Sachverhalt und Instanzenzug
Der Mann lebt seit 1999 in der Schweiz und war praktisch durchgehend arbeitstätig. Er hat vier volljährige Kinder, deren Mutter 2013 verstorben ist. Der älteste Sohn ist schwerstbehindert und lebt in einem Heim. Im September 2020 kam es am Arbeitsplatz des Mannes auf einer Baustelle zu einem Konflikt mit einem Landsmann, in dessen Verlauf er mit einem Messer auf seinen Kontrahenten einstach. Das Solothurner Obergericht verurteilte den Täter 2023 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsstrafe; zudem ordnete es eine zehnjährige Landesverweisung an.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1272/2023 vom 30. Oktober 2024
Zusammenfassung
Das Bundesgericht heisst im Urteil 6B_1272/2023 vom 30. Oktober 2024 die Beschwerde des Mannes teilweise gut. Bezüglich der Landesverweisung liegt ein persönlicher Härtefall vor. Auf die übrigen, erfolglosen Rügen wird hier nicht eingegangen.
Der Betroffene hat in der Schweiz einen schwerstbehinderten Sohn, der in einem Heim lebt und intensiv betreut werden muss. Der Vater besucht ihn bis heute regelmässig und verbringt Zeit mit ihm. Es ist naheliegend und natürlich, dass der Beschwerdeführer seinen Sohn in Form von regelmässigen Besuchen weiter stützen will, zumal dessen Mutter bereits vor Jahren verstarb. Die Kontaktpflege zwischen dem Vater und dem Sohn fällt in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK). Der Sohn selber kann keine eigenständigen sozialen Kontakte pflegen. Seinen Vater könnte er nicht oder nur unter extrem erschwerten Bedingungen im Ausland besuchen. Die Tat wiegt ausserordentlich schwer. Allerdings weist der Beschwerdeführer ausser eines Bagatelldelikts keine Vorstrafen auf. Aufgrund der Umstände ist nicht ausgeschlossen, dass er die Tat vor dem Hintergrund eines isolierten Konflikts begangen haben könnte, der sich über einen längeren Zeitraum anbahnte und dass es sich dabei um ein einmaliges Ereignis handelte. Die Sache wird zu neuem Entscheid ans Obergericht zurückgewiesen. Dieses wird das Interesse des Beschwerdeführers gegenüber dem öffentlichen Interesse abwägen und dabei insbesondere prüfen müssen, ob vom Beschwerdeführer eine konkrete Rückfallgefahr für Gewaltstraftaten ausgeht, die seinem Recht auf Besuche bei seinem Sohn entgegensteht, erklärt das Bundesgericht.
Schlüsselstellen des Leiturteils 6B_1272/2023 vom 30. Oktober 2024
Das Bundesgericht äusserte sich im Urteil 6B_1272/2023 vom 30. Oktober 2024 zuerst allgemein wie folgt:
«Gemäss Art. 66a Abs. 2 Satz 1 StGB kann das Gericht ausnahmsweise von einer obligatorischen Landesverweisung im Sinne von Art. 66a Abs. 1 StGB absehen, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 Satz 2 StGB).» (E.5.2.1).
«Ob ein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vorliegt, bestimmt sich anhand der gängigen Integrationskriterien (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1; 147 IV 453 E. 1.4.5; 146 IV 105 E. 3.4.2 und 3.4.4; 144 IV 332 E. 3.3.2). Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiäre Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, die Aufenthaltsdauer, der Gesundheitszustand sowie die Möglichkeiten für eine Wiedereingliederung im Herkunftsstaat und die Resozialisierungschancen in der Schweiz (vgl. Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201]; BGE 149 IV 231 E. 2.1.1; 147 IV 453 E. 1.4.5; 144 IV 332 E. 3.3.2; Urteile 6B_518/2023 vom 6. März 2024 E. 5.2.2; 6B_1040/2023 vom 6. März 2024 E. 5.2.2). Eine bestimmte Anwesenheitsdauer führt nicht automatisch zur Annahme eines Härtefalls. Die Härtefallprüfung ist in jedem Fall anhand der gängigen Integrationskriterien vorzunehmen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.4). Art. 66a StGB ist EMRK-konform auszulegen. Von einem schweren persönlichen Härtefall ist in der Regel bei einem Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auszugehen (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1; 147 IV 453 E. 1.4.5).» (E.5.2.2).
