Ausnahmen vom Konfrontationsanspruch

Im Urteil 7B_230/2022 vom 6. Januar 2025 aus dem Kanton Basel-Stadt ging es u.a. um eine versuchte vorsätzliche Tötung. Das Bundesgericht machte dabei interessante generell-abstrakte Ausführungen zum Konfrontationsanspruch (E.2) sowie zum Thema Notwehr (E.4). Es äusserte sich u.a. wie folgt:  «Von einer Konfrontation kann nur unter besonderen Umständen abgesehen werden. In solchen Fällen ist gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK erforderlich, dass der Beschuldigte zum streitigen Zeugnis hinreichend Stellung nehmen kann, die Aussagen sorgfältig geprüft werden und der Schuldspruch nicht alleine darauf abgestützt wird, d.h. der belastenden Aussage nicht ausschlaggebende Bedeutung zukommt bzw. sie nicht den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt. Ausserdem darf der Umstand, dass die beschuldigte Person ihre Rechte nicht (rechtzeitig) wahrnehmen konnte, nicht in der Verantwortung der Behörde liegen (BGE 131 I 476 E. 2.2 und 2.3.4). Ausnahmsweise kann ein streitiges Zeugnis von ausschlaggebender Bedeutung ohne Konfrontation mit Belastungszeugen verwertbar sein (vgl. Urteil 6B_1137/2020 vom 17. April 2023 E. 1.4.2.1 ff.; zum Ganzen: BGE 148 I 295 E. 2 mit Hinweisen).» (E.2.2).

Sachverhalt

Das Strafgericht Basel-Stadt verurteilte A. am 8. September 2020 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, mehrfachen Raufhandels und der Unterlassung der Buchführung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren. Zudem sprach es eine Landesverweisung von 10 Jahren aus. Weiter verpflichtete es A., unter anderem B. eine Genugtuung von Fr. 8’000.– sowie der C. AG Schadenersatz in der Höhe von Fr. 24’666.70, je zzgl. Zins, zu bezahlen. Eine Mehrforderung der C. AG von Fr. 12’544.70 wies das Strafgericht ab.

Instanzenzug

Auf Berufung unter anderem von A., der Staatsanwaltschaft und B. hin stellte das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 9. Juni 2022 neben anderem fest, dass die Abweisung der Schadenersatzmehrforderung der C. AG von Fr. 12’544.70 betreffend den Geschädigten B. mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen sei. Es erklärte A. der versuchten vorsätzlichen Tötung, des mehrfachen Raufhandels und der Unterlassung der Buchführung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 5 1/2 Jahren sowie zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 100.–. Es verzichtete auf einen Widerruf betreffend die von der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten am 9. November 2016 sowie von der Staatsanwaltschaft Solothurn am 18. Dezember 2017 bedingt ausgesprochenen Geldstrafen. Zudem bestätigte es die erstinstanzlich angeordnete Landesverweisung von 10 Jahren und die Verurteilung von A. zur Bezahlung der unter A. erwähnten Schadenersatz- und Genugtuungsforderung.

Weiterzug ans Bundesgericht

Mit Eingabe vom 21. November 2022 führt A. Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt die teilweise Aufhebung des Urteils des Appellationsgerichts vom 9. Juni 2022. Er sei vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung zum Nachteil von B. freizusprechen und in dieser Sache einzig wegen Raufhandels schuldig zu sprechen. Er sei mit einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten zu bestrafen, wobei die Strafe bedingt bei einer Probezeit von drei Jahren auszusprechen sei. Die Vorstrafen seien zu widerrufen und für vollziehbar zu erklären. Von einer Landesverweisung sei mangels Katalogdelikt abzusehen. Die Zivilansprüche seien abzuweisen bzw. auf den Zivilweg zu verweisen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_230/2022 vom 6. Januar 2025  

Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht, sein Konfrontationsanspruch sei verletzt worden, weil die Vorinstanz auf eine Aussage von D. abgestellt habe, welche diese im Ermittlungsverfahren gemacht habe. D. habe diese Aussage aber in der Untersuchung nicht bestätigt und den Beschwerdeführer auf Fotos nicht erkannt. Die Vorinstanz verletze ihre Begründungspflicht, wenn sie im angefochtenen Urteil ohne weiteres von der Verwertbarkeit von nicht konfrontierten Einvernahmen ausgehe.

