Roger Harris nicht zur Beschwerde gegen ihn betreffenden Ausstandsbeschlüsse legitimiert

Das Bundesgericht befasste sich im Urteil 1B_643/2022, 1B_645/2022 vom 6. April 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) aus dem Kanton Zürich mit dem Thema der Beschwerdelegitimation des aus den Massenmedien bekannten Richters Roger Harris gegen ihn betreffende Ausstandsgesuche. Dazu das Bundesgericht: «[…], dass ein Richter gegen die Gutheissung eines gegen ihn eingereichten Ablehnungsbegehrens ebensowenig zur Beschwerde befugt sei wie gegen die Aufhebung eines von ihm erlassenen Entscheids durch die Rechtsmittelinstanz […]. An dieser Rechtsprechung, die unter der Geltung des Bundesrechtspflegegesetzes vom 16. Dezember 1943 (BS 3 531) zur staatsrechtlichen Beschwerde erging, ist auch nach dem Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) vom 17. Juni 2005 festzuhalten.» (E.2).

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl führt gegen A. und B. ein Strafverfahren wegen Nötigung im Zusammenhang mit der Teilnahme an einer Aktion der Organisation „C. „. Nachdem die beiden Beschuldigten Einsprache gegen die sie betreffenden Strafbefehle eingelegt hatten, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Bezirksgericht Zürich. Mit Verfügung vom 26. Juli 2022 (im Verfahren von A.) bzw. vom 21. September 2022 (im Verfahren von B.) wurde die Hauptverhandlung angesetzt und angekündigt, dass Vizepräsident Roger Harris der zuständige Einzelrichter sei. Am 29. September 2022 stellte die Staatsanwaltschaft Zürich beim Obergericht des Kantons Zürich in beiden Verfahren ein Ausstandsgesuch. Sie machte geltend, Vizepräsident Harris habe in einem parallel laufenden Verfahren mit einem mehr oder weniger identischen Tatvorwurf die beschuldigte Person freigesprochen und an der Hauptverhandlung mit seinen Äusserungen den Eindruck erweckt, er werde in künftigen Fällen ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls gleich entscheiden.

Mit zwei im Wesentlichen identischen Beschlüssen vom 14. November 2022 hiess das Obergericht die Ausstandsgesuche gut.

Mit zwei – ebenfalls im Wesentlichen identischen – Beschwerden in Strafsachen vom 22. Dezember 2022 beantragt Roger Harris dem Bundesgericht, die Beschlüsse des Obergerichts seien aufzuheben und es sei festzustellen, dass er nicht befangen sei. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Staatsanwaltschaft beantragt, auf die Beschwerden nicht einzutreten, und eventualiter, sie abzuweisen. Das Obergericht hat auf eine Stellungnahme verzichtet.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_643/2022, 1B_645/2022 vom 6. April 2023

Die beiden im Wesentlichen gleichlautenden Beschwerden richten sich gemäss Bundesgericht gegen zwei praktisch identische Entscheide des Obergerichts. Sie hängen inhaltlich eng zusammen. Es rechtfertigt sich deshalb, die Verfahren in sinngemässer Anwendung von Art. 24 BZP (in Verbindung mit Art. 71 BGG) zusammenzufassen und durch ein einziges Urteil zu erledigen (Urteil 1C_679/2021 vom 23. September 2022 E. 1 mit Hinweis).

Zur Frage der Beschwerdelegitimation von Richterpersonen äusserte sich das Bundesgericht im Urteil 1B_643/2022, 1B_645/2022 vom 6. April 2023 zunächst allgemein wie folgt:

«Gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Erhebung einer Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b).

In Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG werden in einer nicht abschliessenden Aufzählung unter anderem die beschuldigte Person (Ziff. 1) und die Staatsanwaltschaft genannt (Ziff. 3); die von einem Ausstandsentscheid betroffene Gerichtsperson wird dagegen nicht aufgeführt. Die Bestimmung ist als „Generalklausel mit Regelbeispielen“ konzipiert. Dies bedeutet zum einen, dass die Aufzählung, wie bereits erwähnt, nicht abschliessend ist. Zum andern hat aber auch nicht in jedem Fall ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung eines Entscheids in einer Strafsache, wer in der Aufzählung ausdrücklich genannt ist. Mit anderen Worten verleiht die Bestimmung von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG nicht selbst das rechtlich geschützte Interesse, welches sie voraussetzt (BGE 139 IV 121 E. 4.2 mit Hinweisen und Beispielen).» (E.2)

Zur Beschwerdelegitimation von Richter Roger Harris als vom Ausstandsbegehren bzw. -beschluss betroffener Person äussert sich dann das Bundesgericht im Urteil 1B_643/2022, 1B_645/2022 vom 6. April 2023 wie folgt und verneint diese:

«Aus der Beschwerdeschrift geht hervor, dass sich der Beschwerdeführer zum einen als Privatperson zur Beschwerde legitimiert betrachtet, weil er durch die Feststellungen des Obergerichts in seiner beruflichen Ehre und damit in seiner Persönlichkeit verletzt werde (Art. 28 ZGB). Die an ihm geäusserte Kritik könne sich negativ auf seine Mitarbeiterbeurteilung, die Lohnentwicklung und seine Beförderungschancen auswirken. Zum andern macht er geltend, er erfülle nach der Auffassung des Obergerichts den Anspruch auf den gesetzlichen Richter nicht, weshalb er als betroffener Richter ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids habe. 

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers betrifft ihn der Entscheid, die gegen ihn gerichteten Ausstandsgesuche gutzuheissen, einzig in seiner amtlichen Eigenschaft (vgl. BGE 107 Ia 266). Eine Disziplinarmassnahme oder eine andere Anordnung, die ihn in seiner privaten Rechtssphäre treffen würde, wurde nicht erlassen. Der Hinweis, dass künftig derartige Anordnungen (bspw. eine lohnwirksame Massnahme) erfolgen könnten, geht deshalb an der Sache vorbei bzw. über den Streitgegenstand hinaus. Bloss theoretisch mögliche, künftige Auswirkungen vermögen kein schutzwürdiges Interesse zu begründen. Der Streitgegenstand umfasst einzig die Ausstandsfrage, selbst wenn die Behauptung des Beschwerdeführers, dass einzelne Feststellungen in der Entscheidbegründung sein Persönlichkeitsrecht tangieren, zutreffen würde. 

Zur Beschwerdebefugnis des Richters in seiner amtlichen Eigenschaft hat das Bundesgericht im soeben zitierten BGE 107 Ia 266 dargelegt, dass ein Richter gegen die Gutheissung eines gegen ihn eingereichten Ablehnungsbegehrens ebensowenig zur Beschwerde befugt sei wie gegen die Aufhebung eines von ihm erlassenen Entscheids durch die Rechtsmittelinstanz (a.a.O., S. 269). An dieser Rechtsprechung, die unter der Geltung des Bundesrechtspflegegesetzes vom 16. Dezember 1943 (BS 3 531) zur staatsrechtlichen Beschwerde erging, ist auch nach dem Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) vom 17. Juni 2005 festzuhalten (vgl. zum Beschwerderecht nach Art. 81 BGG auch BGE 133 IV 121 E. 1.2). Ein Richter oder eine Richterin hat keinen eigenen Anspruch, an einem bestimmten Verfahren mitzuwirken (BENJAMIN SCHINDLER, Die Befangenheit der Verwaltung, 2002, S. 206; BREITENMOSER/SPORI FEDAIL, in: Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2016, N. 119 zu Art. 10 VwVG; GEROLD STEINMANN, in: St. Galler Kommentar, Die Schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl. 2014, N. 29 zu Art. 30 BV).» (E.2 a.E.)

Das Bundesgericht trat folglich auf die Beschwerde nicht ein (E.3).

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