«Die Interessenabwägung im Rahmen der Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB hat sich an der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu orientieren (vgl. BGE 146 IV 105 E. 4.2; 145 IV 161 E. 3.4). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 EMRK insbesondere Art sowie Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit sowie das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen (Urteile des EGMR E.V. gegen Schweiz vom 18. Mai 2021, Nr. 77220/16, § 34; M.M. gegen Schweiz vom 8. Dezember 2020, Nr. 59006/18, § 49; je mit zahlreichen Hinweisen). Sodann ist dem Alter der Person im Zeitpunkt der Straftaten sowie den weiteren Umständen beispielsweise medizinischer Natur Rechnung zu tragen (Urteile des EGMR E.V. gegen Schweiz vom 18. Mai 2021, Nr. 77220/16, §§ 35 f.; M.M. gegen Schweiz vom 8. Dezember 2020, Nr. 59006/18, §§ 50 f.). Ist das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens tangiert, ist zwingend eine Verhältnismässigkeitsprüfung im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vorzunehmen (vgl. Art. 8 Ziff. 2 EMRK; Art. 13 i.V.m. Art. 36 BV).» (E.5.2.3).
Fallbezogen fährt das Bundesgericht im Urteil 6B_1272/2023 vom 30. Oktober 2024 fort:
«Die Vorinstanz verneint einen schweren persönlichen Härtefall. Sie anerkennt zwar, dass der Beschwerdeführer seit dem Jahr 2003 praktisch durchwegs erwerbstätig war, dies insbesondere auch in der Zeit nach dem Tod seiner Ehefrau im Jahr 2013, als er alleinerziehender Vater dreier Kinder war. Auch unmittelbar nach seiner Haftentlassung am 22. Dezember 2020 habe er sich unverzüglich um eine neue Arbeitsstelle bemüht, welche er im März 2021 habe antreten können. Er sei von seinen Vorgesetzten stets als sehr guter und gewissenhafter Mitarbeiter bezeichnet und geschätzt worden. Er sei abgesehen von einem „Bagatellvergehen“ nicht vorbestraft und gelte daher als Ersttäter. Allerdings verfüge er über kein wirklich tragfähiges Netzwerk in der Schweiz, das über eine Beziehung zu seiner hier lebenden Verwandtschaft und Arbeitskollegen, mit welchen er ab und an einen Kaffee trinke, hinausgehe. Besonders intensive, über eine normale Integration hinausgehende private Beziehungen gesellschaftlicher Art seien nicht zu erkennen. Auch die sprachliche Integration des Beschwerdeführers in der Schweiz sei nur bedingt geglückt. Trotz seiner über 20-jährigen Anwesenheit in der (Deutsch-) Schweiz sei er der deutschen Sprache nur in beschränktem Masse mächtig (angefochtenes Urteil E. 3.2 S. 39 f.). Dem Beschwerdeführer sei eine Rückkehr in den Kosovo zumutbar. Die Resozialisierungschancen in seinem Heimatland seien intakt. Der Beschwerdeführer habe dort eine Schwester und einen Bruder, zu welchen er gute Kontakte pflege, er sei vor der Pandemie regelmässig (zweimal pro Jahr) in den Kosovo gereist und er sei mit der dortigen Kultur vertraut. Der Kontakt des Beschwerdeführers zu seinem in einer Pflegeeinrichtung wohnenden behinderten Sohn werde bereits durch die Verbüssung der mehrjährigen Haftstrafe für lange Zeit abbrechen. Das Verhältnis zu seinen volljährigen Söhnen falle nicht unter das geschützte Familienleben, da kein über die üblichen familiären Beziehungen bzw. emotionalen Bindungen hinausgehendes Abhängigkeitsverhältnis bestehe (angefochtenes Urteil S. 41).» (E.5.3.2).
