Verbot der reformatio in peius i.S.v. Art. 391 Abs. 2 StPO im Berufungsverfahren

Im Urteil 7B_469/2023 vom 3. September 2024 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht mit der Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem «Verbot der reformatio in peius» nach Art. 391 Abs. 2 StPO im Berufungsverfahren (bei fehlender Berufung oder Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft). Das Bundesgericht entschied den Fall mit den folgenden zwei Absätzen: «Nach Art. 391 Abs. 1 StPO ist die Rechtsmittelinstanz bei ihrem Entscheid nicht gebunden an die Begründungen der Parteien (lit. a) und an die Anträge der Parteien, ausser wenn sie Zivilklagen beurteilt (lit. b). Sie darf gemäss Absatz 2 derselben Bestimmung Entscheide nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person abändern, wenn das Rechtsmittel nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist. Vorbehalten bleibt eine strengere Bestrafung aufgrund von Tatsachen, die dem erstinstanzlichen Gericht nicht bekannt sein konnten. Weiter darf sie gemäss Art. 391 Abs. 3 StPO Entscheide im Zivilpunkt nicht zum Nachteil der Privatklägerschaft abändern, wenn nur von dieser ein Rechtsmittel ergriffen worden ist. Das Bundesgericht hat in BGE 147 IV 167 erwogen, die in Art. 391 Abs. 2 StPO vorgesehene Schutzwirkung würde vereitelt, wenn die Anschlussberufung das Schlechterstellungsverbot überschiessend – über die zulasten des Beschuldigten gestellten Anträge hinaus – beseitigen würde. Dies gelte sinngemäss auch, wenn zulasten der beschuldigten Person eigenständig Berufung erhoben werde. Ein zulasten des Beschuldigten erhobenes Rechtsmittel mache den erstinstanzlichen Entscheid im Rahmen der gestellten Anträge zum Gegenstand des zweitinstanzlichen Prozesses (a.a.O. E. 1.5.3 mit Hinweisen; etwa bestätigt in: Urteile 6B_1524/2022 vom 7. Juni 2024 E. 3.2.2; 6B_652/2023 vom 11. Dezember 2023 E. 5.3.2; vgl. zum Verbot der „reformatio in peius“ auch BGE 149 IV 91).» (E.2.2). «Die Staatsanwaltschaft hat die erstinstanzliche Strafzumessung weder selbständig noch mit Anschlussberufung angefochten, was ihr frei gestanden wäre. Sie hat sich vor Vorinstanz einzig gegen die erstinstanzlich nicht angeordnete Landesverweisung gewendet. Insoweit steht es in Einklang mit Bundesrecht, wenn sich die Vorinstanz für die Frage der Strafzumessung an die vom Beschuldigten gestellten Anträge und somit an das Verbot der „reformatio in peius“ nach Art. 391 Abs. 2 StPO gebunden sieht. Denn die Anträge des Beschuldigten zielten einzig auf eine Reduktion der Strafe, und nicht etwa auf eine Erhöhung, ab.» (E.2.3).

Sachverhalt

Das Bezirksgericht Lenzburg verurteilte A. am 11. August 2022 wegen einfacher und qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfacher Widerhandlung gegen das Sprengstoffgesetz und mehrfacher Widerhandlung gegen das Waffengesetz zu einer unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 24 Monaten. Von einer Landesverweisung sah das Bezirksgericht Lenzburg ab.

Instanzenzug

Gegen dieses Urteil erhob A. Berufung betreffend die Strafzumessung und die Kostenverlegung. Die Staatsanwaltschaft erhob Berufung gegen die erstinstanzlich nicht angeordnete Landesverweisung. Der amtliche Verteidiger führte Beschwerde gegen die Festsetzung seines Honorars.

Das Obergericht des Kantons Aargau stellte am 7. März 2023 die Rechtskraft verschiedener Punkte des erstinstanzlichen Urteils (Schuldsprüche, Verfügung über die Beschlagnahmungen) fest. Es verurteilte A. zu einer unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 24 Monaten, unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungshaft. Weiter verwies es A. für acht Jahre des Landes und setzte die erst- und zweitinstanzlichen Verfahrenskosten und Entschädigungen fest.

