Entschädigungsanspruch und Genugtuungsanspruch im Berufungsverfahren

Im Urteil 6B_34/2018 vom 13. Mai 2024 aus dem Kanton Aargau macht das Bundesgericht umfassende und fast lehrbuchartige Ausführungen zum Entschädigungsanspruch gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO (E.3) sowie zum Genugtuungsanspruch gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO im Berufungsverfahren (E.2). Hier ist eine der Schlüsselstellen: «Vorliegend äussert sich die Vorinstanz nicht zu einer allfälligen Entschädigung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO. Es ist damit unklar, ob sie die Frage der Entschädigung überhaupt geprüft hat, wie sie dies nach Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO tun müsste. Aus dem Urteil und den Akten ergibt sich nicht, dass sie den Beschwerdeführer aufgefordert hätte, allfällige Forderungen zu beziffern und zu belegen. Damit verletzt die Vorinstanz seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und Art. 429 Abs. 2 StPO. […] Da das Bundesgericht erstmals mit BGE 144 IV 207 und damit nach Eingang der vorliegenden Beschwerde entschieden hat, dass die Entschädigung nach Art. 429 StPO im Endentscheid festzusetzen ist und nicht nachträglich bestimmt werden kann, weshalb sich die beschuldigte Person auf dem Rechtsmittelweg zu wehren hat, wenn es die Strafbehörde unterlässt, über die Entschädigung zu befinden […].  Ein reformatorischer Entscheid ist, entgegen dem Antrag der Vorinstanz, nicht möglich, da es nicht Sache des Bundesgerichts ist, erstmals über die Frage einer Entschädigung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO zu befinden.» (E.3.2).

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Baden warf A. zusammengefasst vor, in der Zeit von Mitte/Ende April 2014 bis zirka Mitte Juni 2014 seine damalige Lebenspartnerin B. einmal im Wohnzimmer und mindestens viermal im Schlafzimmer der gemeinsamen Wohnung gegen ihren Willen zum ungeschützten Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben. Ferner soll er B. einmal gegen das Bett gestossen haben, woraufhin sie ohnmächtig geworden sei, und in der Folge den vaginalen Geschlechtsverkehr im Wissen an ihr vollzogen haben, dass sie dies nicht wolle. In der Zeit von Mitte/Ende April 2014 bis zum 21. Juli 2014 soll A. seine damalige Lebenspartnerin einmal in den Bauch getreten sowie zwei bis fünf Mal pro Woche festgehalten, geschüttelt und gegen die Wand oder den Boden gestossen, ihr Ohrfeigen gegeben sowie mit den Beinen gegen sie getreten haben. Am 4. August 2014 habe er ihr gedroht, sie zu töten, falls sie die gemeinsame Hochzeit absage, woraufhin sie dies dennoch tat. Gleichentags habe er gesagt, er werde sie umbringen, und sofern er ins Gefängnis müsse, werde er sie durch seinen Bruder, seinen Sohn oder seine Familie umbringen lassen, wodurch sie in Angst sowie Schrecken versetzt worden sei.

Instanzenzug

Das Bezirksgericht Baden sprach A. am 16. April 2015 von Schuld sowie Strafe frei und verwies die Zivilforderungen auf den Zivilweg. Sowohl die Staatsanwaltschaft Baden als auch B. erhoben gegen dieses Urteil Berufung.

Das Obergericht des Kantons Aargau verfügte auf Antrag der Staatsanwaltschaft, dass A. bis zum rechtskräftigen Abschluss des Berufungsverfahrens in Sicherheitshaft bleibt. Das Bundesgericht wies die von A. dagegen erhobene Beschwerde in Strafsachen am 27. Mai 2015 ab, soweit es darauf eintrat (Verfahren 1B_171/2015). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied mit Urteil vom 6. Oktober 2020, dass die Sicherheitshaft von A. nach dem erstinstanzlichen Freispruch Art. 5 Ziff. 1 EMRK verletzt, und sprach ihm eine Genugtuung von Euro 25’000.– zu (Urteil des EGMR I.S. gegen Schweiz vom 6. Oktober 2020 [Nr. 60202/15] §§ 46 ff.).  Der A. wurde am 2. Dezember 2015 aus der Sicherheitshaft entlassen (siehe hierzu Urteil 1B_401/2015 vom 30. November 2015).

