Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im Berufungsverfahren

Im Urteil 7B_219/2024 vom 13. September 2024 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht mit der Frage der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung im Berufungsverfahren. Das Bundesgericht äusserte sich, auch in Bezug auf neue Bestimmung von Art. 136 Abs. 1 lit. b StPO, u.a. wie folgt: «Eine unentgeltliche Rechtsbeiständin ist im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 136 Abs. 2 lit. c StPO notwendig, sofern die Betroffene ihre Sache, auf sich allein gestellt, nicht sachgerecht und hinreichend wirksam vertreten kann, sodass ihr nicht zuzumuten ist, das Verfahren selbstständig zu führen […] Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verbeiständung dennoch notwendig ist, berücksichtigt das Bundesgericht neben dem Alter, der sozialen Lage, den Sprachkenntnissen sowie der psychischen und physischen Verfassung der geschädigten Person insbesondere auch die Schwere und die Komplexität des Falles in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht […]» (E.2.2.3). «Im Rahmen der am 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Revision der Strafprozessordnung wurde Art. 136 Abs. 1 StPO mit lit. b ergänzt. Demnach gewährt die Verfahrensleitung die unentgeltliche Rechtspflege auch dem Opfer für die Durchsetzung seiner Strafklage, wenn es nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Strafklage nicht aussichtslos erscheint. In der Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung wird dazu ausgeführt, an die Notwendigkeit im Sinne von Art. 136 Abs. 2 lit. c StPO sollten mit Blick auf den wirksamen Opferschutz nicht allzu strenge Anforderungen gestellt werden. Opfer seien oftmals verängstigt und eingeschüchtert, wenn sie amtlich verteidigten Beschuldigten ohne anwaltliche Unterstützung gegenübertreten müssten. Dies könne eine sekundäre Viktimisierung zur Folge haben und dazu führen, dass Opfer Aussagen nicht oder nur abschwächend machen würden, was auch der materiellen Wahrheitsfindung abträglich sei. Wenn der beschuldigten Person in den Fällen, in denen die Privatklägerschaft anwaltlich vertreten sei, eine amtliche Verteidigung beigeordnet werden sollte, so müsse dies im Gegenzug auch für die Privatklägerschaft, die Opfer ist, gelten. Eine Ablehnung des Gesuchs mit der Begründung, dass die Rechte des Opfers bereits durch die Staatsanwaltschaft wahrgenommen würden, weil ihr die Durchsetzung des Strafanspruchs obliege und deshalb die Bestellung eines Rechtsbeistandes nicht notwendig sei, dürfte ebenfalls nicht sachgerecht sein. Denn dies hätte zur Folge, dass die Bestimmung von Art. 136 Abs. 1 lit. b StPO ins Leere laufen würde (BBl 2019 6735).» (E.2.2.4). «Von einem rechtlich komplexen Fall ist nach der Rechtsprechung namentlich dann auszugehen, wenn er heikle Rechtsfragen wie die Definition der Tatbestandsmerkmale einer Vergewaltigung aufwirft […]» (E.2.3). Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der Privatklägerin gut.

Sachverhalt

Mit Urteil des Bezirksgerichts Brugg vom 22. August 2023 wurde B. der mehrfachen Vergewaltigung, der mehrfachen Freiheitsberaubung, der mehrfachen Drohung, der mehrfachen, teilweise versuchten einfachen Körperverletzung und der mehrfachen Beschimpfung zum Nachteil seiner Ehefrau A. und ferner des Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung schuldig erklärt. A. hatte sich im Verfahren als Privatklägerin konstituiert.

Instanzenzug

Gegen das erstinstanzliche Urteil erhob B. Berufung beim Obergericht des Kantons Aargau. A. ersuchte für das Berufungsverfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. Mit Verfügung vom 22. Januar 2024 gewährte ihr die Verfahrensleitung insoweit die unentgeltliche Rechtspflege, als sie von den Verfahrenskosten befreit wurde. Die Bestellung einer unentgeltlichen Rechtsbeiständin wurde ihr dagegen verweigert.

Weiterzug ans Bundesgericht

Die Privatklägerin A. wendet sich mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, die angefochtene Verfügung sei, soweit sie die Einsetzung der unterzeichnenden Rechtsanwältin als unentgeltliche Vertreterin abweise, aufzuheben und die Rechtsanwältin sei für das Berufungsverfahren als unentgeltliche Vertreterin einzusetzen. Zudem ersucht sie auch für das bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Während die Vorinstanz die Abweisung der Beschwerde verlangt, liess sich die Staatsanwaltschaft innert Frist nicht vernehmen.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_219/2024 vom 13. September 2024  

Streitig ist vor Bundesgericht, ob der Beschwerdeführerin ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Berufungsverfahren zusteht (E.2).

