Sachverhalt
Der A. wurde mit Beschluss und Urteil des Bezirksgerichts Hinwil vom 20. April 2023 wegen mehrfacher Drohung und Missbrauchs einer Fernmeldeanlage zu 24 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, wovon 303 Tage durch Haft erstanden waren. Gleichzeitig wurde eine stationäre therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB angeordnet. Hintergrund der Verurteilung war ein Beziehungskonflikt von A. mit seiner Ehefrau, die sich als Privatklägerin am Verfahren beteiligte.
Instanzenzug
Der A. erhob gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung, woraufhin das Obergericht des Kantons Zürich im Berufungsverfahren ein Schuldinterlokut im Sinne von Art. 342 Abs. 1 lit. a StPO anordnete. Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich hatte auf Anschlussberufung verzichtet. Am 14. März 2024 erging ein „Teilurteil“, in dem A. der mehrfachen Drohung schuldig gesprochen und das Verfahren wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage eingestellt wurde. Gleichzeitig gab das Obergericht ein neues Gutachten in Auftrag und entschied, das Berufungsverfahren zur Beurteilung der Straf- und Massnahmenfolgen weiterzuführen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich A. im vorzeitigen Strafvollzug. Das Obergericht äusserte sich im Teilurteil vom 14. März 2024 nicht zur Frage der Haft.
Am 11. Juni 2024 ging beim Obergericht eine E-Mail der Gewaltschutzabteilung der Kantonspolizei Zürich ein, wonach am 20. Juni 2024 das provisorische Strafende erreicht werde und theoretisch die Möglichkeit bestehe, dass A. dann auf freien Fuss gesetzt werden könnte, weshalb sich beim möglicherweise behandlungsbedürftigen Beschuldigten die Frage der Sicherheitshaft stelle. Gleichentags wurden die Parteien vom Obergericht eingeladen, zur Frage der Sicherheitshaft Stellung zu nehmen. Nachdem die Stellungnahmen eingegangen waren, wurde A. mit Präsidialverfügung vom 19. Juni 2024 formell in Sicherheitshaft versetzt, wobei diese bis zum Endentscheid der Berufungsinstanz befristet wurde.
Weiterzug ans Bundesgericht
Gegen die vorinstanzliche Haftanordnung erhebt A. Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht. Er verlangt, er sei umgehend aus der Sicherheitshaft zu entlassen, eventualiter seien anstelle der Haft geeignete Ersatzmassnahmen, namentlich Electronic Monitoring, anzuordnen. Subeventualiter sei die Haft bis am 31. August 2024 zu befristen. Subsubeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Nebst dem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren. Die Vorinstanz verzichtet auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich liess sich innert Frist nicht vernehmen.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_793/2024 vom 31. Juli 2024
Der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Er begründet dies im Wesentlichen damit, dass ihm keine Gelegenheit zur mündlichen Anhörung gegeben worden sei und die veränderten Verhältnisse in der vorinstanzlichen Entscheidbegründung zu wenig berücksichtigt worden seien. Ausserdem erwähnt er, dass die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft ihm erst mit dem Endentscheid zugestellt worden sei (E.2.1).
Das Bundesgericht äussert sich generell-abstrakt im Urteil 7B_793/2024 vom 31. Juli 2024 wie folgt:
«Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 3 Abs. 2 lit. c sowie Art. 107 StPO haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch dient der Sachaufklärung und garantiert den Verfahrensbeteiligten ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht. Sie haben insbesondere Anspruch auf Äusserung zur Sache vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung eingreifenden Entscheids (BGE 149 I 91 E. 3.2 mit Hinweisen). Darunter fällt namentlich das Recht der beschuldigten Person und ihrer Verteidigung, zu den von Amtes wegen zu prüfenden Haftgründen Stellung zu nehmen (Urteil 7B_410/2024 vom 24. April 2024 E. 3.2 mit Hinweisen). Ein gültiger Haftentscheid kommt nur zustande, wenn der beschuldigten Person (und der Staatsanwaltschaft) vorgängig das rechtliche Gehör eingeräumt wurde (Urteil 1B_236/2021 vom 1. Juni 2021 E. 2.2). Dies gilt auch dann, wenn die Fortsetzung der Haft im Rahmen eines hängigen Berufungsverfahrens angeordnet wird (vgl. Urteil 1B_429/2019 vom 23. September 2019 E. 2.2 mit Hinweisen). Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Seine Verletzung führt in der Regel ungeachtet der materiellen Begründetheit der Beschwerde zu deren Gutheissung und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 144 IV 302 E. 3.1 mit Hinweisen).» (E.2.2).
