welcher Sachverhalt der beschuldigten Person vorgeworfen wird, kann auch eine fehlerhafte und unpräzise Anklage nicht dazu führen, dass es zu keinem Schuldspruch kommen darf. Die nähere Begründung der Anklage erfolgt an Schranken; es ist Sache des Gerichts, den Sachverhalt verbindlich festzustellen. Dieses ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden (Art. 350 Abs. 1 StPO; […]» (E.1.1). ). «[…] In tatsächlicher Hinsicht ging die Staatsanwaltschaft zudem davon aus, dass der Zug normal zum Stillstand gebracht werden konnte, nachdem der Zugführer die Gefahr rechtzeitig erkannt und gesehen hatte, dass sich die Beschwerdegegnerin 2 bereits wieder aufs Perron gerettet hatte. Unter den gegebenen Umständen musste der Beschwerdeführer nicht mit einer Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens rechnen und eine solche scheidet aus. Dies gilt umso mehr, als die Anklage auch den entsprechenden Tatbestand nicht nennt, sondern einzig denjenigen der versuchten vorsätzlichen Tötung aufführt. Der Anklagegrundsatz ist verletzt.» (E.1.2.2). Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut.

Sachverhalt

Am 9. November 2022 verurteilte das Bezirksgericht Zürich A. wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, einfacher Körperverletzung, fahrlässiger Verursachung einer Feuersbrunst, vorsätzlicher Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen, Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit, mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie mehrfacher Übertretung des Personenbeförderungsgesetzes zu 5 Jahren und 10 Monaten Freiheitsstrafe. Das Bezirksgericht ordnete eine stationäre Massnahme zur Behandlung von psychischen Störungen an und nahm Vormerk davon, dass sich der Beschuldigte seit dem 2. August 2022 im vorzeitigen Vollzug der Massnahme befindet. Ferner wurde der Beschuldigte für 8 Jahre des Landes verwiesen und die Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem SIS angeordnet.

Gegen dieses Urteil erhoben A. sowie die Geschädigte Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich. Dieses sprach ihn am 20. Dezember 2023 der Gefährdung des Lebens, der einfachen Körperverletzung, der fahrlässigen Verursachung einer Feuersbrunst, der Störung von Betrieben im Dienste der Allgemeinheit sowie der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte und des Versuchs hierzu schuldig. Mit Bezug auf die Schuldsprüche wegen Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit, teilweise wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie wegen mehrfacher Übertretung des Personenbeförderungsgesetzes stellte es die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils fest. Das Obergericht verhängte eine Freiheitsstrafe von 4 Jahren, deren Vollzug es zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme aufschob. Ausserdem sprach es eine unbedingte Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu Fr. 10.– und eine Busse von Fr. 200.– aus. Die Landesverweisung reduzierte es auf 6 Jahre. Die Ausschreibung im Schengener Informationssystem SIS wurde bestätigt.

Weiterzug ans Bundesgericht

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A., er sei vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens frei- und wegen einfacher Körperverletzung schuldig zu sprechen und mit 9 Monaten, eventualiter 14 Monaten Freiheitsstrafe sowie 120 Tagessätzen à Fr. 10.– und Fr. 200.– Busse zu bestrafen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Von der Landesverweisung sei abzusehen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege. Vorinstanz und Oberstaatsanwaltschaft verzichten auf eine Stellungnahme. Die Beschwerdegegnerin 2 lässt sich nicht vernehmen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_284/2024 vom 4. September 2024  

Im Schuldpunkt ist vor Bundesgericht nur noch die Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens strittig. Der Beschwerdeführer rügt in diesem Zusammenhang eine Verletzung des Anklagegrundsatzes sowie von Art. 344 StPO, indem ihm die Vorinstanz hinsichtlich der abweichenden rechtlichen Würdigung des Tatvorwurfs im Rahmen der Berufungsverhandlung nicht genügend Zeit gegeben habe (E.1.1).

Das Bundesgericht äussert sich hierzu im Urteil 6B_284/2024 vom 4. September 2024 wie folgt:

«Nach dem Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion; Art. 9 und Art. 325 StPO; Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK). Die Anklage hat die der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genügend konkretisiert sind. Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion). Entscheidend ist, dass die beschuldigte Person genau weiss, welcher konkreter Handlungen sie beschuldigt und wie ihr Verhalten rechtlich qualifiziert wird, damit sie sich in ihrer Verteidigung richtig vorbereiten kann. Solange klar ist, welcher Sachverhalt der beschuldigten Person vorgeworfen wird, kann auch eine fehlerhafte und unpräzise Anklage nicht dazu führen, dass es zu keinem Schuldspruch kommen darf. Die nähere Begründung der Anklage erfolgt an Schranken; es ist Sache des Gerichts, den Sachverhalt verbindlich festzustellen. Dieses ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden (Art. 350 Abs. 1 StPO; BGE 143 IV 63 E. 2.2; Urteil 6B_1078/2022 vom 25. Januar 2023 E. 4.1 mit Hinweisen).» (E.1.1).

