Landesverweisung: Bedeutung des Kinderinteresses und Erforderlichkeit der Interessenabwägung

Im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit einem Fall der Schändung und sexuellen Belästigung sowie der strafrechtlichen Landesverweisugn eines Bürgers von Costa Rica. Das Urteil ist bezüglich der Landesverweisung sehr lesenswert. Das Bundesgericht nimmt eine umfassende Darstellung seiner Praxis vor (E.6.3.1 ff.). Es geht dann im Detail auf den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein (E.6.3.3 f.). Das Bundesgericht betont das Kinderinteresse (E.6.3.5). Und es muss eine detaillierte Interessenabwägung vorgenommen werden, erläutert das Bundesgericht: «Der EGMR verlangt, dass die nationalen Gerichte den Sachverhalt sorgfältig prüfen, eine ausreichende Interessenabwägung vornehmen und ihren Entscheid eingehend begründen.» (E.6.7.6 f.).

Sachverhalt

Das Regionalgericht Bern-Mittelland erklärte A. mit Urteil vom 22. Januar 2020 der sexuellen Belästigung zum Nachteil von B. schuldig und verurteilte ihn zu einer Übertretungsbusse von Fr. 500.–, bzw. zu 5 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung. Die Polizeihaft von einem Tag wurde im Umfang von Fr. 100.– auf die Busse angerechnet. Das Regionalgericht Bern-Mittelland sprach ihn vom Vorwurf der Schändung zum Nachteil von B. und vom Vorwurf der sexuellen Belästigung zum Nachteil von C. frei. Es verpflichtete ihn zur Bezahlung einer Parteientschädigung von Fr. 665.20 an B. und wies die Zivilforderungen von B. und von C. ab.

Instanzenzug

Auf Berufungen der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, von A. und von B. hin stellte das Obergericht des Kantons Bern am 17. Juni 2021 die teilweise Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils fest und erklärte A. der Schändung und der sexuellen Belästigung zum Nachteil von B. schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten (unter Anrechnung von einem Tag ausgestandener Haft), bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren, und zu einer Übertretungsbusse von Fr. 500.–, bzw. zu 5 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung. Das Obergericht des Kantons Bern verwies A. für 7 Jahre des Landes. Ihm wurden die erstinstanzlichen Verfahrenskosten im Umfang von Fr. 19’464.– und die zweitinstanzlichen Verfahrenskosten im Umfang von Fr. 5’000.– auferlegt. Das Obergericht des Kantons Bern verpflichtete ihn zur Bezahlung von Parteientschädigungen von Fr. 12’638.85 und Fr. 8’432.15 an B. für deren Aufwendungen im erstinstanzlichen und zweitinstanzlichen Verfahren und zur Bezahlung von Fr. 2’360.55 Schadenersatz zzgl. 5 % Zins seit dem 13. April 2019 sowie Fr. 10’000.– Genugtuung zzgl. 5 % Zins seit dem 26. Mai 2018.

Weiterzug ans Bundesgericht

Der A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Dispositiv-Ziffern II, IV und V des Urteils des Obergerichts des Kantons Bern vom 17. Juni 2021 seien aufzuheben und er sei von den Vorwürfen der Schändung und der sexuellen Belästigung zum Nachteil von B. freizusprechen. Ihre Zivilklage sei unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu ihren Lasten abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. Die erst- und zweitinstanzlichen Verfahrenskosten seien vollumfänglich dem Kanton Bern aufzuerlegen. Ihm sei eine Entschädigung für die Verteidigungskosten des erstinstanzlichen Verfahrens von Fr. 22’855.75 (inkl. Auslagen und MWST), des zweitinstanzlichen Verfahrens und der wirtschaftlichen Einbussen von total Fr. 13’958.25 (inkl. Auslagen und MWST) auszurichten. Für die besonders schweren Verletzungen seiner persönlichen Verhältnisse sei ihm eine Genugtuung von Fr. 5’000.– zzgl. 5 % Zins seit dem 28. Mai 2018 zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um aufschiebende Wirkung der Beschwerde und um unentgeltliche Rechtspflege.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023

Der Beschwerdeführer nimmt vor Bundesgericht verschiedene Rügen vor (u.a. Verletzung von Anklageprinzip, Ziff. E. 1 ff.), auf welche wir nicht weiter eingehen.