Zu prüfen ist gemäss Bundesgericht im vorliegenden Fall, ob der Beschwerdeführer unter Gehörsaspekten Anspruch auf eine mündliche Anhörung gehabt hätte (E.2.3).
«Gestützt auf die Garantien von Art. 31 Abs. 3 BV ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei der erstmaligen Anordnung von Sicherheitshaft ohne vorbestehende Untersuchungshaft eine mündliche Haftverhandlung durchzuführen (Urteil 7B_190/2024 vom 12. März 2024 E. 3.2.2 mit Hinweisen). Befand sich die betroffene Person dagegen vor der Anordnung von Sicherheitshaft in Untersuchungshaft, sind die Haftgründe bei deren Anordnung in einem kontradiktorischen Verfahren, bei dem sie ihren Standpunkt auch mündlich darlegen konnte, eingehend geprüft worden, so dass sich die Anordnung von Sicherheitshaft in einem schriftlichen Verfahren ohne mündliche Anhörung rechtfertigt (Urteil 1B_375/2015 vom 12. November 2015 E. 2.3).» (E.2.3.1).
«Ergeben sich Haftgründe erst während eines Verfahrens vor dem Berufungsgericht, sieht Art. 232 Abs. 1 StPO – entsprechend dem Grundsatz von Art. 31 Abs. 3 BV – vor, dass die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die in Haft zu setzende Person unverzüglich vorführen lässt und sie anhört. Die Bestimmung betrifft die erstmalige Anordnung von Sicherheitshaft nach Rechtshängigkeit des Berufungsverfahrens (MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 1 zu Art. 232 StPO). Von Art. 232 StPO grundsätzlich nicht angesprochen werden dagegen Fälle, in denen sich die betroffene Person bereits in strafprozessualer Haft befindet. Dies lässt sich zunächst aus dem Wortlaut von Abs. 1 schliessen: Die Formulierungen „Ergeben sich Haftgründe erst“ und „die in Haft zu setzende Person“ deuten darauf hin, dass zuvor noch keine Haft bestand. Entsprechend hat auch das Bundesgericht festgehalten, bei Art. 232 StPO gehe es darum, eine Person wegen neuer Tatsachen, die während des Berufungsverfahrens aufgetreten seien, in Haft zu versetzen (BGE 139 IV 277 E. 2.2). Ausserdem handelt es sich bei der Anordnung von Sicherheitshaft bei vorbestehender Untersuchungshaft (bzw. vorzeitigem Strafvollzug) faktisch um eine Haftverlängerung. Für diese Konstellation sieht Art. 229 Abs. 3 lit. b i.V.m. Art. 227 Abs. 6 StPO im Grundsatz das schriftliche Verfahren vor. Weshalb dies anders sein sollte, wenn nicht das Zwangsmassnahmengericht, sondern das Berufungsgericht über die Haft entscheidet, ist nicht einzusehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die beschuldigte Person in den vorangehenden Haftprüfungsverfahren die Möglichkeit einer mündlichen Anhörung hatte und sich die Berufungsinstanz bei ihrem Haftentscheid nicht auf andere Haftgründe (im Sinne haftrelevanter neuer Fakten) beruft als jene, die den bisherigen Hafttiteln zugrunde lagen (vgl. zu Art. 227 StPO Urteile 7B_154/2023 vom 13. Juli 2023 E. 2.2; 1B_413/2021 vom 12. August 2021 E. 3.2; je mit Hinweisen).» (E.2.3.2).
«Bei der angeordneten vorinstanzlichen Sicherheitshaft handelt es sich im Grunde genommen lediglich um eine Verlängerung der vorbestehenden Haft – wenn auch neu nicht mehr unter dem Titel des vorzeitigen Strafvollzugs, sondern unter demjenigen der Sicherheitshaft. Fraglich ist, ob dennoch ein Anwendungsfall von Art. 232 Abs. 1 StPO vorliegt.» (E.2.3.3).