Die Vorinstanz, das Obergericht Aargau, hatte hierzu die folgende vom Bundesgericht zusammengefasste Sichtweise:  «Die Vorinstanz erwägt, vorinstanzlich sei die Genugtuungsforderung der Beschwerdeführerin von Fr. 35’000.– im Umfang von Fr. 20’000.– gutgeheissen worden. Mit Berufung des Beschuldigten werde die Genugtuung soweit ersichtlich nur als Folge des beantragten Freispruchs in Frage gestellt. Ohnehin könne sich die Privatklägerin auf die Abweisung der Berufung des Beschuldigten in diesem Punkt beschränken. Sie müsse dazu nicht einmal eigene Anträge stellen. Hinsichtlich des angefochtenen Schuldspruchs – als Grundlage für die Zusprechung einer Genugtuung – würden die Interessen der Beschwerdeführerin umfassend von der Staatsanwaltschaft wahrgenommen. Es stellten sich in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht sodann keine komplexen Fragen. Was die Würdigung des Sachverhalts betreffe, sei für die Einvernahme der Beschwerdeführerin vor Obergericht keine Vertretung erforderlich, da es auf ihre persönlichen Aussagen und den von ihr gewonnenen Eindruck ankomme. Dem Umstand, dass sie der deutschen Sprache nicht genügend mächtig sei, sei durch einen Dolmetscher Rechnung zu tragen. Insgesamt erweise sich die Bestellung einer unentgeltlichen Rechtsbeiständin im Berufungsverfahren zur Wahrung der Rechte der Beschwerdeführerin nicht als notwendig. Für die psychische Unterstützung könne sie sich von einer Vertrauensperson begleiten lassen.» (E.2.1).

Das Bundesgericht nimmt im Urteil 7B_219/2024 vom 13. September 2024 wie folgt Stellung:

«Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Die Verfassungsnorm bezweckt, allen betroffenen Personen ohne Rücksicht auf ihre finanzielle Situation tatsächlichen Zugang zum Gerichtsverfahren zu vermitteln und die effektive Wahrung ihrer Rechte zu ermöglichen (BGE 141 I 70 E. 6.5; Urteil 7B_196/2022 vom 25. August 2023 E. 3.1, je mit Hinweisen).» (E.2.2.1).

«Art. 136 StPO konkretisiert die Voraussetzungen, unter denen der Privatklägerschaft unentgeltliche Rechtspflege im Strafprozess gewährt wird. Nach Art. 136 Abs. 1 lit. a StPO gewährt die Verfahrensleitung der Privatklägerschaft für die Durchsetzung ihrer Zivilansprüche die unentgeltliche Rechtspflege, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Zivilklage nicht aussichtslos erscheint. Die unentgeltliche Rechtspflege umfasst die Bestellung eines Rechtsbeistands, wenn dies zur Wahrung der Rechte der Privatklägerschaft oder des Opfers notwendig ist (Art. 136 Abs. 2 lit. c StPO). Im Rechtsmittelverfahren ist die unentgeltliche Rechtspflege neu zu beantragen (Art. 136 Abs. 3 StPO).» (E.2.2.2).

«Eine unentgeltliche Rechtsbeiständin ist im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 136 Abs. 2 lit. c StPO notwendig, sofern die Betroffene ihre Sache, auf sich allein gestellt, nicht sachgerecht und hinreichend wirksam vertreten kann, sodass ihr nicht zuzumuten ist, das Verfahren selbstständig zu führen (Urteil 1B_355/2012 vom 12. Oktober 2012 E. 5.5). Eine Strafuntersuchung stellt in der Regel eher bescheidene juristische Anforderungen an die Wahrung der Mitwirkungsrechte geschädigter Personen. Eine durchschnittliche Person sollte daher in der Lage sein, ihre Interessen als Geschädigte in einem Strafverfahren selbst wahrzunehmen. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verbeiständung dennoch notwendig ist, berücksichtigt das Bundesgericht neben dem Alter, der sozialen Lage, den Sprachkenntnissen sowie der psychischen und physischen Verfassung der geschädigten Person insbesondere auch die Schwere und die Komplexität des Falles in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (BGE 123 I 145 E. 2b/bb und 3b; Urteile 1B_523/2022 vom 29. Juni 2023 E. 3.1; 1B_638/2021 vom 10. März 2022 E. 3.2; je mit Hinweisen).» (E.2.2.3).