Mit Urteil vom 19. Mai 2016 sprach das Obergericht des Kantons Aargau A. der mehrfachen Vergewaltigung, der einfachen Körperverletzung, der Drohung, der versuchten Nötigung und der mehrfachen Tätlichkeit schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren, einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 120.–, einer Busse von Fr. 500.– und der Bezahlung einer Genugtuung von Fr. 10’000.– an B.

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde in Strafsachen von A. am 29. Juni 2017 teilweise gut, hob das obergerichtliche Urteil auf und wies die Sache zur neuen Beurteilung an das Obergericht zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat (Verfahren 6B_760/2016).

Mit Urteil vom 23. November 2017 sprach das Obergericht des Kantons Aargau A. von Schuld und Strafe frei (Dispositiv-Ziff. 1). Es wies die Obergerichtskasse an, ihm für die ungerechtfertigte Untersuchungs- und Sicherheitshaft von 486 Tagen eine Genugtuung von Fr. 69’795.– zu bezahlen. Es hielt fest, diese Entschädigung entfalle im Umfang, in welchem eine Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungs- und Sicherheitshaft auf eine vom Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt ausgesprochene Strafe stattfinde (Dispositiv-Ziff. 2). Ferner verwies es die Zivilklage von B. auf den Zivilweg (Dispositiv-Ziff. 3), regelte die Kostenverteilung und legte die Entschädigung für den amtlichen Verteidiger und den unentgeltlichen Rechtsvertreter fest (Dispositiv-Ziff. 4 f.).

Der A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, (1.) es sei Dispositiv-Ziff. 2 des obergerichtlichen Urteils aufzuheben und ihm stattdessen für die ungerechtfertigte Untersuchungs- und Sicherheitshaft von 486 Tagen eine zu verzinsende Genugtuung von Fr. 126’120.– zuzusprechen, (2.) es sei festzustellen, dass im Falle einer teilweisen Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungs- und Sicherheitshaft an die im Rahmen des beim Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt hängigen Verfahrens allenfalls ausgesprochene Strafe zuerst an die zum niedrigsten Ansatz und zuletzt an die zum höchsten Ansatz entschädigten Tage anzurechnen sei, (3.) es sei ferner festzustellen, dass seine Ansprüche gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO vom Obergericht nicht beurteilt worden seien, sodass er die Möglichkeit habe, diese Ansprüche vor diesem noch geltend zu machen.

Der damals zuständige Instruktionsrichter der früheren Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hat das Verfahren am 1. November 2018 sistiert, da das Urteil zumindest teilweise vom Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt im vom Bundesgericht (mittlerweile mehrfach) zurückgewiesenen Verfahren gegen A. abhängt.

Mit Verfügung des mittlerweile zuständigen Instruktionsrichters der I. strafrechtlichen Abteilung vom 16. Januar 2024 wurde das vorliegende Verfahren weitergeführt und das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft zur Vernehmlassung eingeladen, worauf beide verzichteten. Mit Verfügung vom 5. März 2024 lud das Bundesgericht die Parteien ein, sich zur Tragweite des Urteils des EGMR I.S. gegen Schweiz vom 6. Oktober 2020 für das bundesgerichtliche Verfahren zu äussern. Die Parteien und die Vorinstanz liessen sich zu dieser Frage vernehmen. A. replizierte.

Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt erklärte A. am 16. August 2023 der me hrfachen Vergewaltigung sowie der mehrfachen Tätlichkeiten schuldig und sprach ihn in weiteren Anklagepunkten vom Vorwurf der mehrfachen Vergewaltigung, der mehrfachen sexuellen Nötigung, der mehrfachen Nötigung, der mehrfachen Drohung sowie der mehrfachen Tätlichkeiten frei. Es verurteilte ihn zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 16 Monaten, unter Einrechnung der im Kanton Basel-Stadt ausgestandenen Untersuchungs- und Sicherheitshaft vom 3. Januar bis 22. November 2013 (324 Tage) sowie der im Kanton Aargau ausgestandenen Untersuchungs- und Sicherheitshaft vom 4. August 2014 bis 2. Dezember 2015 (486 Tage). Für die nach Anrechnung an die Freiheitsstrafe verbleibende Überhaft von 330 Tagen des Aargauer Strafverfahrens verwies das Appellationsgericht auf das im vorliegenden Verfahren angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 23. November 2017 (Dispositiv-Ziff. 2). Die von A. gegen das appellationsgerichtliche Urteil geführte Beschwerde in Strafsachen wird in einem separaten Verfahren beurteilt (Verfahren 6B_1310/2023).

