Leiturteil zur automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung im Fall des neuen Luzerner Polizeigesetzes

Das Bundesgericht heisst im Urteil 1C_63/2023 17. Oktober 2024 (zur amtl. Publ. vorgesehen) eine Beschwerde gegen die 2022 vom Luzerner Kantonsrat beschlossenen Änderungen des kantonalen Polizeigesetzes teilweise gut. Es hebt die Regelung zur automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung sowie zum polizeilichen Informationssystem-Verbund des Bundes und der Kantone auf. Ausgangsbasis sind die zwei bereits vom Bundesgericht publizierten Urteile zur Fahrzeugfahndung (BGE 146 I 11 und BGE 149 I 218). Das Bundesgericht macht dabei u.a. die folgenden Ausführungen: «Abs. 2 lässt ausdrücklich die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Dabei handelt es sich um einen Anwendungsfall des datenschutzrechtlich besonders heiklen „Profiling“ (vgl. § 2 Abs. 4bis und § 7a des kantonalen Gesetzes über den Schutz von Personendaten vom 2. Juli 1990 [KDSG/LU; SRL Nr. 38] i.V.m. § 6c Abs. 2 der kantonalen Datenschutzverordnung vom 26. Februar 1991 [KDSV/LU; SRL Nr. 38b]). Die Nutzung der AFV-Daten zu diesem Zweck wird jedoch in Abs. 2 generell zugelassen, ohne weitergehende Voraussetzungen oder verfahrensrechtliche Garantien vorzusehen.» (E.3.6.2). «Das Bundesgericht ging bisher davon aus, dass AFV-Daten, deren Abgleich keinen Treffer ergeben hat, unverzüglich und spurlos zu löschen sind (BGE 146 I 11 E. 3.3.2; vgl. auch BGE 149 I 77 E. 8.9.1 zu „unechten Treffern“). § 4quinquies Abs. 5 lit. a PolG/LU sieht dagegen vor, dass alle AFV-Daten (auch Nicht-Treffer, einschliesslich Personenaufnahmen) bis zu 100 Tagen gespeichert und für gewisse Zwecke nachträglich ausgewertet werden können. Inwiefern eine derartige Speicherung von Daten auf Vorrat für die vorliegend einzig noch zu prüfende Fahndung nach vermissten oder entwichenen Personen (gemäss Abs. 4 lit. b) notwendig und nach Umfang und Dauer verhältnismässig ist, ist nicht ersichtlich.» (E.3.6.3).

Sachverhalt

Der Kantonsrat des Kantons Luzern hatte im Oktober 2022 Änderungen am kantonalen Polizeigesetz (PolG/LU) beschlossen. Dabei ging es um fünf Neuregelungen.

Mehrere Privatpersonen gelangten dagegen im Februar 2023 an das Bundesgericht.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1C_63/2023 17. Oktober 2024

Zusammenfassung des Urteils

Das Bundesgericht heisst im Urteil 1C_63/2023 17. Oktober 2024 die Beschwerde teilweise gut und hebt die Regelung zur automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV, § 4quinquies PolG/LU) sowie zum polizeilichen Informationssystem-Verbund des Bundes und der Kantone (§ 4octies PolG/LU) auf.

Bei der AFV werden vorbeifahrende Fahrzeuge samt Kennzeichen und Insassen optisch erfasst, wobei fast zeitgleich ein automatisierter Abgleich mit polizeilichen Fahndungsregistern und -aufträgen erfolgt. Nach der Luzerner Regelung sollten alle Daten 100 Tage aufbewahrt und zur Verfolgung schwerer Straftaten und zur Fahndung nach vermissten oder entwichenen Personen verwendet werden können.

Der Schwerpunkt des Einsatzes der AFV liegt bei der Strafverfolgung, wie auch der Kanton betont. In diesem Bereich kommt den Kantonen jedoch keine Gesetzgebungskompetenz zu. Überwachungsmassnahmen zum Zweck der Strafverfolgung bedürfen vielmehr einer Grundlage in der eidgenössischen Strafprozessordnung. Mit Blick auf den verbleibenden Anwendungsbereich der Regelung stellt die sehr weitreichende Datenerfassung, -aus wertung und -aufbewahrung einen unverhältnismässigen Grundrechtseingriff dar. Die Regelung ist daher insgesamt aufzuheben.