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_230/2022 vom 6. Januar 2025 zum Konfrontationsanspruch wie folgt:

«Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch der beschuldigten Person, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Er wird als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) auch durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet. Nach diesem menschen- bzw. verfassungsrechtlichen Anspruch ist eine belastende Zeugenaussage grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Dies gilt auch für die Einvernahme von Auskunftspersonen. Damit die Verteidigungsrechte gewahrt sind, muss der Beschuldigte namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und infrage stellen zu können. Dies setzt in aller Regel voraus, dass sich der Einvernommene in Anwesenheit des Beschuldigten (nochmals) zur Sache äussert. Beschränkt sich die Wiederholung der Einvernahme im Wesentlichen auf eine formale Bestätigung der früheren Aussagen, wird es dem Beschuldigten verunmöglicht, seine Verteidigungsrechte wirksam wahrzunehmen (zum Ganzen: Urteil 6B_147/2022 vom 5. Juni 2024 E. 1.7.2 mit Hinweisen).  Wird zu einem späteren Zeitpunkt eine Konfrontationseinvernahme durchgeführt, darf die Strafbehörde nicht auf die Ergebnisse der vorausgegangenen Einvernahmen zurückgreifen, soweit diese einem Beweisverwertungsverbot unterliegen (BGE 143 IV 457 E. 1.6.2 f.). Werden Aussagen, welche die Befragten in Einvernahmen ohne Gewährung des Teilnahmerechts nach Art. 147 Abs. 1 StPO machten, in späteren Konfrontationseinvernahmen den Befragten wörtlich vorgehalten, so werden diese Aussagen im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO unzulässigerweise verwertet (BGE 143 IV 457 E. 1.6.1 mit Hinweisen). Von einer Konfrontation kann nur unter besonderen Umständen abgesehen werden. In solchen Fällen ist gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK erforderlich, dass der Beschuldigte zum streitigen Zeugnis hinreichend Stellung nehmen kann, die Aussagen sorgfältig geprüft werden und der Schuldspruch nicht alleine darauf abgestützt wird, d.h. der belastenden Aussage nicht ausschlaggebende Bedeutung zukommt bzw. sie nicht den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt. Ausserdem darf der Umstand, dass die beschuldigte Person ihre Rechte nicht (rechtzeitig) wahrnehmen konnte, nicht in der Verantwortung der Behörde liegen (BGE 131 I 476 E. 2.2 und 2.3.4). Ausnahmsweise kann ein streitiges Zeugnis von ausschlaggebender Bedeutung ohne Konfrontation mit Belastungszeugen verwertbar sein (vgl. Urteil 6B_1137/2020 vom 17. April 2023 E. 1.4.2.1 ff.; zum Ganzen: BGE 148 I 295 E. 2 mit Hinweisen).» (E.2.2).

Fallbezogen fährt das Bundesgericht im Urteil 7B_230/2022 vom 6. Januar 2025 fort:

«Dem angefochtenen Urteil kann entnommen werden, dass D. auf den Fotos den Beschwerdeführer nicht erkannt habe und lediglich im Ermittlungsverfahren davon gesprochen habe, dass ein Mann, bei dem sie zwei Messer gesehen habe, zugestochen habe. Die Vorinstanz relativiert jedoch die Beweiskraft der Aussagen der einvernommenen Zeugen und Auskunftspersonen und hält fest, dass alle nicht neutral erschienen, da sie entweder selbst Opfer bzw. Beschuldigte oder dem Lager eines der Opfer bzw. der potentiellen Täter zuzuordnen seien und es auf einen Abgleich mit den objektiven Beweismitteln ankomme. Auf diese objektiven Beweismittel, namentlich insbesondere die DNA-Spuren des Beschwerdeführers sowie des Opfers auf dem Messer sowie dessen Verletzungen, stützt sich die Vorinstanz denn auch bei ihrer Feststellung des Sachverhalts. Der Aussage von D. kommt nicht ausschlaggebende Bedeutung zu. Wie es sich mit einer allfälligen Verletzung des Konfrontationsanspruchs des Beschwerdeführers verhält, kann insofern offenbleiben, zumal vom Beschwerdeführer auch nicht hinreichend substanziiert dargetan wird (Art. 42 Abs. 2 BGG), inwiefern sich der gerügte allfällige Verfahrensfehler auf die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts auswirken würde. Im Übrigen liegt auch keine Verletzung der Begründungspflicht vor (vgl. BGE 149 V 156 E. 6.1 mit Hinweisen), soweit eine solche überhaupt rechtsgenüglich gerügt wird. Im angefochtenen Entscheid werden – im Sinn der entscheidwesentlichen Gesichtspunkte – die Überlegungen genannt, von denen sich die Vorinstanz hat leiten lassen und auf welche sich ihr Entscheid stützt.» (E.2.3).