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_34/2018 vom 13. Mai 2024  

Strittig sind vorliegend vor Bundesgericht die Höhe eines Genugtuungsanspruchs nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO und das Vorliegen eines Entschädigungsanspruchs gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO. Gegen Entscheide über Ansprüche auf Entschädigung oder Genugtuung im Sinne von Art. 429 Abs. 1 StPO ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig (BGE 139 IV 206 E. 1; Urteil 6B_1094/2022 vom 8. August 2023 E. 1). (E.1.2).

Der Beschwerdeführer wendet sich vor Bundesgericht gegen die Höhe der Genugtuung. Er stimmt der Vorinstanz zu, dass die ersten sechs Monate des Freiheitsentzugs zu einem Ansatz von Fr. 200.– pro Tag zu entschädigen seien. Hingegen vertritt er die Ansicht, dass der Ansatz für die folgende Haftzeit bis zum erstinstanzlichen Urteil lediglich um ein Viertel und nicht wie von der Vorinstanz um die Hälfte zu reduzieren ist. Hinsichtlich der Zeit nach dem erstinstanzlichen Urteil argumentiert er, dass diese aufgrund des ergangenen Freispruchs sogar schwerer als die erste Haftzeit wiege, weshalb sich eine Erhöhung des Ansatzes um ein Viertel als angemessen erweise. Schliesslich rügt er, dass die Vorinstanz die miserablen Haftbedingungen bei der konkreten Bemessung der Eingriffsschwere nicht berücksichtige, weshalb eine Erhöhung der jeweiligen Tagessätze um mindestens 20 % zwingend sei. Zusammenfassend hält er fest, er sei für die erste Phase seiner Haftzeit (vom 4. August 2014 bis zum 3. Februar 2015, mithin 184 Tage) mit Fr. 240.– pro Tag (Fr. 200.– plus 20 %), die zweite Phase (vom 4. Februar 2015 bis zum 15. April 2015, mithin 71 Tage) mit Fr. 180.– pro Tag (Fr. 150.– plus 20 %) und für die dritte Phase (vom 16. April 2015 bis zum 2. Dezember 2015, mithin 231 Tage) mit Fr. 300.– pro Tag (Fr. 250.– plus 20 %), insgesamt mit Fr. 126’240.– zu entschädigen (E.2.1).