«Der Beschwerdeführer hält dem entgegen, sein ältester Sohn sei auf seine psychische und physische Unterstützung angewiesen. Er betreue diesen – entgegen der Darstellung der Vorinstanz – soweit möglich mit. Der regelmässige Kontakt mit ihm sei für seinen ältesten Sohn sehr wichtig. Seine Besuche seien ihm in seiner sehr schwierigen Lebenssituation immer ein Lichtblick. Hinzu komme, dass sich die gesundheitliche Situation seines ältesten Sohnes dieses Jahr verschlechtert habe. Er sei dreimal ins Spital eingewiesen worden. Unzutreffend seien zudem die Ausführungen der Vorinstanz, wonach durch die Verbüssung der mehrjährigen Haftstrafe der Kontakt zu seinem Sohn sowieso abbrechen würde. Gerichtsnotorisch sei, dass bei mehrjährigen Haftstrafen, bei denen keine Fluchtgefahr bestehe, Urlaube schon nach kurzer Zeit möglich seien. Entgegen der Vorinstanz sei er in der Schweiz zudem in jeder Hinsicht gut integriert, wovon zuvor auch die erste Instanz ausgegangen sei. Er verfüge über gute Deutschkenntnisse. Er habe im Jahr 2016 seine Ausbildung zum Kranführer in der Schweiz abgeschlossen, was für ein gewisses Sprachniveau spreche. Er sei in der Schweiz verwurzelt und sozialisiert und verfüge hier entgegen der Vorinstanz über intensive private und gesellschaftliche Bindungen. Dass er mehrheitlich seine Freunde auf der Baustelle gefunden habe und die Menschen dort häufig nicht Schweizer seien, dürfe ihm nicht negativ angelastet werden. Ein Rückfallrisiko oder eine Gefahr für die Allgemeinheit sei nicht auszumachen. Er sei Ersttäter und er habe sich auch nach seiner Haftentlassung – mit Ausnahme eines Bagatellverstosses gegen SVG-Vorschriften – nie irgend etwas zuschulden kommen lassen. Er bagatellisiere sein Verhalten nicht und schiebe die Schuld auch nicht auf das Opfer, sondern er habe sich in Bezug auf sein Erleben der Geschehnisse am Tag der Tat lediglich verteidigt. Die Vorinstanz unterstelle ihm zu Unrecht, er habe nichts aus der Tat gelernt. Es gebe keine Hinweise, dass er je wieder in derselben Art straffällig werden könnte.» (E.5.4).
Das Bundesgericht kommt alsdann im Urteil 6B_1272/2023 vom 30. Oktober 2024 mit den folgenden Ausführungen zur Gutheissung der Beschwerde:
«Das durch Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser ohne Weiteres möglich bzw. zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (BGE 144 I 266 E. 3.3; 144 II 1 E. 6.1; je mit Hinweisen). Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie, d.h. die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern (BGE 149 I 207 E. 3 und 5.3; 147 I 268 E. 1.2.3; 145 I 227 E. 3.1 und 5.3; 144 I 266 E. 3.3; 144 II 1 E. 6.1; je mit Hinweisen). Nach der ausländerrechtlichen Rechtsprechung ist es unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf Familienleben (Art. 8 Ziff. 1 EMRK sowie Art. 13 Abs. 1 BV) grundsätzlich ausreichend, wenn der nicht obhutsberechtigte Elternteil das Besuchsrecht im Rahmen von Kurzaufenthalten, Ferienbesuchen oder über die modernen Kommunikationsmittel vom Ausland her wahrnehmen kann, wobei allenfalls die Modalitäten des Besuchsrechts entsprechend auszugestalten sind. Die ausländerrechtliche Rechtsprechung verneint einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK und Art. 13 BV geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens, wenn der nicht obhutsberechtigte ausländische Elternteil die familiäre Beziehung mit seinem Kind von vornherein nur in beschränktem Rahmen pflegen kann, nämlich im Rahmen des ihm eingeräumten Besuchsrechts. Um dieses wahrnehmen zu können, ist es nach der Rechtsprechung in der Regel nicht erforderlich, dass der ausländische Elternteil dauerhaft im selben Land wie das Kind lebt und dort über ein dauerndes Anwesenheitsrecht verfügt (BGE 147 I 149 E. 4; 144 I 91 E. 5.1; 143 I 