Die Vorinstanz verneinte das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB (E.6.2). Die Details der Erläuterungen der Vorinstanz werden vom Bundesgericht wiedergegeben (E.6.2 bis E.6.10).

Das Bundesgericht machte im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 folgende allgemeine Ausführungen zur strafrechtlichen Landesverweisung:

«Das Gericht verweist den Ausländer, der wegen Schändung (Art. 191 StGB) verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der Strafe für 5-15 Jahre aus der Schweiz (Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB). Die obligatorische Landesverweisung wegen einer Katalogtat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB greift grundsätzlich unabhängig von der konkreten Tatschwere (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1 S. 108; 144 IV 332 E. 3.1.3 S. 339). Sie muss zudem unabhängig davon ausgesprochen werden, ob es beim Versuch geblieben ist und ob die Strafe bedingt, unbedingt oder teilbedingt ausfällt (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1 S. 108; 144 IV 168 E. 1.4.1 S. 171).» (E.6.3.1)

«Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur „ausnahmsweise“ unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass sie (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB; sog. Härtefallklausel). Die Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 146 IV 105 E. 3.4.2 S. 108; 145 IV 364 E. 3.2 S. 366; je mit Hinweisen). Sie ist restriktiv anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2 S. 108; 144 IV 332 E. 3.3.1 S. 340; je mit Hinweisen).  

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich zur kriteriengeleiteten Prüfung des Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB der Kriterienkatalog der Bestimmung über den „schwerwiegenden persönlichen Härtefall“ in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) heranziehen. Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiäre Bindungen des Ausländers in der Schweiz und in der Heimat, Aufenthaltsdauer und Resozialisierungschancen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2 S. 108; 144 IV 332 E. 3.3.2 S. 340 f.; Urteil 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 8.1.3.2; je mit Hinweisen). 

Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der „öffentlichen Interessen an der Landesverweisung“ (vgl. Art. 66a Abs. 2 StGB). Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, sodass die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 8.1.3.2; 6B_781/2021 vom 23. Mai 2022 E. 2.3.2; je mit Hinweisen).» (E.6.3.2)

«Von einem schweren persönlichen Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB ist bei einem Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auszugehen (Urteile 6B_207/2022 vom 27. März 2023 E. 1.2.3; 6B_487/2021 vom 3. Februar 2023 E. 5.5.3; 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 8.1.3.3; je mit Hinweisen). Das durch Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser ohne Weiteres möglich bzw. zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (BGE 144 I 266 E. 3.3 S. 272; 144 II 1 E. 6.1 S. 12; je mit Hinweisen). Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie, d. h. die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern (BGE 147 I 268 E. 1.2.3 S. 271; 145 I 227 E. 5.3 S. 233; je mit Hinweisen).» (E.6.3.3)