Die Vorinstanz erwägt, zusammengefasst durch das Bundesgericht, der Beschwerdeführer habe sich vom 4. August 2014 bis zum 2. Dezember 2015 und damit während 486 Tagen in Haft befunden. Beim erlittenen Freiheitsentzug handle es sich um eine schwere Verletzung seiner persönlichen Verhältnisse. Die ausgestandene Haft habe verhältnismässig lange gedauert. Bei der Bemessung der Entschädigung sei der Tagessatz daher über die Zeitdauer degressiv zu bemessen, da die wahrgenommene Unbill abnehme, je länger die Haft dauere. Unter Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erscheine ein Tagessatz von Fr. 200.– für die ersten sechs Monate der ausgestandenen Untersuchungshaft als der mit dem Freiheitsentzug erlittenen Unbill angemessen. Für die weiteren sechs Monate Haft sei er auf Fr. 100.– und für den Rest des erlittenen Freiheitsentzugs auf Fr. 75.– pro Tag zu reduzieren. In einem zweiten Schritt berücksichtigt die Vorinstanz die Besonderheiten des Einzelfalls und führt aus, der Beschwerdeführer sei in der Schweiz inhaftiert gewesen und gebe an, insbesondere den fehlenden Kontakt zu seinem Enkel als besonders schwierig empfunden zu haben. Beim Tatvorwurf der mehrfachen Vergewaltigung, der Drohung und der versuchten Nötigung, der einfachen Körperverletzung sowie der mehrfachen Tätlichkeiten zum Nachteil seiner früheren Lebenspartnerin handle es sich um verhältnismässig schwere Vorwürfe, wodurch die subjektive Betroffenheit des Beschwerdeführers erhöht worden sei. Durch die Abwesenheit im Berufsleben hätten auch seine Laufbahn und seine Karriereplanung eine Beeinträchtigung erfahren, die bei der Festsetzung des Tagessatzes ebenfalls zu berücksichtigen sei. In Würdigung dieser Umstände sei die ermittelte Grössenordnung der Tagessätze um 10 % zu erhöhen. Der Tagessatz für die ersten sechs Monate betrage damit Fr. 220.–, jener für die weiteren sechs Monate Fr. 110.– und der für die restlichen 126 Hafttage Fr. 82.50. Insgesamt resultiere daraus für den Fall, dass es im Verfahren vor dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt nicht zur rechtskräftigen Ausfällung einer Strafe komme, auf welche die im vorliegenden Verfahren ausgestandene Haft angerechnet werden könne, eine Entschädigung von Fr. 69’795.– ([180 x Fr. 220.– = Fr. 39’600.–] + [180 x Fr. 110.– = Fr. 19’800.–] + [126 x Fr. 82.50 = Fr. 10’395.–]). Sollte es im Verfahren vor dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt zur rechtskräftigen Ausfällung einer Strafe kommen, auf welche die im vorliegenden Verfahren ausgestandene Haft nur teilweise angerechnet werden könne, ergebe sich die dem Beschwerdeführer auszurichtende Entschädigung aus der Differenz zwischen dem im vorliegenden Verfahren ausgestandenen Freiheitsentzug von 486 Tagen und der Anzahl im Verfahren vor dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt ausgefällten Strafeinheiten (Urteil S. 34 f.). (E.2.2).

Zum Genugtuungsanspruch

Das Bundesgericht führt generell-abstrakt zum Recht auf Genugtuung im Urteil 6B_34/2018 vom 13. Mai 2024 zunächst Folgendes aus:

«Ansprüche auf Entschädigung und Genugtuung im Rechtsmittelverfahren richten sich nach den Artikeln 429 ff. StPO (Art. 436 Abs. 1 StPO). Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, so hat sie nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO Anspruch auf Genugtuung für besonders schwere Verletzungen ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere bei Freiheitsentzug. Der Begriff des Freiheitsentzugs im Sinne von Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO muss im Lichte von Art. 51 und Art. 110 Abs. 7 StGB ausgelegt werden. Nach dieser letzten Bestimmung gilt als Untersuchungshaft jede in einem Strafverfahren verhängte Haft, Untersuchungs-, Sicherheits- und Auslieferungshaft (BGE 146 IV 231 E. 2.3.1; 143 IV 339 E. 3.2).  

Ein Anspruch auf Genugtuung im Sinne von Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO besteht regelmässig, wenn gegenüber der beschuldigten Person Untersuchungs- oder Sicherheitshaft angeordnet wurde. Nebst der Haft können auch weitere Verfahrenshandlungen oder Umstände wie etwa familiäre oder berufliche Konsequenzen des Strafverfahrens sowie eine mit starkem Medienecho durchgeführte Untersuchung oder eine erhebliche Präsentation in den Medien eine schwere Verletzung der persönlichen Verhältnisse im Sinne von Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO darstellen (BGE 146 IV 231 E. 2.3.1; 143 IV 339 E. 3.1; Urteil 6B_1094/2022 vom 8. August 2023 E. 2.2.1).» (E.2.3.1).