«Im Rahmen der am 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Revision der Strafprozessordnung wurde Art. 136 Abs. 1 StPO mit lit. b ergänzt. Demnach gewährt die Verfahrensleitung die unentgeltliche Rechtspflege auch dem Opfer für die Durchsetzung seiner Strafklage, wenn es nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Strafklage nicht aussichtslos erscheint. In der Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung wird dazu ausgeführt, an die Notwendigkeit im Sinne von Art. 136 Abs. 2 lit. c StPO sollten mit Blick auf den wirksamen Opferschutz nicht allzu strenge Anforderungen gestellt werden. Opfer seien oftmals verängstigt und eingeschüchtert, wenn sie amtlich verteidigten Beschuldigten ohne anwaltliche Unterstützung gegenübertreten müssten. Dies könne eine sekundäre Viktimisierung zur Folge haben und dazu führen, dass Opfer Aussagen nicht oder nur abschwächend machen würden, was auch der materiellen Wahrheitsfindung abträglich sei. Wenn der beschuldigten Person in den Fällen, in denen die Privatklägerschaft anwaltlich vertreten sei, eine amtliche Verteidigung beigeordnet werden sollte, so müsse dies im Gegenzug auch für die Privatklägerschaft, die Opfer ist, gelten. Eine Ablehnung des Gesuchs mit der Begründung, dass die Rechte des Opfers bereits durch die Staatsanwaltschaft wahrgenommen würden, weil ihr die Durchsetzung des Strafanspruchs obliege und deshalb die Bestellung eines Rechtsbeistandes nicht notwendig sei, dürfte ebenfalls nicht sachgerecht sein. Denn dies hätte zur Folge, dass die Bestimmung von Art. 136 Abs. 1 lit. b StPO ins Leere laufen würde (BBl 2019 6735).» (E.2.2.4).

«Von einem rechtlich komplexen Fall ist nach der Rechtsprechung namentlich dann auszugehen, wenn er heikle Rechtsfragen wie die Definition der Tatbestandsmerkmale einer Vergewaltigung aufwirft (Urteil 1B_638/2021 vom 10. März 2022 E. 3.3.2 mit Hinweis). Der vorinstanzlichen Auffassung, wonach sich vorliegend keine komplexen Fragen stellen würden, kann daher bereits vom Grundsatz her, aber auch mit Blick auf den konkreten Sachverhalt, nicht gefolgt werden. Dem Beschuldigten wird unter anderem vorgeworfen, die Beschwerdeführerin über einen Zeitraum von rund sechs Monaten fünf bis sechs Mal gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben, wobei er sie festgehalten, geschlagen und bedroht haben soll. Als Entscheidgrundlagen stehen grösstenteils nur die Aussagen der Direktbeteiligten zur Verfügung, womit der Aussagewürdigung in tatsächlicher Hinsicht entscheidendes Gewicht zukommt. Nebst dem gilt es auf rechtlicher Ebene insbesondere die Frage nach der Abwehr der Beschwerdeführerin und entsprechend der Tatbestandsmässigkeit des Handelns des Beschuldigten zu diskutieren (vgl. erstinstanzliches Urteil, Beschwerdebeilage 5, S. 20 ff.). Allein die Vergewaltigungsvorwürfe bringen somit nicht zu unterschätzende rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten mit sich (wobei eine Reihe weiterer Tatvorwürfe, die sich unter dem Stichwort „häusliche Gewalt“ zusammenfassen lassen, dazukommen). Nachdem an die Notwendigkeit der anwaltlichen Vertretung laut dem Willen des Gesetzgebers bei Opfern keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen (E. 2.2.4 oben), drängt sich die Bestellung einer solchen vorliegend somit bereits aufgrund der Komplexität des Falls auf.» (E.2.3).

Weiter ging das Bundesgericht im Urteil 7B_219/2024 vom 13. September 2024 auch auf die persönlichen Umstände der Privatklägerin ein (E.2.4).

Das Bundesgericht kommt im Urteil 7B_219/2024 vom 13. September 2024 zur Schlussfolgerung:

«Insgesamt verletzt die Vorinstanz Bundesrecht, indem sie den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine unentgeltliche Rechtsbeiständin im Berufungsverfahren verneint. Nachdem insbesondere die Berufungsverhandlung am 11. September 2024 stattfand – wovon das Bundesgericht erst mit Stellungnahme der Vorinstanz Kenntnis erlangte – wird die Vorinstanz über die nötigen Schritte zur nachträglichen Wahrung dieses Anspruchs zu befinden haben.» (E.2.5).

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut (E.3).

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