Der Beschwerdeführer wendet sich vor Bundesgericht weiter gegen die rechtliche Würdigung als versuchte vorsätzliche Tötung. Es macht geltend, die Vorinstanz hätte zumindest «in dubio pro reo» von einer Notwehrsituation ausgehen müssen. Indem die Vorinstanz eine Notwehrsituation bzw. einen Notwehrwillen verneint und den Tatbestand der versuchten vorsätzlichen Tötung als erfüllt betrachte, verletze sie Bundesrecht (E.4.1).

Das Bundesgericht führt zur Notwehr im Urteil 7B_230/2022 vom 6. Januar 2025 Folgendes aus:

«Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren (Art. 15 StGB). Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr, so mildert das Gericht die Strafe (Art. 16 Abs. 1 StGB). Notwehr setzt nach Art. 15 StGB unter anderem voraus, dass jemand angegriffen wird oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht oder schon begonnen hat, fehlt dagegen, wenn er bereits vorbei oder noch nicht zu erwarten ist. Der Angegriffene braucht nicht zu warten, bis es zu spät ist, um sich zu wehren; doch verlangt die Unmittelbarkeit der Bedrohung, dass jedenfalls Anzeichen einer Gefahr vorhanden sind, die eine Verteidigung nahelegen, mit anderen Worten, dass objektiv eine Notwehrlage besteht. Solche Anzeichen liegen z.B. dann vor, wenn der Angreifer eine drohende Haltung einnimmt, sich zum Kampf vorbereitet oder Bewegungen macht, die in diesem Sinne gedeutet werden können. Erforderlich ist zudem, dass die Tat zum Zweck der Verteidigung erfolgt; Handlungen, die nicht zur Abwehr eines Angriffes unternommen werden, sondern blosser Rache oder Vergeltung entspringen, fallen nicht unter den Begriff der Notwehr (BGE 104 IV 1 E. a). Das Gleiche gilt für Handlungen, die darauf gerichtet sind, einem zwar möglichen, aber noch unsicheren Angriff vorzubeugen, einem Gegner also nach dem Grundsatz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist, zuvorzukommen und ihn vorsorglich kampfunfähig zu machen (zum Ganzen: BGE 93 IV 81; Urteil 7B_13/2021 vom 5. Februar 2024 E. 3.3.1; je mit Hinweisen). Rechtmässiges Handeln setzt also voraus, dass der Täter sich der Notwehrlage bewusst ist und dass er mit dem Willen zur Verteidigung handelt (BGE 104 IV 1 E. a mit Hinweisen).» (E.4.2).

Fallbezogen fährt das Bundesgericht im Urteil 7B_230/2022 vom 6. Januar 2025 fort:

«Was der Beschwerdeführer vorbringt, lässt den angefochtenen Entscheid nicht als bundesrechtswidrig erscheinen. Die Vorinstanz zeigt nachvollziehbar auf, weshalb sie die Situation im Club als wechselseitige Auseinandersetzung beurteilt und einen subjektiven Abwehrwillen verneint. Sie führt willkürfrei aus, die Involvierten hätten sich in einem Kampfgeschehen befunden, in welchem sich zwei etwa gleich grosse Gruppen gegenüber gestanden seien und auf beiden Seiten Messer im Spiel gewesen seien. Aufgrund der Entwicklung des Streits sei davon auszugehen, dass es den Beteiligten an einem echten Abwehrwillen gefehlt habe. Der Beschwerdeführer könne sich weder auf Notwehr noch auf Notwehrhilfe berufen. Demgegenüber behauptet der Beschwerdeführer, es sei davon auszugehen, dass er tatsächlich angegriffen worden sei. Zudem genüge der reine Glaube, angegriffen zu werden. Er habe sich im Club in einem „wilden Tumult“ mit „wild gewordenen Latinos“ gegenüber gesehen, „welche mit Messer hantierten und auf seine Kollegen losgingen“, weshalb er das Messer „jedenfalls gezielt eingesetzt“ habe, um B. zumindest versuchsweise davon abzuhalten, die anderen Involvierten zu verletzen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass er nüchtern gewesen sei. Hingegen seien „die Latinos hochgradig alkoholisiert und unberechenbar“ gewesen. Die Stimmung sei hochexplosiv gewesen und bereits eskaliert.  Wenn der Beschwerdeführer nunmehr geltend macht, er habe das Messer gezielt eingesetzt, um einen Angriff abzuwehren, gleichzeitig aber vorbringt, es sei willkürlich, wenn aufgrund der DNA-Spuren auf dem Messer darauf geschlossen werde, dass er die Messer gegen B. eingesetzt habe, argumentiert er widersprüchlich. Die Vorinstanz hält willkürfrei fest, der Beschwerdeführer habe stets bestritten, ein Messer eingesetzt zu haben, zumindest in absichtlicher Begehung. Seine Tathandlungen hätten sich nach seiner eigenen Darstellung nicht konkret gegen einen bestimmten Beteiligten gerichtet. Die Messer hätten ebenso einen der anderen Beteiligten treffen können. Es habe sich somit nicht um eine Situation gehandelt, in der der Beschwerdeführer gezielt das Messer als Abwehrmittel eingesetzt habe, um einen konkreten Angreifer davon abzuhalten, eine Verletzungshandlung durchzuführen oder fortzusetzen. 

Diese vorinstanzlichen Ausführungen sind nicht zu beanstanden. Die zu beurteilenden Tathandlungen sind alle im Rahmen eines unkontrollierten und unkontrollierbaren, dynamischen Geschehens erfolgt. Inwiefern unter diesen Bedingungen die vom Beschwerdeführer behauptete „gezielte Notwehrhandlung“ möglich bzw. sein Notwehr- bzw. Notwehrhilfewille vorgelegen haben soll, ist nicht ersichtlich und vom Beschwerdeführer auch nicht nachvollziehbar aufgezeigt. Handlungen, die nicht zur Abwehr eines Angriffes unternommen werden, sondern blosser Rache oder Vergeltung entspringen, fallen denn auch nicht unter den Begriff der Notwehr bzw. der Notwehrhilfe (vgl. E. 4.2 hiervor). Die vorinstanzliche Feststellung, der Beschwerdeführer habe nicht in Notwehr bzw. Notwehrhilfe gehandelt, sind nach dem Gesagten weder schlechterdings unhaltbar noch bundesrechtswidrig. In der vorinstanzlichen Verneinung einer Notwehr- bzw. Notwehrhilfelage liegt, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, auch keine Verletzung des Grundsatzes „in dubio pro reo“. Der Grundsatz besagt nicht, dass bei sich widersprechenden Beweismitteln unbesehen auf den für die beschuldigte Person günstigeren Beweis abzustellen wäre. Die Entscheidregel kommt nur zur Anwendung, wenn nach erfolgter Beweiswürdigung als Ganzem relevante Zweifel verbleiben (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; Urteil 6B_521/2022 vom 7. November 2022 E. 2.3.2 mit Hinweis). Solche relevanten Zweifel liegen nach dem Gesagten nicht vor. Der vorinstanzliche Schuldspruch wegen versuchter vorsätzlicher Tötung verstösst nicht gegen Bundesrecht.» (E.4.3).

Auf weitere Rügen des Beschwerdeführers wird hier nicht eingegangen (vgl. E.3, E.5).

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