Zur Schaffung eines polizeilichen Informationssystem-Verbundes des Bundes und der Kantone ist eine polizeiliche Abfrageplattform „POLAP“ projektiert. Es soll ein zentrales Zugangsportal geschaffen werden, um mit einer einzigen Eingabe die Informationssysteme des Bundes, der EU und der Kantone abfragen zu können. Der Kanton Luzern und andere Kantone haben eigene gesetzliche Grundlagen geschaffen, um sich an POLAP beteiligen zu können, sobald die Plattform in Betrieb genommen wird. Mit dem Abrufverfahren werden die Daten unmittelbar zugänglich gemacht. Eines vorgängigen Amtshilfeersuchens bedarf es nicht, was die Kontrolle und den Rechtsschutz erschwert. Die gesetzliche Regelung begrenzt weder die Datenkategorien noch die Bearbeitungszwecke oder den Kreis der Zugriffsberechtigten. Für einen derart weitgehenden Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung bildet die fragliche Regelung keine ausreichend bestimmte Gesetzesgrundlage respektive verstösst sie gegen das Prinzip der Verhältnismässigkeit.

Zum Betrieb von Analysesystemen im Bereich der seriellen Kriminalität (§ 4sexies PolG/LU) ist anzumerken, dass die fragliche Regelung keine ausreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für den Einsatz „intelligenter“, also komplexer algorithmischer Systeme darstellt (einschliesslich der automatisierten Gesichtserkennung). Eine verfassungskonforme Anwendung der Regelung ist gemäss Bundesgericht jedoch möglich beim Einsatz „einfacher“ Analysesysteme, bei denen menschliche Analystinnen und Analysten zum Einsatz kommen und Daten manuell eingegeben werden.

Ebenfalls abgewiesen hat das Bundesgericht die Beschwerde in Bezug auf § 4septies PolG/LU (gemeinsamer Betrieb von Einsatzleitzentralen). Auf die Beschwerde gegen § 4novies PolG/LU (Systeme zur Darstellung von Lagebildern) ist es nicht eingetreten.

Wichtigste Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1C_63/2023 17. Oktober 2024 im Detail

Anfechtungs- und damit Streitgegenstand vor Bundesgericht sind einzig die neuen Bestimmungen des Luzerner Polizeigesetzes, nicht aber die am 6. Dezember 2022 erlassenen und am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen neuen Bestimmungen der Verordnung über die Luzerner Polizei vom 6. April 2004 (PolV; SRL Nr. 351). Diese können immerhin berücksichtigt werden, soweit sie Hinweise darauf geben, wie die angefochtenen Bestimmungen von den Luzerner Behörden verstanden und ausgeführt werden sollen (E.2.1).

Im Folgenden sind durch das Bundesgericht die Rügen der Beschwerdeführenden gegen die angefochtenen Regelungen des Luzerner Polizeigesetzes zur automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV) (§ 4quinquies; E. 3), zum Betrieb von Analysesystemen im Bereich der seriellen Kriminalität (§ 4sexies; E. 4), zum gemeinsamen Betrieb von Einsatzleitzentralen (§ 4septies; E. 5), zum polizeilichen Informationssystem-Verbund des Bundes und der Kantone (§ 4octies; E. 6) und zu Systemen zur Darstellung von Lagebildern (§ 4novies, E. 7) zu prüfen (E.2.2).

Die Beschwerdeführenden vor Bundesgericht machen geltend, § 4quinquies PolG/LU verletze die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), das Recht auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung (Art. 13 BV; Art. 8 EMRK; Art. 17 UNO-Pakt II) sowie das Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten vom 28. Januar 1981 (für die Schweiz in Kraft getreten am 1. Februar 1998; SR 0.235.1), den Anspruch auf ein faires Verfahren und die Unschuldsvermutung (Art. 6 EMRK; Art. 32 BV) sowie das Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK). Die gesetzliche Grundlage genüge den Bestimmtheitsanforderungen an schwere Grundrechtseingriffe nicht. Es sei bereits unklar, welche Daten erfasst und automatisiert abgeglichen werden dürften und mit welchen Fahndungsdateien. Nach ihrem Wortlaut lasse die Norm auch die automatisierte Gesichtserkennung zu. Die Zweckbestimmung in Abs. 1 sei zu weit und deren Tragweite, insbesondere hinsichtlich der strafprozessual geregelten Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden, sei unklar. Die Speicherung aller angefallenen Daten während 100 Tagen stelle eine unzulässige Datenhaltung auf Vorrat dar, die für die Strafverfolgung nicht erforderlich sei. Auch der Deliktskatalog in Abs. 4 lit. a sei zu weit gefasst und es fehlten den strafprozessualen Bestimmungen entsprechende Einschränkungen. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde sei nicht gewahrt (E.3.2).