«Art. 66a StGB ist EMRK-konform auszulegen. Die Interessenabwägung im Rahmen der Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB hat sich daher an der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu orientieren (BGE 145 IV 161 E. 3.4 S. 166 f.; Urteil 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 8.1.3.4; je mit Hinweisen). Die Staaten sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) berechtigt, Delinquenten auszuweisen; berührt die Ausweisung indes Gewährleistungen von Art. 8 Ziff. 1 EMRK, ist der Eingriff nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu rechtfertigen (Urteil des EGMR in Sachen I.M. gegen Schweiz vom 9. April 2019, Nr. 23887/16, § 68). Erforderlich ist, dass die aufenthaltsbeendende oder -verweigernde Massnahme gesetzlich vorgesehen ist, einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK entspricht (Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten etc.) und verhältnismässig ist (BGE 146 IV 105 E. 4.2 S. 112). Nach der Rechtsprechung des EGMR sind bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 EMRK insbesondere Art sowie Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit sowie das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen (Urteil des EGMR in Sachen M.M. gegen Schweiz vom 8. Dezember 2020, Nr. 59006/18, §§ 49-51 mit zahlreichen Hinweisen; vgl. BGE 146 IV 105 E. 4.2 S. 112 f.; Urteil 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 8.1.3.4; je mit Hinweisen). Die Konvention verlangt, dass die individuellen Interessen an der Erteilung bzw. am Erhalt des Anwesenheitsrechts und die öffentlichen Interessen an dessen Verweigerung gegeneinander abgewogen werden (BGE 142 II 35 E. 6.1 S. 47; Urteil 6B_1088/2022 vom 16. Januar 2023 E. 8.1.3.4).  

Für die Frage, ob der Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens „notwendig“ im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist, sind nach der Rechtsprechung des EGMR nebst den zuvor erwähnten Kriterien auch die Staatsangehörigkeit der betroffenen Familienmitglieder, die familiäre Situation des von der Massnahme Betroffenen, wie etwa die Dauer der Ehe oder andere Faktoren, welche für ein effektives Familienleben sprechen, eine allfällige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat zu Beginn der familiären Bindung, ob Kinder aus der Ehe hervorgingen und falls ja, deren Alter, sowie die Schwierigkeiten, mit welchen der Ehegatte im Heimatland des anderen konfrontiert sein könnte, zu berücksichtigen (vgl. Urteile des EGMR Z. gegen Schweiz vom 22. Dezember 2020, Nr. 6325/15, § 57; I.M. gegen Schweiz vom 9. April 2019, Nr. 23887/16, § 69; Kissiwa Koffi gegen Schweiz vom 15. November 2012, Nr. 38005/07, § 63; Urteile 6B_1114/2022 vom 11. Januar 2023 E. 4; 6B_1449/2021 vom 21. September 2022 E. 3.2.3; je mit Hinweisen).» (E.6.3.4)

Besonders wichtig sind im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 die folgenden Ausführungen des Bundesgerichts zum Kinderinteresse:

«Sind Kinder involviert, ist bei der Interessenabwägung als wesentliches Element dem Kindeswohl und dem Bedürfnis des Kindes Rechnung zu tragen, in möglichst engem Kontakt mit beiden Elternteilen aufwachsen zu können (BGE 143 I 21 E. 5.5.1 S. 29; Urteile 6B_487/2021 vom 3. Februar 2023 E. 5.5.4; 6B_1114/2022 vom 11. Januar 2023 E. 5; je mit Hinweisen). Gemäss Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention, KRK; SR 0.107) ist bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen. Art. 16 Abs. 1 KRK gewährleistet u.a. das Recht auf Schutz der Familie im Zusammenleben sowie bei aufenthaltsbeendenden Massnahmen, die das Kind von den Eltern trennen (Urteile 6B_134/2021 vom 20. Juni 2022 E. 5.3.5; 6B_1037/2021 vom 3. März 2022 E. 6.2.2; je mit Hinweisen). In Bezug auf die Kinder des von der Landesverweisung betroffenen Elternteils berücksichtigt die Rechtsprechung insbesondere, ob die Eltern des Kindes zusammenleben, wer die Sorge und Obhut hat und ob der von der Landesverweisung betroffene Elternteil seine Kontakte zum Kind nur im Rahmen eines Besuchsrechts pflegt (Urteile 6B_1114/2022 vom 11. Januar 2023 E. 5; 6B_883/2021 vom 4. November 2022 E. 1.3.6.2; je mit Hinweisen). Für den Anspruch auf Familienleben genügt es nach dem Wegweisungsrecht unter Umständen, ist aber nicht ausschlaggebend, dass der Kontakt zum Kind im Rahmen von Kurzaufenthalten oder über die modernen Kommunikationsmittel wahrgenommen werden kann (Urteile 6B_1114/2022 vom 11. Januar 2023 E. 5; 6B_1449/2021 vom 21. September 2022 E. 3.2.3; je mit Hinweisen).  