Der Einwand des Beschwerdeführers ist gemäss dem Bundesgericht begründet (E.1.2).

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_284/2024 vom 4. September 2024 dann wie folgt zur Verletzung des Anklagegrundsatzes:

«In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich vom 27. Juni 2022 wird ihm unter dem Titel der versuchten Tötung (Dossier 1) vorgeworfen, er habe am 7. Mai 2021 um 16.33 Uhr die ihm unbekannte Beschwerdegegnerin 2 willentlich und mit grosser Kraft gegen den Rücken auf die Gleise gestossen, obwohl er gesehen habe, dass ein Zug im Begriff gewesen sei, auf dem entsprechenden Gleis einzufahren resp. obwohl er gewusst und in Kauf genommen habe, dass jederzeit ein Zug einfahren könnte. Er habe auch gewusst, dass die Beschwerdegegnerin 2 durch sein Tun hätte verletzt oder getötet werden können, wenn sie auf den Gleisen liegen geblieben wäre und der Lokomotivführer die Bremsung nicht richtig durchgeführt hätte. Glücklicherweise habe die Beschwerdegegnerin 2 aber rasch reagiert und es geschafft, sich sogleich zu erheben und auf das Perron zurückzukehren, wobei zwischen dem Sturz und der Rückkehr auf das Perron 4 Sekunden vergangen seien. Als die Beschwerdegegnerin 2 auf die Gleise gefallen sei, habe der Zug noch einen Abstand von ca. 50 Metern zu ihr gehabt und sei mit mindestens 10 km/h und maximal 27 km/h unterwegs gewesen. Der Lokomotivführer, der die stürzende Beschwerdegegnerin 2 gesehen und realisiert habe, dass sie sich sogleich wieder aufs Perron habe retten können, habe den Zug durch eine normale Bremsung anhalten können. Dies ungefähr in dem Bereich, wo die Beschwerdegegnerin 2 vorher auf das Gleis gestürzt war.» (E.1.2.1).

«Der Tatbestand der Gefährdung des Lebens verlangt, dass der Täter einen Menschen in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr bringt (Art. 129 StGB). Dem Beschwerdeführer ist zuzustimmen, dass sich aus dem vorstehenden Sachverhalt weder in objektiver Hinsicht ergibt, dass die Beschwerdegegnerin 2 durch sein Tun in unmittelbarer Lebensgefahr gewesen wäre, noch, subjektiv, dass der Beschwerdeführer skrupellos gehandelt hätte. Dass er den Tod der Beschwerdegegnerin 2 zumindest in Kauf nahm, genügt nicht. Es ist direkter Vorsatz hinsichtlich der unmittelbaren Lebensgefahr vorausgesetzt (vgl. BGE 142 IV 245 E. 2.1; 133 IV 1 E. 5.1; Urteil 6B_729/2019 vom 1. Mai 2020 E. 2.2.2 mit Hinweis). In tatsächlicher Hinsicht ging die Staatsanwaltschaft zudem davon aus, dass der Zug normal zum Stillstand gebracht werden konnte, nachdem der Zugführer die Gefahr rechtzeitig erkannt und gesehen hatte, dass sich die Beschwerdegegnerin 2 bereits wieder aufs Perron gerettet hatte. Unter den gegebenen Umständen musste der Beschwerdeführer nicht mit einer Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens rechnen und eine solche scheidet aus. Dies gilt umso mehr, als die Anklage auch den entsprechenden Tatbestand nicht nennt, sondern einzig denjenigen der versuchten vorsätzlichen Tötung aufführt. Der Anklagegrundsatz ist verletzt.» (E.1.2.2).

«Es kann offenbleiben, ob die Vorinstanz auch Art. 344 StPO verletzt, bzw. ob der Beschwerdeführer genügend Zeit gehabt hat, sich im Rahmen der Berufungsverhandlung gegen die abweichende rechtliche Würdigung des Anklagesachverhalts als Gefährdung des Lebens anstelle des Vorwurfs der versuchten vorsätzlichen Tötung zu äussern. Auch auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers, insbesondere hinsichtlich des Sachverhalts sowie dessen rechtlicher Würdigung braucht nicht eingegangen zu werden. Gleiches gilt mit Bezug auf die Strafzumessung und die Landesverweisung.» (E.1.2.3).

Bezüglich der Gutheissung der Beschwerde im Urteil 6B_284/2024 vom 4. September 2024 äussert sich das Bundesgericht wie folgt:

«Die Beschwerde ist gutzuheissen und das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Die Vorinstanz, an welche die Sache zurückzuweisen ist, wird entweder den Sachverhalt unter dem Tatbestand der versuchten vorsätzlichen Körperverletzung zu würdigen oder die Angelegenheit zur Ergänzung der Anklage an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen haben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben und der Beschwerdeführer hat zuhanden seines amtlichen Verteidigers Anspruch auf eine angemessene Parteientschädigung. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist als gegenstandslos abzuschreiben (Art. 64 ff. BGG).» (E.2).

 

 

 

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