Das Bundesgericht hat sich, wie es bemerkt und zitiert in zwei publizierten Entscheiden in grundsätzlicher Weise zur automatischen Fahrzeugfahndung geäussert (E.3.3):

«In BGE 146 I 11 E. 3.2 qualifizierte [das Bundesgericht] die automatische Fahrzeugfahndung als schweren Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 13 Abs. 2 BV), weil das System die massenhafte und praktisch unbegrenzte Erhebung und Auswertung von Daten ermögliche, die wiederum mit anderen Datensammlungen zusammengeführt und automatisch abgeglichen werden könnten, wobei der Eingriff weder anlassbezogen noch aufgrund eines konkreten Verdachts erfolge. Dies könne eine abschreckende Wirkung zeitigen (sog. „chilling effect“). Zudem bestehe die Gefahr, dass Betroffene zu Unrecht in Verdacht gerieten, da die Fehlerquote erheblich sei. Die automatische Fahrzeugfahndung bedürfe daher einer formellgesetzlichen Grundlage, wobei Einzelheiten in konkretisierenden Ausführungs- und Vollzugsverordnungen geregelt werden dürften (E. 3.3). Um den Garantien von Art. 13 BV zu genügen, müssten die systematische Datenerfassung und -aufbewahrung von angemessenen und wirkungsvollen rechtlichen Schutzvorkehrungen begleitet werden, um Missbrauch und Willkür vorzubeugen. Dafür müsse insbesondere der Verwendungszweck, der Umfang der Erhebung sowie die Aufbewahrung und Löschung der erhobenen Daten hinreichend bestimmt sein. Ferner bedürfe es organisatorischer, technischer und verfahrensrechtlicher Schutzvorkehrungen, soweit sich diese nicht bereits aus der Datenschutzgesetzgebung oder anderen Bestimmungen ergeben (E. 3.3.1). Die Reichweite des Datenabgleichs müsse im Gesetz sachbezogen eingegrenzt werden, damit für die Teilnehmenden des Strassenverkehrs vorhersehbar sei, welche Informationen gesammelt, aufbewahrt und mit anderen Datenbanken verknüpft bzw. abgeglichen würden. Die Speicherung der erhobenen Daten habe sich am Verwendungszweck zu orientieren. Bestehe kein Bedarf für eine Weiterverwendung, seien die Daten grundsätzlich unverzüglich und vollständig zu löschen. Eine unbegrenzte Datensammlung auf Vorrat sei unzulässig (E. 3.3.2).» (E.3.3.1).

