Nejjar v. Switzerland (EGMR Nr. 9087/18 vom 11. Dezember 2025): Rückzugsfiktion im konkreten Fall unzulässig

Der EGMR äussert sich im Urteil Nejjar v. Switzerland (EGMR Nr. 9087/18 vom 11. Dezember 2025) zur Rückzugsfiktion (Art. 356 Abs. 4 StPO). Der EGMR hielt in Siebner Besetzung einstimmig fest, dass die Schweiz das Recht auf Zugang zu einem Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verletzte, indem die Einsprache gegen einen Strafbefehl allein wegen Nichterscheinens an der erstinstanzlichen Verhandlung als zurückgezogen i.S.v. Art. 356 Abs. 4 StPO fingiert wurde (Beanstandung der Rückzugsfiktion).

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin wurde mit einem Strafbefehl vom 12. Mai 2016 der Staatsanwaltschaft Lausanne und einer Strafe von CHF 30.- à 100 Tagessätzen der Verletzung des AlG und der Hehlerei (Art. 160 Ziff. 1 StGB) für schuldig befunden, weil sie zwei irreguläre Einwanderer in ihrer Wohnung beherbergt und von einem von ihnen gestohlene Gegenstände angenommen hatte.

Am Folgetag legte die Beschwerdeführerin gem. Art. 354 StPO Einsprache gegen den Strafbefehl. Die Beschwerdeführerin wurde aufgefordert, am 5. Mai 2017 um 9 Uhr persönlich vor dem Polizeigericht zu erscheinen. Da die Beschwerdeführerin am 5. Mai 2017 nicht erschien, ging das Polizeigericht davon aus, dass ihr Antrag zurückgezogen worden sei. Es stellte ferner fest, dass der Strafbefehl vom 12. Mai 2016 gemäss Art. 356 StPO rechtskräftig und vollstreckbar geworden sei.

Die Beschwerdeführerin legte dagegen Berufung ein und machte unter anderem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. Insbesondere legte sie einen Bericht eines Arztes der Notaufnahme eines Krankenhauses vor, das sie am 10. Mai 2017 aufgesucht hatte. Der Bericht wies auf Verletzungen hin und stellte fest, dass die Beschwerdeführerin nach eigenen Angaben am 5. Mai 2017 gegen 8 Uhr morgens, ca. 1 h vor der Verhandlung, in ihrer Wohnung angegriffen und geschlagen worden war.

Am 30. Juni 2017 wies das kantonale Gericht die Berufung der Beschwerdeführerin zurück und stellte fest, dass sie nicht nachgewiesen habe, ohne eigenes Verschulden daran gehindert worden zu sein, vor dem Polizeigericht zu erscheinen. Die Beschwerdeführerin legte beim Bundesgericht Berufung ein, die ebenfalls zurückgewiesen wurde.

Ausführungen des EGMRs im Urteil Nejjar v. Switzerland (EGMR Nr. 9087/18 vom 11. Dezember 2025)

Der EGMR hält zu Beginn fest, dass das schweizerische Strafbefehlsverfahren (Art. 352 ff. StPO) zur Verfolgung und Bestrafung geringfügiger Delikte konventionskonform sei, solange die Möglichkeit einer späteren gerichtlichen Überprüfung mit voller Kognition i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EMRK bestünde. Der EGMR betrachtet hingegen die konkrete Anwendung der Rückzugsfiktion gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO als problematisch.

Der EGMR befasste sich mit der Frage, ob das Nichterscheinen der Beschwerdeführerin ein konkludenter Verzicht auf ihren Anspruch auf gerichtliche Beurteilung darstellt. Dass Urteil erklärt, dass zwar auf Verfahrensrechte verzichtet werden könne, ein solcher Verzicht müsse jedoch eindeutig, freiwillig und insbesondere in Kenntnis der Tragweite erfolgen. Im vorliegenden Fall seien diese Voraussetzungen nicht erfüllt, da die Beschwerdeführerin durch ihre fristgerechte Einsprache bzw. ihre Ergreifung von Rechtsmitteln klar zu erkennen gegeben hätte, dass sie eine gerichtliche Überprüfung der Vorwürfe gegen sie wünsche. Die Annahme eines Rückzugs i.S.v. Art. 356 Abs. 4 StPO aufgrund ihres Nichterscheinens sei daher nicht mit den Anforderungen an einen gültigen Rechtsverzicht vereinbar.

Die Rückzugsfiktion verfolgte zwar das legitime Ziel der Verfahrensökonomie bzw. Entlastung der Gerichte, griff im konkreten Fall jedoch in den Kernbereich des Rechts auf Zugang zu einem Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK) ein, da der Strafbefehl rechtskräftig und vollstreckbar wurde, ohne dass die Schuldfrage der Beschwerdeführerin je richterlich überprüft wurde. Der Eingriff stünde daher in keinem angemessenen Verhältnis zum Zweck.

Der EGMR kam zum Schluss, dass die Anwendung der Rückzugsfiktion gem. Art. 356 Abs. 4 StPO im konkreten Fall den Zugang der Beschwerdeführerin zu einem Gericht unverhältnismässig einschränkte ergo dadurch Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt wurde.

Bemerkungen zum Urteil von Boris Etter, Fachanwalt SAV Strafrecht

Beim vorliegenden Fall bestand eine sehr spezielle Ausgangslage, warum die Beschwerdeführerin nicht vor Gericht erscheinen konnte. Die Auswirkungen dieses Entscheides des EGMR auf die Schweizer Strafrechtspraxis können mithin noch nicht genau beurteilt werden. Die «Rückzugsfiktion» bezüglich Einsprachen bei Strafbefehlen erfreut sich bei Behörden und Gerichten grosser Popularität. Es dürfte also heissen «Fortsetzung folgt…».

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