Weiterzug ans Bundesgericht

Gegen dieses Urteil führt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht (Verfahren 7B_469/2023). Sie beantragt, das angefochtene Urteil sei hinsichtlich der Strafzumessung aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_469/2023 vom 3. September 2024  

Die Beschwerdeführerin (Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau) macht gemäss Bundesgericht geltend, die Voraussetzungen für die Anwendung des Verbots der „reformatio in peius“ nach Art. 391 Abs. 2 StPO seien vorliegend nicht gegeben. Der Beschuldigte habe das Strafmass und die Staatsanwaltschaft die erstinstanzlich nicht angeordnete Landesverweisung mittels Berufung angefochten. Die Rechtsmittel seien damit nicht ausschliesslich zugunsten der beschuldigten Person ergriffen worden. Das Verschlechterungsverbot gelte nicht für jene Punkte, hinsichtlich derer die beschuldigte Person Berufung führe, sofern auch die Staatsanwaltschaft (in anderen Punkten) Berufung führe. Weder das Gesetz noch die Rechtsprechung würden einen grundsätzlichen Konnex zwischen den Anträgen verlangen, die eine Verschlechterung des Urteils herbeiführen sollen, und anderen Punkten, die von Amtes wegen zu diskutieren seien. Insoweit wende die Vorinstanz Art. 391 Abs. 2 StPO falsch an und nehme eine unvollständige Strafzumessung (Art. 47 und Art. 49 StGB) vor (E.2.1).

Das Bundesgericht führt im Urteil 7B_469/2023 vom 3. September 2024 kurz und bündig aus:

«Nach Art. 391 Abs. 1 StPO ist die Rechtsmittelinstanz bei ihrem Entscheid nicht gebunden an die Begründungen der Parteien (lit. a) und an die Anträge der Parteien, ausser wenn sie Zivilklagen beurteilt (lit. b). Sie darf gemäss Absatz 2 derselben Bestimmung Entscheide nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person abändern, wenn das Rechtsmittel nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist. Vorbehalten bleibt eine strengere Bestrafung aufgrund von Tatsachen, die dem erstinstanzlichen Gericht nicht bekannt sein konnten. Weiter darf sie gemäss Art. 391 Abs. 3 StPO Entscheide im Zivilpunkt nicht zum Nachteil der Privatklägerschaft abändern, wenn nur von dieser ein Rechtsmittel ergriffen worden ist. Das Bundesgericht hat in BGE 147 IV 167 erwogen, die in Art. 391 Abs. 2 StPO vorgesehene Schutzwirkung würde vereitelt, wenn die Anschlussberufung das Schlechterstellungsverbot überschiessend – über die zulasten des Beschuldigten gestellten Anträge hinaus – beseitigen würde. Dies gelte sinngemäss auch, wenn zulasten der beschuldigten Person eigenständig Berufung erhoben werde. Ein zulasten des Beschuldigten erhobenes Rechtsmittel mache den erstinstanzlichen Entscheid im Rahmen der gestellten Anträge zum Gegenstand des zweitinstanzlichen Prozesses (a.a.O. E. 1.5.3 mit Hinweisen; etwa bestätigt in: Urteile 6B_1524/2022 vom 7. Juni 2024 E. 3.2.2; 6B_652/2023 vom 11. Dezember 2023 E. 5.3.2; vgl. zum Verbot der „reformatio in peius“ auch BGE 149 IV 91).» (E.2.2).

«Die Staatsanwaltschaft hat die erstinstanzliche Strafzumessung weder selbständig noch mit Anschlussberufung angefochten, was ihr frei gestanden wäre. Sie hat sich vor Vorinstanz einzig gegen die erstinstanzlich nicht angeordnete Landesverweisung gewendet. Insoweit steht es in Einklang mit Bundesrecht, wenn sich die Vorinstanz für die Frage der Strafzumessung an die vom Beschuldigten gestellten Anträge und somit an das Verbot der „reformatio in peius“ nach Art. 391 Abs. 2 StPO gebunden sieht. Denn die Anträge des Beschuldigten zielten einzig auf eine Reduktion der Strafe, und nicht etwa auf eine Erhöhung, ab.» (E.2.3).

Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau ab (E.3).

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