21 E. 5.3; je mit Hinweisen). Ein weitergehender Anspruch fällt nur dann in Betracht, wenn in wirtschaftlicher und affektiver Hinsicht eine besonders enge Beziehung zum Kind besteht, diese Beziehung wegen der Distanz zum Heimatland des Ausländers praktisch nicht aufrechterhalten werden könnte und dessen bisheriges Verhalten in der Schweiz zu keinerlei Klagen Anlass gegeben hat (BGE 147 I 149 E. 4; 144 I 91 E. 5.2; 143 I 21 E. 5.2; 142 II 35 E. 6.2; je mit Hinweisen). Art. 8 EMRK gelangt bei der Beurteilung des Anspruchs auf umgekehrten Familiennachzug beispielsweise daher dann nicht zur Anwendung, wenn das Besuchsrecht im Kanton Waadt von Frankreich her wahrgenommen werden kann, wo der betreffende Elternteil über ein Aufenthaltsrecht verfügt (BGE 144 I 91 E. 5.1 mit Hinweis). Das Verhältnis zu volljährigen Kindern fällt nach der ausländerrechtlichen Rechtsprechung nur dann unter das geschützte Familienleben, wenn ein über die üblichen familiären Beziehungen bzw. emotionalen Bindungen hinausgehendes, besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht, namentlich infolge von Betreuungs- oder Pflegebedürfnissen bei körperlichen oder geistigen Behinderungen und schwerwiegenden Krankheiten (BGE 147 I 268 E. 1.2.3; 145 I 227 E. 3.1; 144 II 1 E. 6.1; je mit Hinweisen). Unabhängig vom Vorliegen einer familiären Beziehung kann die Verweigerung oder Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) verletzen, namentlich bei Ausländern der zweiten Generation, im Übrigen aber nur unter besonderen Umständen: Eine lange Anwesenheit und die damit verbundene normale Integration genügen hierzu nicht; erforderlich sind besonders intensive, über eine normale Integration hinausgehende private Beziehungen beruflicher oder gesellschaftlicher Natur (BGE 149 I 207 E. 5.3.1; 144 I 266 E. 3.4; 144 II 1 E. 6.1; 130 II 281 E. 3.2.1; je mit Hinweisen).» (E.5.6.1).
«Diese Rechtsprechung betrifft die Frage nach dem Anspruch auf ein dauerhaftes Anwesenheitsrecht in der Schweiz, insbesondere auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des umgekehrten Familiennachzugs (vgl. insb. BGE 147 I 268; 145 I 227; 143 I 21; 144 I 91) oder gestützt auf das Recht auf Achtung des Privatlebens (vgl. insb. BGE 149 I 207 und 144 I 266). In letzterem Fall ist wie dargelegt zu prüfen, ob eine ein dauerndes Anwesenheitsrecht begründende, über eine normale Integration hinausgehende „besondere Verwurzelung“ in den hiesigen Verhältnissen besteht (BGE 149 I 207 E. 5.3.1; 144 I 266 E. 3.4; oben E. 5.6.1). Die Rechtsprechung gilt auch für die Landesverweisung, die den Entzug der Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung zur Folge hat (vgl. etwa Urteile 6B_108/2024 vom 1. Mai 2024 E. 5; 6B_1248/2023 vom 9. April 2024 E. 3.3; 6B_577/2022 vom 18. März 2024 E. 1.2.2). Bei der Frage, ob der Anspruch auf Achtung des Privat- oder Familienlebens durch eine Landesverweisung tangiert ist, ist jedoch zusätzlich zu beachten, dass die Landesverweisung – anders als die blosse Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung – zwingend mit einem Einreiseverbot einhergeht (vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. d AIG). Bei der Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung wird demgegenüber lediglich der dauernde Aufenthalt und das Zusammenleben in der Schweiz mit anderen Personen verunmöglicht. Die ausländerrechtliche Rechtsprechung stellt für den Eingriff in Art. 8 EMRK daher wesentlich darauf ab, ob der um eine Aufenthaltsbewilligung ersuchende Elternteil mit seinen Kindern zusammenlebt. Regelmässige Besuche in der Schweiz im Rahmen von Kurzaufenthalten zur Pflege der familiären Beziehungen sind nicht von vornherein ausgeschlossen. Der nicht obhutsberechtigte Elternteil kann seine Kinder folglich weiterhin in der Schweiz