«Diese Rechtsprechung wurde in BGE 149 I 218 E. 8 weitergeführt, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu Systemen der Massenüberwachung (insbes. Urteil der Grossen Kammer vom 25. Mai 2021 i.S. Centrum för Rättvisa gegen Schweden). Das Bundesgericht hielt fest, dass ein strengerer Massstab an die Verhältnismässigkeit automatisierter Abläufe zu stellen sei, wenn diese eine unbestimmte Vielzahl von Personen betreffen, die keinerlei Anlass zu einer Kontrolle gegeben haben. Es bedürfe eines gewichtigen öffentlichen Interesses; das allgemeine Interesse, jegliche zur Fahndung ausgeschriebene Personen oder Sachen zu identifizieren und aufzugreifen, genüge nicht, um die Durchführung beliebiger Kontrollen gegenüber jedermann, zu beliebiger Zeit und an beliebigen Orten zu rechtfertigen (E. 8.7.2). Eine Totalüberwachung der Gesellschaft würde den Kerngehalt der informationellen Selbstbestimmung verletzen (E. 8.8). Die aus der automatischen Fahrzeugfahndung erlangten Daten dürften daher grundsätzlich nur zweckgebunden verwendet und nicht beliebig mit anderen Dateien zusammengeführt werden (E. 8.9.4). Erforderlich seien sodann Schutzvorkehrungen gegen Datenmissbrauch (E. 8.9), die Sicherstellung des Rechtsschutzes (E. 8.10) und weitere Kontrollmassnahmen (E. 8.11).  Das Bundesgericht gelangte im erwähnten Urteil zum Ergebnis, dass § 36octies des Solothurner Gesetzes über die Kantonspolizei (KapoG/ SO) keine hinreichende gesetzliche Grundlage für die AFV darstelle (E. 8.3). Die Bestimmung, die einen automatisierten Abgleich mit sämtlichen Personen- und Sachfahndungsregistern zulasse, sei zu unbestimmt bzw. unverhältnismässig; es sei Sache des Gesetzgebers, den Abgleich auf diejenigen Register zu beschränken, mit denen ein systematischer Abgleich aufgrund der Schwere der drohenden Gefahr oder des erheblichen Gewichts der öffentlichen Interessen erforderlich und verhältnismässig sei (E. 8.5.1). § 36octies Abs. 2 lit. c KapoG/SO (Abgleich mit konkreten Fahndungsaufträgen) könne dagegen im Einzelfall verfassungskonform gehandhabt werden (E. 8.5.2; lit. b betr. die Dateien zum Entzug oder zur Verweigerung des Führerausweises wurde nicht angefochten). Erforderlich sei ferner eine klare Regelung, zu welchen weiteren Zwecken die Daten verwendet, anderen Behörden übermittelt oder mit diesen über Schnittstellen oder gemeinsame Datenbearbeitungssysteme geteilt werden dürften und wer darüber entscheide (E. 8.9.2). Zwar dürften die Einzelheiten auf Verordnungsebene geregelt werden; die Verordnung müsse aber in Kraft sein, bevor eine automatische Fahrzeugfahndung angeordnet werden dürfe (E. 8.9.3). Gleiches gelte für die bei Systemen der Massenüberwachung erforderlichen Kontrollmechanismen (E. 8.11.4).» (E.3.3.2).

Der Kanton Luzern macht  vor Bundesgericht geltend, seine vorliegend zu beurteilende AFV-Regelung sei bestimmter und einschränkender als diejenige des Kantons Solothurn bzw. als der von der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren und -direktorinnen (KKJPD) ausgearbeitete Mustergesetzestext, weshalb kein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vorliege. Der Luzerner Gesetzgeber habe den Verwendungszweck der AFV stark eingeschränkt: Diese dürfe in der ersten Phase nur zur Fahndung nach Personen oder Sachen sowie zur Verfolgung von Verbrechen und Vergehen eingesetzt werden, nicht aber zur Prävention („Verhinderung von Straftaten“) und für Vorermittlungen („Entdeckung von Straftaten“). Auch auf den Abgleich mit Datensammlungen zu entzogenen oder verweigerten Führerausweisen sei verzichtet worden. Die Verwendung der AFV-Daten während der Aufbewahrungsdauer von 100 Tagen werde in Abs. 4 lit. a mittels eines Deliktskatalogs zusätzlich eingeschränkt, d.h. diese sei nur zur Verfolgung von Verbrechen und Vergehen gemäss Art. 269 Absatz 2 StPO sowie von schweren Strassenverkehrsdelikten i.S.v. Art. 90 Abs. 3 SVG zulässig. Zudem müssten die Standorte von stationären Kameras veröffentlicht werden (Abs. 1 Satz 2). Wie oben (E. 3.3.1) aufgezeigt wurde, liegt ein schwerer Grundrechtseingriff jedenfalls dann vor, wenn massenhaft Daten erhoben und automatisch mit anderen Datensammlungen abgeglichen werden, wobei der Eingriff weder anlassbezogen noch aufgrund eines konkreten Verdachts erfolgt. Diese Eigenschaften weist auch das Luzerner System der AFV auf. Insofern kann im Folgenden grundsätzlich an die bisherige Rechtsprechung angeknüpft werden (E.3.4).