«Materiellrechtlich beurteilt sich der Genugtuungsanspruch nach Art. 28a Abs. 3 ZGB und Art. 49 OR (BGE 146 IV 231 E. 2.3.1; 143 IV 339 E. 3.1 mit Hinweis). Die Genugtuung bezweckt den Ausgleich für erlittene immaterielle Unbill, indem das Wohlbefinden anderweitig gesteigert oder die Beeinträchtigung erträglicher gemacht wird. Bemessungskriterien sind vor allem die Art und Schwere der Verletzung, die Intensität und Dauer der Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen, der Grad des Verschuldens des Haftpflichtigen, ein allfälliges Selbstverschulden des Geschädigten sowie die Aussicht auf Linderung des Schmerzes durch die Zahlung eines Geldbetrags (BGE 146 IV 231 E. 2.3.1 mit Hinweisen).  Die Festlegung der Genugtuungssumme beruht auf der Würdigung sämtlicher Umstände und richterlichem Ermessen (Art. 4 ZGB). In dieses greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung ein. Es schreitet nur ein, wenn das Sachgericht grundlos von den in bewährter Lehre und Rechtsprechung anerkannten Bemessungsgrundsätzen abweicht, oder wenn Tatsachen berücksichtigt worden sind, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle spielen oder umgekehrt Umstände ausser Betracht gelassen worden sind, die in den Entscheid hätten einbezogen werden müssen. Ausserdem greift das Bundesgericht in Ermessensentscheide ein, wenn sich diese als offensichtlich unbillig bzw. als in stossender Weise ungerecht erweisen (BGE 149 IV 289 E. 2.1.7; 146 IV 231 E. 2.3.1; 143 IV 339 E. 3.1; je mit Hinweisen). Das Bundesrecht setzt keinen Mindestbetrag fest (Urteil 6B_1094/2022 vom 8. August 2023 E. 2.2.2). Im Falle einer ungerechtfertigten Inhaftierung erachtet die Rechtsprechung grundsätzlich einen Betrag von Fr. 200.– pro Tag als angemessen, soweit keine besonderen Umstände einen geringeren oder höheren Betrag rechtfertigen (BGE 149 IV 289 E. 2.1.2; 146 IV 231 E. 2.3.2; 143 IV 339 E. 3.1; je mit Hinweisen). Bei längerer Untersuchungshaft (von mehreren Monaten Dauer) ist der Tagessatz in der Regel zu senken, da die erste Haftzeit besonders schwer ins Gewicht fällt (BGE 143 IV 339 E. 3.1; Urteile 6B_519/2022 vom 24. August 2022 E. 3.1; 6B_744/2020 vom 26. Oktober 2020 E. 5.2; je mit Hinweisen). Dieser Tagessatz ist indes nur ein Kriterium für die Ermittlung der Grössenordnung der Entschädigung. In einem zweiten Schritt sind auch die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen wie die Dauer des Freiheitsentzugs, die Auswirkungen des Strafverfahrens auf die betroffene Person und die Schwere der ihr vorgeworfenen Taten etc. (BGE 149 IV 289 E. 2.1.2; 146 IV 231 E. 2.3.2; 143 IV 339 E. 3.1; je mit Hinweisen).» (E.2.3.2).

«Zum Schaden gehört nach konstanter Rechtsprechung der Zins vom Zeitpunkt an, in welchem das schädigende Ereignis sich ausgewirkt hat. Der Zins bildet Teil der Genugtuung. Dessen Höhe beträgt gemäss Art. 73 OR 5 % (Urteile 6B_1094/2022 vom 8. August 2023 E. 2.2.3; 6B_601/2021 vom 16. August 2022 E. 3; 6B_632/2017 vom 22. Februar 2018 E. 2.3; je mit Hinweisen). Der Genugtuungszins hinsichtlich Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO ist zu beantragen. Unterlässt es der Antragsteller eine Verzinsung der Genugtuung zu verlangen, obwohl es ihm respektive seinem Rechtsvertreter zumutbar gewesen wäre, ist von einem impliziten Verzicht auf die Verzinsung auszugehen (Urteil 6B_502/2020 vom 6. Mai 2021 E. 3.2.2 mit Hinweis auf Urteil 6B_632/2017 vom 22. Februar 2018 E. 2.4).» (E.2.3.3).

Fallbezogen entscheidet das Bundesgericht im Urteil 6B_34/2018 vom 13. Mai 2024 Folgendes:

«Die von der Vorinstanz ausgesprochene Entschädigung hält sich im Rahmen ihres sachrichterlichen Ermessens. Die von ihr in einem ersten Schritt bestimmten Haft-Phasen und die dafür angenommenen Ansätze sind nicht zu beanstanden. Angesichts der langen Haftdauer erscheint eine Reduktion des Tagessatzes durchaus als angebracht, was auch der Beschwerdeführer grundsätzlich nicht in Abrede stellt. Die Vorinstanz handelt ohne Weiteres ermessenskonform, indem sie für die ersten sechs Monate der Haft von einem Betrag von Fr. 200.– pro Tag ausgeht, für die nächsten sechs Monate einen Betrag von Fr. 100.– pro Tag in Anschlag bringt und für die restlichen 126 Tage Haft einen Ansatz von Fr. 75.– pro Tag wählt. Daraus resultiert im Durchschnitt ein Betrag von Fr. 130.55 pro Tag, was nicht zu beanstanden ist. Nicht weiter einzugehen ist auf das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach die Haftzeit nach dem erstinstanzlichen Freispruch schwerer als die erste Haftzeit wiege, wo noch kein Sachgericht darüber entschieden gehabt habe, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu Unrecht vorgebracht worden seien, da der EGMR ihm mit Urteil vom 6. Oktober 2020 für die konventionswidrige Haft nach dem erstinstanzlichen Freispruch bereits eine Genugtuung von Euro 25’000.– zugesprochen hat (Urteil I.S. gegen Schweiz, a.a.O., § 65). Mit seinem Vorbringen, für die zweite Haft-Phase erscheine ein Entschädigungsansatz von Fr. 150.– pro Tag angemessen, vermag der Beschwerdeführer nicht aufzuzeigen, dass der von der Vorinstanz angenommene Tagessatz von Fr. 100.– nicht ermessenskonform ist.  Auch die von der Vorinstanz in einem zweiten Schritt vorgenommene Würdigung der Besonderheiten des Einzelfalls ist nicht zu beanstanden. Sie berücksichtigt bei der Festlegung der Höhe der Genugtuung zutreffend die Auswirkungen der Haft auf das Privat-, das Sozial- und das Berufsleben des Beschwerdeführers (vgl. Urteile 6B_1094/2022 vom 8. August 2023 E. 2.4.2; 6B_1160/2022 vom 1. Mai 2023 E. 2.1.4; je mit Hinweisen). Die von ihr hierfür vorgenommene Erhöhung der im ersten Schritt ermittelten Tagessätze um 10 % liegt innerhalb ihres Ermessens. Der Beschwerdeführer schildert seine Haftbedingungen und macht sinngemäss geltend, die Vorinstanz habe diesbezüglich den Sachverhalt unvollständig festgestellt und die konkreten Haftbedingun-gen bei der Bemessung der Genugtuung nicht berücksichtigt. Er zeigt jedoch nicht auf, dass er die angeblich miserablen Haftbedingungen im bisherigen Verfahren thematisierte und die Vorinstanz in Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht darauf eingeht. Soweit ersichtlich ergibt sich Entsprechendes auch nicht aus den Akten. Ebenso wenig scheint er die Haftbedingungen in den bisherigen Verfahren vor Bundesgericht und im Verfahren vor dem EGMR thematisiert zu haben. Es ist nicht am Bundesgericht erstmals darüber zu befinden und – wie vom Beschwerdeführer beantragt – Erkundigungen über seine Haftbedingungen einzuholen. Auf seine erstmals vor Bundesgericht vorgebrachten Einwände ist nicht einzutreten (vgl. Art. 99 Abs. 1 und Art. 80 Abs. 1 BGG).» (E.2.4).

«Als unbegründet erweist sich der Antrag des Beschwerdeführers, ihm sei ein Genugtuungszins von 5 % auszurichten. Gemäss der Rechtsprechung muss der Zins beantragt werden. Weder zeigt der Beschwerdeführer auf noch ergibt sich aus den Akten, dass er im vorinstanzlichen Verfahren die Verzinsung der Genugtuung beantragt hat oder ihm bzw. seinem Rechtsvertreter dies nicht zumutbar gewesen wäre. Damit ist von einem impliziten Verzicht auf die Verzinsung auszugehen (vgl. Urteile 6B_502/2020 vom 6. Mai 2021 E. 3.2.2; 6B_632/2017 vom 22. Februar 2018 E. 2.4).» (E.2.5).