besuchen, auch wenn er hier über kein dauerndes Aufenthaltsrecht mehr verfügt. Anders verhält es sich bei einer strafrechtlichen Landesverweisung, die solche Kurzaufenthalte in der Schweiz nicht zulässt. Letztere hat im Vergleich zur blossen Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung daher weitreichendere Auswirkungen auf das durch Art. 8 EMRK und Art. 13 BV geschützte Privat- und Familienleben, da sie auch die Ausübung des Besuchsrechts in der Schweiz verunmöglicht. Der unterschiedlichen Tragweite der Landesverweisung ist insbesondere dann Rechnung zu tragen, wenn familiäre Kontakte aufgrund besonderer Umstände nur in der Schweiz gepflegt werden können. Weiter geht eine obligatorische Landesverweisung bei Drittstaatsangehörigen mit langjährigem Aufenthalt in der Schweiz in der Regel mit einer Ausschreibung im SIS einher, da die Landesverweisung in solchen Fällen regelmässig mit der von der betreffenden Person ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Bst. a der Verordnung (EU) 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der Grenzkontrollen (SIS-Verordnung-Grenze, ABl. L 312 vom 7. Dezember 2018 S. 14) begründet wird (BGE 147 IV 340 E. 4.9; 146 IV 172 E. 3.2.2).» (E.5.6.2).
«Der Beschwerdeführer lebt seit mehr als 24 Jahren in der Schweiz. Er hat hier seine Kinder grossgezogen, die in der Schweiz über eine Niederlassungsbewilligung verfügen und teilweise noch mit ihrem Vater im gemeinsamen Haushalt leben, und er pflegt hier freundschaftliche Beziehungen zu Arbeitskollegen. Er ist in der Schweiz abgesehen von einem SVG-Delikt aus dem Jahr 2021 (bedingte Geldstrafe von fünf Tagessätzen) nicht vorbestraft, war hier stets erwerbstätig und hat eine Ausbildung zum Kranführer abgeschlossen. Die Integration des Beschwerdeführers muss daher als gut bezeichnet werden, auch wenn dieser trotz seines langjährigen Aufenthalts in der Schweiz offenbar lediglich gebrochen Deutsch spricht. Insbesondere hat der Beschwerdeführer in der Schweiz jedoch einen schwerstbehinderten erwachsenen Sohn, der auf eine spezielle Betreuung und intensive Pflege angewiesen ist. Gemäss den von der Vorinstanz zitierten Arztberichten leidet der älteste Sohn des Beschwerdeführers an einer schwersten Enzephalopathie mit spastischer Tetraparese (vgl. kant. Akten, act. 952 und 1023). Aufgrund der schweren Behinderung ist davon auszugehen, dass er seinen Vater im Falle einer Landesverweisung nicht oder höchstens unter extrem erschwerten Bedingungen im Kosovo besuchen könnte. Der Beschwerdeführer ist persönlich zwar nicht in der Lage, für die spezielle Betreuung und erforderliche intensive Pflege seines ältesten Sohns aufzukommen. Die Vorinstanz anerkennt jedoch, dass er diesen vor der Covid-19-Pandemie an den Wochenenden jeweils zu sich nach Hause nahm, was derzeit aufgrund der Wohnsituation des Beschwerdeführers nicht mehr möglich ist. Bis heute besucht er seinen ältesten Sohn regelmässig und er verbringt Zeit mit ihm. Die Kontaktpflege des Beschwerdeführers zu seinem schwerstbehinderten erwachsenen Sohn fällt in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV (vgl. BGE 115 Ib 1 E. 2d). Der Sohn des Beschwerdeführers kann soziale Kontakte angesichts seiner Erkrankung nicht eigenständig pflegen. Er ist daher auf Besuche durch seine Angehörigen angewiesen, ansonsten sich seine soziale Interaktion auf das Pflegepersonal beschränken würde. Es ist naheliegend und natürlich, dass der Beschwerdeführer das Bedürfnis verspürt, seinen schwerst pflegebedürftigen Sohn in seiner schwierigen Situation in Form von regelmässigen Besuchen zu unterstützen, zumal dessen Mutter bereits vor Jahren verstarb. Vor diesem Hintergrund ist ein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB entgegen der Vorinstanz zu bejahen.» (E.5.7.1).