Das Bundesgericht äussert sich hiernach im Urteil 1C_63/2023 17. Oktober 2024 wie folgt:

«Die vom Kanton betonte Beschränkung des Zwecks der AFV auf die Strafverfolgung, unter Ausschluss der Verhinderung und der Entdeckung von Straftaten, wirft allerdings die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz des Kantons auf.» (E.3.5)

«Die Tätigkeit der Polizei von Bund, Kantonen und Gemeinden im Rahmen der Verfolgung von Straftaten richtet sich nach der StPO (Art. 15 Abs. 1 StPO). Der Bund ist aufgrund von Art. 123 Abs. 1 BV zur Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafprozessrechts befugt. Von dieser Kompetenz hat er durch den Erlass der StPO grundsätzlich erschöpfend Gebrauch gemacht (TARKAN GÖKSU, in: Waldmann/Belser/ Epiney, Basler Kommentar zur Bundesverfassung, 2015 [nachfolgend: BSK-BV], N. 9 zu Art. 123 BV; vgl. Art. 1 Abs. 2 StPO); kantonales Verfahrensrecht kann allenfalls bei Widerhandlungen gegen kantonales Übertretungsstrafrecht (vgl. Art. 335 StGB) zur Anwendung kommen (vgl. CHRISTOPH GETH, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar StPO, 3. Auflage 2024 [nachfolgend: BSK-StPO], N. 12 zu Art. 1 StPO).  Dagegen verfügen die Kantone auf ihrem Hoheitsgebiet über die originäre Kompetenz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (BGE 140 I 353 E. 5.1 S. 359; RETO PATRICK MÜLLER/MARKUS H.F. MOHLER, in: St. Galler BV-Kommentar, 4. Aufl., 2023, N. 32 zu Art. 57 BV mit zahlreichen Hinweisen). Diese sog. Polizeihoheit umfasst die Rechtsetzungskompetenz im Hinblick auf die Wahrnehmung des umfassenden Auftrags zu Gefahrenabwehr. Dazu gehören insbesondere Massnahmen zur Verhinderung von Straftaten. Die präventive polizeiliche Tätigkeit ist grundsätzlich Sache der Kantone (BGE 149 I 218 E. 4.1 mit Hinweisen). Kantonales Recht findet auch auf sog. Vorermittlungen Anwendung, mit dem Ziel, mögliche Straftaten zu erkennen (BGE 150 I 353 E. 5.1 S. 360). Sobald ein Anfangsverdacht vorliegt und damit ein strafprozessuales Vorverfahren eröffnet werden muss (gemäss Art. 299 f. StPO), ist die StPO und nicht kantonales Polizeirecht anwendbar (BGE 143 IV 27 2.5; Urteil 1C_269/2021 vom 13. Oktober 2022 E. 3.1.2 und 3.2.1, in: AJP 2023 624; vgl. auch GEHT, BSK-StPO, N. 3 zu Art. 15 StPO; B. SCHINDLER/R. WIDMER, in: Donatsch/Jaag/Zimmerlin, Kommentar zum Polizeigesetz des Kantons Zürich, 2018, [nachfolgend: Kommentar PolG/ZH] N. 5 zu § 2).» (E.3.5.1).

«Die präventive Polizeitätigkeit und der strafprozessuale Aufgabenbereich der Polizei können sich überschneiden oder fliessend ineinander übergehen, etwa wenn die Polizei im Rahmen ihrer präventiven Kontrolltätigkeit eine strafbare Handlung feststellt und mit Blick auf die Strafverfolgung Spuren und Beweise sicherstellt (vgl. BGE 146 I 11 E. 4.1 mit Hinweisen; SCHINDLER/WIDMER, a.a.O., N. 8 zu § 2). Gewisse polizeiliche Massnahmen können sowohl der Strafverfolgung als auch der Gefahrenabwehr bzw. der Prävention dienen (sog. „doppelfunktionale Massnahmen“, vgl. SVEN ZIMMERLIN, in: Kommentar PolG/ZH, Aufsicht und Rechtsschutz, N. 54 ff.; MARKUS H.F. MOHLER, Grundzüge des Polizeirechts in der Schweiz, 2012, N. 809 f.).  Entscheidend für die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenz ist daher die Zielsetzung einer Vorschrift bzw. der Schwerpunkt des verfolgten Zwecks. So ging das Bundesgericht in BGE 133 I 77 E. 5.1 für die im Polizeireglement der Stadt St. Gallen geregelte Videoüberwachung davon aus, dass diese eine präventive Massnahme zur Verhütung von Straftaten darstelle; gleichzeitig würden durch die Aufzeichnungen und ihre Aufbewahrung Beweise sichergestellt und damit eine effiziente Aufdeckung von Straftaten ermöglicht. Mit dem damit verbundenen Abschreckungseffekt solle im Dienste der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Gewährleistung der Sicherheit von Benützern öffentlicher Strassen und Plätze Straftaten verhindert werden. Die in BGE 149 I 218 zu beurteilende AFV-Bestimmung des Kantons Solothurn enthielt keine ausdrückliche Zwecksetzung. In der Botschaft wurde jedoch ausgeführt, die gesamte Vorlage beziehe sich ausschliesslich auf den sicherheitspolizeilichen Aufgabenbereich der Polizei (Erkennung und Verhütung von Straftaten). Sobald von einer Straftat auszugehen sei, bestehe der Zweck der polizeilichen Tätigkeit in der Aufklärung der Straftat; zur Anwendung komme dann einzig die StPO. Anknüpfungspunkt könne daher kein Verdacht einer Straftat sein, sondern die Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts bzw. konkrete Anhaltspunkte, dass eine bestimmte Straftat vor der Ausführung stehe. Insofern handelte es sich um eine Regelung mit präventiv-polizeilichem Zweck (in BGE 149 I 219 nicht publizierte E. 4.1.2).» (E.3.5.2).