«Zur Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob der Beschwerdeführer in den vorgängigen Haftprüfungsverfahren die Möglichkeit einer mündlichen Anhörung zu den Haftgründen der Wiederholungs- und Ausführungsgefahr gehabt hat. Dieser Teil des Prozesssachverhalts geht aus der angefochtenen Verfügung jedoch nicht hervor und er lässt sich auch anhand der von der Vorinstanz zur Verfügung gestellten Akten nicht restlos nachvollziehen. Sofern in früheren Verfahren die Möglichkeit einer mündlichen Vernehmung zu den von der Vorinstanz angerufenen Haftgründen bestanden hat, beurteilt sich der Sachverhalt in analoger Anwendung von Art. 229 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 227 StPO. Demnach wäre das Verfahren grundsätzlich schriftlich, ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung bestünde nicht (Art. 227 Abs. 6 StPO; vgl. Urteile 7B_154/2023 vom 13. Juli 2023 E. 2.2; 1B_413/2021 vom 12. August 2021 E. 3.2; je mit Hinweisen). Sollte sich die Vorinstanz jedoch erstmals auf die besonderen Haftgründe der Wiederholungs- und Ausführungsgefahr berufen, stünde der Anwendungsbereich von Art. 232 Abs. 1 StPO offen und müsste sie dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben.» (E.2.3.4).
«Gemäss Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG müssen Entscheide, die der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegen, namentlich die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Natur enthalten. Diesen Vorgaben genügt die angefochtene Verfügung angesichts der dargestellten Unklarheiten im Prozesssachverhalt nicht. Es lässt sich daher nicht beurteilen, ob die Vorinstanz das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzte, indem sie auf eine mündliche Anhörung verzichtete. Infolgedessen ist die angefochtene Verfügung in Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG aufzuheben. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die nötigen Sachverhaltsfeststellungen trifft und gestützt darauf über die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung neu befindet.» (E.2.3.5).
Ein weiterer Streitpunkt vor Bundesgericht ist das Replikrecht (E.2.4).
«Der Anspruch auf rechtliches Gehör (siehe E. 2.2 oben) umfasst auch das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob die Eingaben neue oder wesentliche Vorbringen enthalten (BGE 146 III 97 E. 3.4.1; 142 III 48 E. 4.1.1; 126 I 172 E. 3c; je mit Hinweisen). Dieses sog. Replikrecht besteht auch im Haftprüfungsverfahren (vgl. Urteil 7B_752/2023 vom 27. Oktober 2023 E. 2.2 mit Hinweis). Stellungnahmen der Gegenpartei sind der beschuldigten Person deshalb zur Kenntnisnahme und allfälliger Replik zuzustellen, bevor das Haftgericht bzw. das Berufungsgericht, welches die Haft anordnet, darüber entscheidet (Urteil 7B_535/2024 vom 3. Juni 2024 E. 2.3.1 mit Hinweisen).» (E.2.4.1).
«Vorliegend gab die Vorinstanz den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Haftanordnung. Der Beschwerdeführer liess sich am 17. Juni 2024 vernehmen, die Staatsanwaltschaft am 12. Juni 2024. In der Folge unterliess es die Vorinstanz, die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer zuzustellen und ihm die Möglichkeit einer allfälligen Replik zu geben. Stattdessen stellte sie ihm die Stellungnahme erst zusammen mit der angefochtenen Präsidialverfügung zu. Mit diesem Vorgehen bei gleichzeitigem Verzicht auf eine mündliche Anhörung (vgl. E. 3.1 unten) hat die Vorinstanz das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt.» (E.2.4.2).
Auf eine weitere Rüge (E.2.5) wird hier nicht eingegangen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Urteil 7B_793/2024 vom 31. Juli 2024 teilweise gut, und zwar wie folgt: «Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Die angefochtene Verfügung ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird nach Vornahme der nötigen Sachverhaltsabklärungen in Bezug auf die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung und nach Gewährung des Replikrechts neu zu entscheiden haben, ob die strafprozessualen Haftvoraussetzungen erfüllt sind. Der neue Entscheid der Vorinstanz hat mit Blick auf das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Art. 5 Abs. 2 StPO) raschestmöglich – das heisst spätestens innert fünf Tagen nach Eingang der Replik (Art. 227 Abs. 5 StPO analog) oder allenfalls innert 48 Stunden seit Zuführung zur mündlichen Verhandlung (Art. 232 Abs. 2 StPO) – zu ergehen. Sollte die Vorinstanz eine mündliche Anhörung als notwendig erachten, wäre dem Replikrecht mit deren Durchführung im Übrigen Genüge getan. Eine Haftentlassung durch das Bundesgericht kommt unter den gegebenen Umständen, wo eine materiell-rechtliche Prüfung der Beschwerde ausgeschlossen ist, nicht in Betracht (vgl. Urteile 7B_535/2024 vom 3. Juni 2024 E. 3.2; 7B_190/2024 vom 12. März 2024 E. 4.1; je mit Hinweisen). Dem diesbezüglichen Gesuch kann deshalb nicht entsprochen werden.» (E.3.1).