«Der mit einer Landesverweisung einhergehende Eingriff in die gelebte familiäre Beziehung des Beschwerdeführers zu seinem ältesten Sohn ist bei der Härtefallbeurteilung nach Art. 66a Abs. 2 StGB und nicht erst nachträglich im Rahmen einer allfälligen sinngemässen Anwendung von Art. 67 Abs. 5 AIG zu berücksichtigen (vgl. Urteil 6B_1161/2019 vom 13. Oktober 2020 E. 2.2). Gemäss letzterer Bestimmung kann die verfügende Behörde ein Einreiseverbot im Sinne von Art. 67 AIG ausnahmsweise aus humanitären oder anderen wichtigen Gründen vorübergehend aufheben. Die Möglichkeit, eine Landesverweisung im Rahmen des Vollzugs mittels einer Kurzaufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen vorübergehend zu suspendieren, ist weder im StGB noch im AIG explizit geregelt. Die Frage nach der Zulässigkeit einer solchen Ausnahmebewilligung kann auch für die Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Anordnung einer Landesverweisung von Bedeutung sein. Ob Art. 67 Abs. 5 AIG auf die Landesverweisung sinngemäss anwendbar ist (bejahend etwa: BUSSLINGER/ UEBERSAX, Härtefallklausel und migrationsrechtliche Auswirkungen der Landesverweisung, plädoyer 5/2016, S. 105; MARC SPESCHA, in: Kommentierte Mustereingaben im Verwaltungsrecht, Band I, Informationszugang, Migration, 2020, Rz. 15 S. 244 f.; vgl. dazu auch LUZIA VETTERLI, in: StGB, annotierter Kommentar, Damian K. Graf [Hrsg.], 2020, N. 6 zu Art. 66a StGB), betrifft jedoch eine Frage des Vollzugs der Landesverweisung, für deren Beurteilung die I. strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts nicht zuständig ist. Darauf ist daher nicht weiter einzugehen.» (E.5.7.2).
«Gemäss Art. 84 Abs. 6 StGB ist dem Gefangenen zur Pflege der Beziehungen zur Aussenwelt, zur Vorbereitung seiner Entlassung oder aus besonderen Gründen in angemessenem Umfang Urlaub zu gewähren, soweit sein Verhalten im Strafvollzug dem nicht entgegensteht und keine Gefahr besteht, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht. Art. 84 Abs. 6 StGB statuiert einen Anspruch auf Urlaub in „angemessenem Umfang“. Die Nichtbewilligung von Urlaub oder Ausgang muss sich auf ernsthafte und objektive Gründe stützen (Urteile 1B_142/2023 vom 19. April 2023 E. 3.6; 1B_248/2021 vom 1. Juli 2021 E. 4.2; je mit Hinweisen). Nicht ausgeschlossen ist daher, dass der Beschwerdeführer seinen ältesten Sohn im Rahmen von Hafturlauben auch während des Strafvollzugs besuchen kann. Der Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB kann folglich nicht mit der Begründung verneint werden, der Kontakt des Beschwerdeführers zu seinem Sohn werde ohnehin durch die Verbüssung der Freiheitsstrafe für lange Zeit unterbrochen. Unabhängig davon hat der Beschwerdeführer ein Interesse daran, seinen Sohn nach der Verbüssung der Freiheitsstrafe wieder besuchen zu können. Die Situation ist insofern auch nicht vergleichbar mit einem längeren Unterbruch des Kontakts zu einem Kleinkind, der die Beziehung dauerhaft beeinträchtigen kann.» (E.5.7.3).