«Vorliegend wird dagegen in der Botschaft betont, der Kanton verzichte darauf, die Verhinderung (Prävention) sowie die Entdeckung von Straftaten (Vorermittlungen) als Zweck der AFV aufzuführen. Diese solle nur dort eingesetzt werden, wo sie für die Polizeiarbeit von grosser Wichtigkeit sei (S. 6 unten). Dazu zähle vor allem die Verfolgung von Vergehen und Verbrechen, wobei diese in Abs. 4 durch einen Deliktskatalog auf schwere Vergehen und Verbrechen und schwere Strassenverkehrsdelikte beschränkt würden (S. 7). Auch bei dem Abgleich mit konkreten Fahndungsaufträgen (gemäss Abs. 2) sei das Verhältnismässigkeitsprinzip anzuwenden, d.h. der Abgleich sei nur mit Fahndungsaufträgen zulässig, die wegen Straftaten von einer gewissen Schwere ergangen sind oder mit denen vermisste oder entwichene Personen gesucht werden sollten (Botschaft, S. 21). Damit liegt der Schwerpunkt des Einsatzes der AFV bei der Strafverfolgung. Hierzu ist der Kanton jedoch nach dem oben Gesagten nicht zuständig. Zwar dürfen zu polizeilich-präventiven Zwecken erhobene Daten gemäss Art. 139 Abs. 1 StPO grundsätzlich als Beweismittel im Strafverfahren verwendet werden (vgl. z.B. Urteil 6B_967/2015 vom 22. April 2016 E. 4 zu verdeckten Bildaufnahmen einer Kundgebung, die sich auf § 32c des Zürcher Polizeigesetzes vom 23. April 2007 [PolG/ZH; LS 550.1] stützten). Erfolgt die Überwachung jedoch nur – oder zumindest in erster Linie – im Hinblick auf die Strafverfolgung, so handelt es sich um eine strafprozessuale Massnahmen, die einer Grundlage in der StPO bedarf (vgl. zur analogen Rechtslage in Deutschland: Bundesverfassungsgericht vom 18. Dezember 2018, in: BVerfGE 150, 244 ff. Rn. 62-80, und § 163g der deutschen StPO, eingefügt mit Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juni 2021).» (E.3.5.3).

«Zwar verbleibt auch bei Streichung des Zwecks der Strafverfolgung in § 4quinquies Abs. 1 und Abs. 4 lit. a PolG/LU noch ein gewisser Anwendungsbereich für die präventiv-polizeiliche Fahndung nach Personen und Sachen mittels AFV. Dazu gehört insbesondere die in Abs. 4 lit. b ausdrücklich genannte Fahndung nach vermissten oder entwichenen Personen, die zwar häufig, aber nicht zwangsläufig mit einer Straftat verbunden ist. Es erscheint allerdings fraglich, ob der Luzerner Gesetzgeber die angefochtene Regelung allein dafür eingeführt hätte. Jedenfalls aber erweist sich die in § 4 quinquies PolG/LU vorgesehene, sehr weitreichende Datenerfassung, -auswertung und -aufbewahrung unter Berücksichtigung des verbleibenden Anwendungsbereichs der Norm als unverhältnismässig:» (E.3.6).