Bei intakten familiären Verhältnissen mit gemeinsamem Sorge- und Obhutsrecht der Eltern führt die Landesverweisung zum Abbruch der eng gelebten Beziehung des Kindes zu einem Elternteil, wenn den übrigen Familienmitgliedern und insbesondere dem anderen, ebenfalls sorge- und obhutsberechtigten Elternteil ein Wegzug in das Heimatland des anderen Elternteils nicht zumutbar ist. Dies ist nicht im Interesse des Kindeswohls und spricht daher grundsätzlich gegen eine Landesverweisung. Eine Landesverweisung, die zu einer Trennung der vormals intakten Familiengemeinschaft von Eltern und Kindern führt, bildet einen Eingriff in das durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens (vgl. Urteile des EGMR Sezen gegen Niederlande vom 31. Januar 2006, Nr. 50252/99, § 49; Mehemi gegen Frankreich [Nr. 2] vom 10. April 2003, Nr. 53470/99, § 45), welcher im Interesse des Kindes nur nach einer eingehenden und umfassenden Interessenabwägung und nur aus ausreichend soliden und gewichtigen Überlegungen („sufficiently sound and weighty considerations“) erfolgen darf (vgl. Urteile des EGMR Haddad gegen Spanien vom 18. Juni 2019, Nr. 16572/17, § 54; Achim gegen Rumänien vom 24. Oktober 2017, Nr. 45959/11, § 89; Urteile 6B_487/2021 vom 3. Februar 2023 E. 5.5.4; 6B_1508/2021 vom 5. Dezember 2022 E. 3.2.5; 6B_883/2021 vom 4. November 2022 E. 1.3.6.2; je mit Hinweisen).  

Der Umstand, dass ein straffällig gewordener Ausländer in der Schweiz mit seinem Ehepartner und gemeinsamen Kindern in einer intakten familiären Beziehung lebt, bildet kein absolutes Hindernis für eine Landesverweisung (vgl. BGE 139 I 145 E. 2.3 S. 148 f.). Auch im Falle einer gelebten Ehe kann sich der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens als „notwendig“ im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK erweisen (vgl. Urteile des EGMR Usmanov gegen Russland vom 22. Dezember 2020, Nr. 43936/18, § 56; Boultif gegen Schweiz vom 2. August 2001, Nr. 54273/00, §§ 46 ff.; Urteil 6B_1508/2021 vom 5. Dezember 2022 E. 3.2.5). Entscheidend hierfür sind die gesamten Umstände, namentlich die Art und Schwere der Straftaten, das vom Betroffenen ausgehende Rückfallrisiko, die Dauer seines Aufenthalts in der Schweiz, eine allfällige Kenntnis des Ehepartners von der Straffälligkeit im Zeitpunkt der Eheschliessung, dessen Bezug zum Ausweisungsstaat sowie die Interessen allfälliger Kinder (Urteil 6B_552/2021 vom 9. November 2022 E. 2.7.1; vgl. oben E. 6.3.4).» (E.6.3.5)

Das Bundesgericht setzt sich im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 dann im Detail mit weiteren Ausführungen der Vorinstanz auseinander (E.6.4 ff.) und bemerkt u.a.:

«Besonders zu gewichten ist indes die familiäre Situation des Beschwerdeführers. Er ist nach den vorinstanzlichen Feststellungen seit 2012 mit einer Schweizerin verheiratet. Aus der Ehe ging eine Tochter (geb. Juli 2019) hervor, die zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils knapp zwei Jahre alt war und ebenfalls die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzt. Die Ehefrau ist gelernte medizinische Praxisangestellte (Beschwerde S. 40 Rz. 226). Sie gab nach der Geburt der gemeinsamen Tochter ihre Arbeitstätigkeit zwecks Kinderbetreuung zunächst auf, sei aber seit März 2020 wieder Teilzeit arbeitstätig (40 %) und erziele ein monatliches Bruttoeinkommen von Fr. 1’939.– (vgl. oben E. 6.2.2). Der Beschwerdeführer wohnt mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter zusammen und ist mit seinem 100 %-Arbeitspensum der „Haupternährer“ der Familie (vgl. oben E. 6.2.8). Mit der Vorinstanz ist von einer nahen, echten und tatsächlich gelebten familiären Beziehung zu seiner Ehefrau und seiner minderjährigen Tochter auszugehen. Angesichts des von der Vorinstanz festgestellten intakten familiären Umfelds ist vom gemeinsamen Sorge- und Obhutsrecht der Eltern auszugehen, wie es dem gesetzlichen Normalfall entspricht (vgl. Art. 296 Abs. 2 ZGB). Der Beschwerdeführer kann sich auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK und Art. 13 BV berufen, welche den Schutz des Familienlebens regeln. Gemäss den vorinstanzlichen Ausführungen sind die wichtigsten Bezugspersonen des Beschwerdeführers in der Schweiz seine Ehefrau und seine Tochter. Er bezeichne die Familie seiner Ehefrau als seine „Ersatzfamilie“ in der Schweiz, zu welcher er eine sehr gute Beziehung habe (vgl. oben E. 6.2.6 und E. 6.2.8). Seine Eltern und seine Geschwister leben in Costa Rica (vgl. oben E. 6.2.9). Weitere Blutsverwandte oder Familienangehörige hat der Beschwerdeführer in der Schweiz nicht (vgl. oben E. 6.2.8).  

Gestützt auf die gewichtigen privaten Interessen des Beschwerdeführers und insbesondere angesichts des intakten Familienlebens mit seiner Ehefrau und mit seiner minderjährigen Tochter ist – entgegen der Vorinstanz – von einem schweren persönlichen Härtefall i.S.v. Art. 66a Abs. 2 StGB auszugehen.» (E.6.7.5)

Anschliessend betont das Bundesgericht im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 die Erforderlichkeit einer Interessenabwägung:

«Daraus folgt, dass eine Interessenabwägung vorzunehmen ist. Die Vorinstanz nimmt eine solche mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung und die Praxis des EGMR summarisch vor. Sie hält fest, selbst bei Annahme eines schweren persönlichen Härtefalls würde die Interessenabwägung nicht zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen. Bei einem derart schweren Delikt wie der Schändung mit einem Strafrahmen, der bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe reiche, überwiege das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts regelmässig das private Interesse des Beschuldigten am Verbleib in der Schweiz, falls keine besonderen persönlichen oder familiären Bindungen im Aufenthaltsstaat bestehen würden (angefochtenes Urteil S. 46). Diesen Ausführungen der Vorinstanz kann nicht zugestimmt werden. Bei der Interessenabwägung nach Art. 66a Abs. 2 StGB bildet der ordentliche Strafrahmen der in Frage stehenden Straftat (en) nicht das ausschlaggebende Kriterium. Vielmehr müssen bei der Interessenabwägung stets die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, namentlich die verschuldensmässige Natur und die Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose (vgl. oben E. 6.3.2 und E. 6.3.4).» (E.6.7.6)