«Die Interessenabwägung im Rahmen der Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB hat sich an der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu orientieren (oben E. 5.2.3). Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der öffentlichen Interessen an der Landesverweisung (Urteile 6B_1248/2023 vom 9. April 2024 E. 3.4; 6B_1104/2023 vom 19. März 2024 E. 1.4.3; 6B_577/2022 vom 18. März 2024 E. 1.2.4; 6B_1040/2023 vom 6. März 2024 E. 5.2.5; je mit Hinweisen). Erforderlich ist, dass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit als notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und auf die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_1248/2023 vom 9. April 2024 E. 3.3; 6B_1104/2023 vom 19. März 2024 E. 1.4.3; 6B_577/2022 vom 18. März 2024 E. 1.2.4; 6B_1040/2023 vom 6. März 2024 E. 5.2.5; je mit Hinweisen).» (E.5.8.1).
«Die Tat des Beschwerdeführers wiegt ausserordentlich schwer. Der Beschwerdegegner 2 befand sich in akuter Lebensgefahr. Dass der Tod ausblieb, ist dem Glück und der raschen und adäquaten medizinischen Versorgung bzw. Intervention zuzuschreiben (vgl. angefochtenes Urteil S. 44). Alleine daraus lässt sich vorliegend jedoch nicht auf eine vom Beschwerdeführer ausgehende gegenwärtige Gefahr und eine negative Legalprognose schliessen. Der Beschwerdeführer hat abgesehen von einem Bagatelldelikt keine Vorstrafen und der angefochtene Entscheid liefert auch keine Anhaltspunkte dafür, dass er sich in der Vergangenheit bei anderen Gelegenheiten gewalttätig zeigte. Die Vorinstanz hält vielmehr fest, er sei von seinen Vorgesetzten stets als sehr guter und gewissenhafter Mitarbeiter bezeichnet und geschätzt worden (angefochtenes Urteil S. 40). Die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschwerdegegner 2 war gemäss der Vorinstanz durch wiederkehrende Streitereien vorbelastet, derentwegen sowohl der Beschwerdeführer als auch der Beschwerdegegner 2 zuvor vom Arbeitgeber verwarnt worden waren. Es handelte sich gemäss der Vorinstanz um einen seit Wochen schwelenden Konflikt, wobei die Auseinandersetzung am 17. September 2020 das Fass für den Beschwerdeführer zum Überlaufen gebracht habe (angefochtenes Urteil S. 35 und 37). Über den Inhalt dieses Konflikts lässt sich dem angefochtenen Entscheid nichts entnehmen, es sei denn, dass sich der Beschwerdegegner 2 am Tattag auf die Sitzbank legte, auf welcher der Beschwerdeführer für gewöhnlich sein Mittagessen einnahm, und er sich weigerte, aufzustehen. Fest steht zudem, dass der Beschwerdeführer aus einer grossen Wut heraus handelte, da er gemäss dem Zeugen D. „fuchsteufelswild“ und „furchtbar wutentbrannt“ war (vgl. angefochtenes Urteil S. 24). Wer mit den Tätlichkeiten angefangen hat, liess sich gemäss dem angefochtenen Entscheid beweismässig nicht erstellen (angefochtenes Urteil S. 35). Nicht ausgeschlossen ist somit, dass der Beschwerdeführer die Tat vor dem Hintergrund eines isolierten, sich über einen längeren Zeitraum angebahnten Konflikts beging und es sich um ein einmaliges Ereignis handelte. Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe nichts aus seiner Tat gelernt und sein Verhalten bagatellisiert, ohne dies jedoch näher zu erläutern. Nicht nachvollziehbar ist daher, woraus die Vorinstanz die Bagatellisierung der Straftat durch den Beschwerdeführer ableitet. Aus dessen Verteidigungsstrategie im vorliegenden Verfahren ergibt sich dies auf jeden Fall nicht.» (E.5.8.2).
«Die Beschwerde ist in diesem Punkt daher gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist bezüglich der Landesverweisung aufzuheben und die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese hat im Rahmen der Neubeurteilung zu prüfen, ob vom Beschwerdeführer eine konkrete Rückfallgefahr für Gewaltstraftaten ausgeht, die es rechtfertigt, ihm das Recht, seinen schwerstbehinderten Sohn besuchen zu können, zum Schutz des öffentlichen Interesses durch eine Landesverweisung für mehrere Jahre abzusprechen. Der Vorinstanz steht es frei, für die Beurteilung der Rückfallgefahr, falls erforderlich, Sachverständige im Sinne von Art. 182 ff. StPO beizuziehen.» (E.5.9).