«§ 4quinquies PolG sieht in Abs. 1 die automatisierte optische Erfassung nicht nur der Kontrollschilder, sondern auch der Fahrzeuge sowie deren Insassinnen und Insassen vor. Es erscheint bereits fraglich, ob die Erfassung von Personenbildern für die Fahndung nach vermissten oder entwichenen Personen (und allfällige weitere präventiv-polizeiliche Fahndungszwecke) erforderlich ist. Jedenfalls aber stellt die automatisierte Auswertung dieser Bilder einen unverhältnismässigen Grundrechtseingriff dar:  In seiner Vernehmlassung legt der Kanton selbst dar, dass eine automatisierte Gesichtserkennung im öffentlich zugänglichen Raum unzulässig sei und die Einsichtnahme in die Personenaufnahme daher erst erfolgen dürfe, wenn ein „Hit“ mit den Kontrollschildern bzw. den daraus abgeleiteten Halterdaten erzielt worden sei. Wie die Beschwerdeführenden zu Recht kritisieren, ergibt sich dies jedoch nicht aus dem Gesetzestext: Dieser sieht (in Abs. 2) den automatisierten Abgleich mit Datenbanken und die Analyse hinsichtlich sämtlicher nach Abs. 1 erhobener Daten, vor, ohne zwischen Kennzeichen, Fahrzeug- und Personenaufnahmen zu unterscheiden oder die Sichtung der Personenaufnahmen von einem „Hit“ beim Kennzeichenabgleich abhängig zu machen.» (E.3.6.1).

«Abs. 2 lässt ausdrücklich die Erstellung von Bewegungsprofilen zu. Dabei handelt es sich um einen Anwendungsfall des datenschutzrechtlich besonders heiklen „Profiling“ (vgl. § 2 Abs. 4bis und § 7a des kantonalen Gesetzes über den Schutz von Personendaten vom 2. Juli 1990 [KDSG/LU; SRL Nr. 38] i.V.m. § 6c Abs. 2 der kantonalen Datenschutzverordnung vom 26. Februar 1991 [KDSV/LU; SRL Nr. 38b]). Die Nutzung der AFV-Daten zu diesem Zweck wird jedoch in Abs. 2 generell zugelassen, ohne weitergehende Voraussetzungen oder verfahrensrechtliche Garantien vorzusehen.» (E.3.6.2).

«Das Bundesgericht ging bisher davon aus, dass AFV-Daten, deren Abgleich keinen Treffer ergeben hat, unverzüglich und spurlos zu löschen sind (BGE 146 I 11 E. 3.3.2; vgl. auch BGE 149 I 77 E. 8.9.1 zu „unechten Treffern“). § 4quinquies Abs. 5 lit. a PolG/LU sieht dagegen vor, dass alle AFV-Daten (auch Nicht-Treffer, einschliesslich Personenaufnahmen) bis zu 100 Tagen gespeichert und für gewisse Zwecke nachträglich ausgewertet werden können. Inwiefern eine derartige Speicherung von Daten auf Vorrat für die vorliegend einzig noch zu prüfende Fahndung nach vermissten oder entwichenen Personen (gemäss Abs. 4 lit. b) notwendig und nach Umfang und Dauer verhältnismässig ist, ist nicht ersichtlich.» (E.3.6.3).

«Schliesslich fehlen in § 4quinquies PolG/LU gewisse, nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung notwendige Vorgaben. So wird weder bestimmt, mit welchen polizeilichen Datenbanken ein Abgleich erfolgen darf (vgl. BGE 149 I 218 E. 8.5.1), noch ist eine zeitliche Begrenzung vorgesehen (entgegen BGE 149 I 218 E. 8.3.2). Es fehlen auch Regelungen zur Anordnungsbefugnis, zur periodischen Kontrolle von AFV-Einsätzen durch eine unabhängige Stelle und – abgesehen vom Datenaustausch – auch zur Protokollierung (vgl. BGE 149 I 218 E. 8.11.1-8.11.3).» (E.3.6.4).

«Nach dem Gesagten ist § 4 quinquies PolG/LU vollständig aufzuheben. Dies gilt auch für den in Abs. 3 geregelten Austausch von AFV-Daten, da dieser nur möglich ist, wenn der Kanton selbst über eine bundesrechtskonforme AFV verfügt.» (E.3.7).

 

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