«Der EGMR verlangt, dass die nationalen Gerichte den Sachverhalt sorgfältig prüfen, eine ausreichende Interessenabwägung vornehmen und ihren Entscheid eingehend begründen (vgl. Urteile des EGMR E.V. gegen Schweiz vom 18. Mai 2021, Nr. 77220/16, §§ 37 und 39; M.M. gegen Schweiz vom 8. Dezember 2020, Nr. 59006/18, §§ 52 f.; je mit Hinweisen). Das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens nach Art. 8 Ziff. 1 EMRK gilt – in seiner verfahrensrechtlichen Tragweite – als verletzt, wenn keine umfassende, faire Interessenabwägung erfolgt (Urteile des EGMR I.M. gegen Schweiz vom 9. April 2019, Nr. 23887/16, §§ 77 ff.; El Ghatet gegen Schweiz vom 8. November 2016, Nr. 56971/10, §§ 52 ff.; Urteile 6B_552/2021 vom 9. November 2022 E. 2.4.3; 6B_855/2020 vom 25. Oktober 2021 E. 3.3.4; 6B_1070/2018 vom 14. August 2019 E. 6.3.2; je mit Hinweisen).» (E.6.7.7)

Das Bundesgericht hält im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 die Interessenabwägung der Vorinstanz für ungenügend und gibt dem Beschwerdeführer in diesem Punkt recht:

«Die Vorinstanz erwägt vorliegend einzig, es stehe der Ehefrau des Beschwerdeführers offen, zusammen mit ihm und der gemeinsamen Tochter nach Costa Rica zu ziehen (angefochtenes Urteil S. 46). Dem angefochtenen Urteil kann jedoch nicht rechtsgenügend entnommen werden, wieso dies der Fall sein soll (vgl. Urteil 6B_855/2020 vom 25. Oktober 2021 E. 3.5.1). Die Ehefrau ist Schweizerin und sie hat in der Schweiz eine Teilanstellung (angefochtenes Urteil S. 42). Unklar ist, ob sie überhaupt Spanisch spricht und welche Beziehungen sie – abgesehen von der von der Vorinstanz erwähnten Reise im Jahr 2017 (angefochtenes Urteil S. 45) – zu Costa Rica pflegt (vgl. Urteil 6B_855/2020 vom 25. Oktober 2021 E. 3.5.1).  

Zwar hält die Vorinstanz fest, gemäss Angaben des Beschwerdeführers habe seine Ehefrau eine gute Beziehung zu seinen Eltern, die in Costa Rica wohnen (angefochtenes Urteil S. 45). Alleine daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, der Ehefrau des Beschwerdeführers sei es zumutbar, mit ihm und der gemeinsamen Tochter nach Costa Rica zu ziehen. Die Vorinstanz bezieht den Umstand, dass der Beschwerdeführer und seine Ehefrau das gemeinsame Sorgerecht über die minderjährige Tochter haben, die über das Schweizer Bürgerrecht verfügt (vgl. oben E. 6.7.5), nicht in ihre Beurteilung ein (vgl. oben E. 6.7.6). Bei intakten familiären Verhältnissen mit gemeinsamem Sorge- und Obhutsrecht der Eltern führt die Landesverweisung zum Abbruch der eng gelebten Beziehung des Kindes zu einem Elternteil, wenn dem anderen, ebenfalls sorge- und obhutsberechtigten Elternteil ein Wegzug in das Heimatland des verurteilten Elternteils nicht zumutbar ist (vgl. oben E. 6.3.5). 

Nach dem Gesagten nimmt die Vorinstanz keine rechtsgenügende Interessenabwägung vor und kommt ihrer Begründungspflicht i.S.v. Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG nicht genügend nach. Indem es im vorinstanzlichen Urteil an Feststellungen bezüglich der Zumutbarkeit eines allfälligen Wegzugs der Ehefrau des Beschwerdeführers und dessen Tochter nach Costa Rica mangelt, lässt sich die vorinstanzliche Anordnung der Landesverweisung nicht auf seine Richtigkeit überprüfen. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht.» (E.6.8.3)

Die Beschwerde wurde durch das Bundesgericht im Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 teilweise gutgeheissen und im Übrigen abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. Das angefochtene Urteil ist in Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie eine Interessenabwägung nach Art. 66a Abs. 2 StGB vornimmt, die den Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 BGG genügt.

 

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