Zum Entschädigungsanspruch nach Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO

Zum Entschädigungsanspruch äusserte sich das Bundesgericht generell-abstrakt im Urteil 6B_34/2018 vom 13. Mai 2024 wie folgt:

«Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, so hat sie nach Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO Anspruch auf Entschädigung der wirtschaftlichen Einbussen, die ihr aus ihrer notwendigen Beteiligung am Strafverfahren entstanden sind (lit. b). Gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO muss die Strafbehörde den Entschädigungsanspruch von Amtes wegen prüfen. Dies bedeutet indessen nicht, dass die Strafbehörde im Sinne des Untersuchungsgrundsatzes von Art. 6 StPO alle für die Beurteilung des Entschädigungsanspruchs bedeutsamen Tatsachen von Amtes wegen abzuklären hat. Sie hat aber die Parteien zur Frage mindestens anzuhören und gegebenenfalls gemäss Art. 429 Abs. 2 Satz 2 StPO aufzufordern, ihre Ansprüche zu beziffern und zu belegen (BGE 146 IV 332 E. 1.3; 144 IV 207 E. 1.3.1; 142 IV 237 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Die beschuldigte Person trifft insofern eine Mitwirkungspflicht (vgl. Urteile 6B_594/2022 vom 9. August 2023 E. 15.2; 6B_975/2021 vom 7. September 2022 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). Die Strafbehörde muss im Endentscheid über die Entschädigung der beschuldigten Person befinden. Dies ergibt sich nicht nur aus Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO, wonach der Anspruch von Amtes wegen zu prüfen ist, sondern auch aus Art. 81 Abs. 4 lit. b StPO, wonach das Dispositiv bei Urteilen den Entscheid über Kosten- und Entschädigungsfolgen enthält. Schliesslich sieht Art. 421 Abs. 1 StPO in allgemeiner Weise vor, dass die Strafbehörde die Kostenfolgen im Endentscheid festlegt. Unterlässt es die Strafbehörde, über die Entschädigung im Endentscheid zu befinden, hat sich die beschuldigte Person dagegen auf dem Rechtsmittelweg zu wehren (BGE 144 IV 207 E. 1.3.2 und E. 1.7 mit Hinweisen; vgl. Urteil 6B_888/2021 vom 24. November 2022 E. 7.3).» (E.3.1).

Fallbezogen entscheidet das Bundesgericht im Urteil 6B_34/2018 vom 13. Mai 2024 Folgendes:

«Vorliegend äussert sich die Vorinstanz nicht zu einer allfälligen Entschädigung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO. Es ist damit unklar, ob sie die Frage der Entschädigung überhaupt geprüft hat, wie sie dies nach Art. 429 Abs. 2 Satz 1 StPO tun müsste. Aus dem Urteil und den Akten ergibt sich nicht, dass sie den Beschwerdeführer aufgefordert hätte, allfällige Forderungen zu beziffern und zu belegen. Damit verletzt die Vorinstanz seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und Art. 429 Abs. 2 StPO. Der Beschwerdeführer rügt dies zwar nicht ausdrücklich, sondern verlangt lediglich die Feststellung, dass die Vorinstanz nicht über eine Entschädigung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO entschieden hat, sodass er die Möglichkeit habe, diese vor der Vorinstanz noch geltend zu machen. Da das Bundesgericht erstmals mit BGE 144 IV 207 und damit nach Eingang der vorliegenden Beschwerde entschieden hat, dass die Entschädigung nach Art. 429 StPO im Endentscheid festzusetzen ist und nicht nachträglich bestimmt werden kann, weshalb sich die beschuldigte Person auf dem Rechtsmittelweg zu wehren hat, wenn es die Strafbehörde unterlässt, über die Entschädigung zu befinden (vgl. E. 3.1), ist das Rechtsbegehren des Beschwerdeführers dahingehend zu interpretieren, dass er die Rückweisung an die Vorinstanz zur Prüfung der Entschädigung und zur Ergänzung ihres Entscheids beantragt. So führt er denn auch zutreffend aus, dass die Vorinstanz ihn zumindest hätte auffordern müssen, seine Ansprüche zu beziffern und zu belegen.  Ein reformatorischer Entscheid ist, entgegen dem Antrag der Vorinstanz, nicht möglich, da es nicht Sache des Bundesgerichts ist, erstmals über die Frage einer Entschädigung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b StPO zu befinden.» (E.3.2).

Die Beschwerde wird durch das Bundesgericht teilweise gutgeheissen, das vorinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann (E.4).

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