«Leitfaden» vom Bundesgericht für Strafzumessung bei Vergewaltigung

Im Urteil 6B_905/2024 vom 8. September 2025 aus dem Kanton Zürich hiess das Bundesgericht die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich bezüglich der Strafzumessung bei einem Vergewaltigungsdelikt wegen multiplen Fehlern, wie u.a. der Berücksichtigung der «relativ kurzen Dauer» der Vergewaltigung sowie der Nichtberücksichtigung des ungeschützten Vaginal- und Analverkehrs statt. Das Bundesgericht äusserte sich u.a. wie folgt: «Kürzlich und nach dem vorinstanzlichen Entscheid hat das Bundesgericht klargestellt, dass eine „relativ kurze“ Dauer einer Vergewaltigung in keinem Fall einen Strafminderungsgrund bildet und entsprechend nicht zugunsten des Täters berücksichtigt werden darf […]. Die Vorinstanz lässt sich vorliegend somit von nicht massgebenden Umständen leiten und verletzt ihr Ermessen, wenn sie im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Beschwerdegegners berücksichtigt, dass das Geschehen „nur kurz“ gedauert habe.» (E.1.6). «Aus der Begründung der Vorinstanz lässt sich nicht nachvollziehen, in welchem Ausmass sie ein „einwilligungsnahes“ Verhalten von B. berücksichtigt. […]. Die Begründung der Strafzumessung fällt in der Folge widersprüchlich aus, wenn die Vorinstanz festhält, der Beschwerdegegner habe „mit direktem Vorsatz und aus egoistischen Gründen“ gehandelt, und gleichzeitig aber schliesst, er habe „aufgrund der Äusserungen und Abwehrhandlungen“ von B., „jedenfalls in Kauf [genommen], dass ihr Wille dem Geschlechtsverkehr entgegenstand“. Diesen Widerspruch hat die Vorinstanz im Rahmen ihrer neuen Strafzumessung aufzulösen. In diesem Zusammenhang hat sie auch zu berücksichtigen, dass für die Bewertung des Tatverschuldens ohne Relevanz ist, ob es zu einem späteren Zeitpunkt zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr zwischen dem Opfer und dem Täter gekommen ist.» (E.1.5.2). «Die Vorinstanz lässt weiter den Umstand ausser Acht, dass der Beschwerdegegner den Vaginal- und Analverkehr ungeschützt vollzog. Dem hat sie im Rahmen der neu vorzunehmenden Strafzumessung straferhöhend Rechnung zu tragen […].» (E.1.5.3). «Schliesslich ist die Bewertung des Tatverschuldens durch die Vorinstanz auch im Ergebnis nicht nachvollziehbar. So schliesst sie zunächst, das objektive Tatverschulden wiege „noch leicht“, ordnet es dann „im mittleren Bereich“ des ordentlichen Strafrahmens ein, um es schliesslich als „nicht mehr leicht“ einzustufen. Dieses objektive Tatverschulden werde durch die subjektive Tatkomponente nicht relativiert und entspreche einer Einsatzstrafe von 24 Monaten. Dabei bleibt unklar, ob die Vorinstanz nun von einem „noch leichten“, einem „nicht mehr leichten“ oder einem Verschulden „im mittleren Bereich“ ausgeht. Sie verletzt damit ihre Begründungspflicht nach Art. 50 StGB.» (E.1.5.4).

Sachverhalt

Dem A. wird unter anderem vorgeworfen, er habe B., nachdem er ihr zuvor eine Liebesbeziehung vorgespielt und die Einreise aus dem Kosovo in die Schweiz ermöglicht habe, im für sie angemieteten Hotelzimmer ausgezogen, sie angefasst und ihr Zungenküsse gegeben, die B. toleriert habe. Als sie gemerkt habe, dass A. mehr wolle, habe sie diesen jedoch weggeschubst. Daraufhin habe sich A. auf die zu diesem Zeitpunkt auf dem Rücken auf dem Bett liegende B. gelegt, sie an den Händen festgehalten und sie anschliessend ungeschützt vaginal und anal penetriert. Obwohl B. geschrien habe und somit im Wissen darum, dies gegen ihren Willen zu tun, habe A. den Geschlechts- und Analverkehr bis zum Samenerguss weitergeführt. Der erzwungene Analverkehr habe bei B. zu Schmerzen im Unterleib geführt.

Instanzenzug

Das Bezirksgericht Bülach verurteilte A. mit Urteil vom 22. Juni 2021 wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung, mehrfacher Förderung der rechtswidrigen Ein- und Ausreise sowie des rechtswidrigen Aufenthalts (Art. 116 Abs. 1 lit. a i.V.m. Abs. 3 lit. a AIG [SR 142.20]) und mehrfacher Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern ohne Bewilligung (Art. 117 Abs. 1 AIG) zu einer Freiheitsstrafe von 32 Monaten, deren Vollzug es im Umfang von 20 Monaten aufschob, und wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das AHVG (Art. 87 Abs. 2 AHVG), Täuschung der Behörden (Art. 118 Abs. 1 AIG) und Drohung zu einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je Fr. 30.–. Es verzichtete auf eine Landesverweisung. Gegen das Urteil des Bezirksgerichts erhob A. Berufung. Die Staatsanwaltschaft erklärte Anschlussberufung.

Mit Urteil vom 8. September 2023 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich die erstinstanzlichen Schuldsprüche vollumfänglich und verurteilte A. zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten (Vergewaltigung und sexuelle Nötigung) und einer bedingten Geldstrafe von 330 Tagessätzen zu je Fr. 30.– (Drohung, Förderung der rechtswidrigen Ein- und Ausreise sowie des rechtswidrigen Aufenthalts, mehrfache Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern ohne Bewilligung, Täuschung der Behörden und mehrfache Widerhandlung gegen das AHVG).

Weiterzug ans Bundesgericht

Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt dem Bundesgericht mit Beschwerde in Strafsachen, die Ziffern 2 (Strafe) und 3 (Strafaufschub und Probezeit) des vorinstanzlichen Urteils aufzuheben und A.  zusätzlich zur ausgesprochenen Geldstrafe von 330 Tagessätzen mit einer verschuldensadäquaten, 24 Monate übersteigenden, teilbedingten oder unbedingten Freiheitsstrafe zu bestrafen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Vorinstanz verzichtet auf eine Stellungnahme. Der Beschwerdegegner beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_905/2024 vom 8. September 2025

Die Beschwerdeführerin (Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich) wendet sich einzig gegen die Strafzumessung (E.1).

Zusammengefasst macht die beschwerdeführende Oberstaatsanwaltschaft vor Bundesgericht geltend, die Vorinstanz verfalle bei der Sachverhaltsfeststellung in Willkür. Im Rahmen der Strafzumessung lasse sich diese von nicht massgebenden Kriterien leiten, wenn sie zur Bewertung der Tatschwere zugunsten des Beschwerdegegners auf die „kurze Dauer“ der Vergewaltigung, ein „einwilligungsnahes“ Verhalten und die ambivalente Gefühlslage von B. sowie das Nachtatverhalten abstelle. Die Vorinstanz habe auch nicht berücksichtigt, dass der erzwungene Vaginal- und Analverkehr ungeschützt erfolgt sei. Schliesslich verletze die Vorinstanz ihre Begründungspflicht, wenn sie bei einem Verschulden im mittleren Bereich in nicht nachvollziehbarer Weise zu einer Einsatzstrafe von bloss 24 Monaten gelange (E.1.1).

Wir schauen uns hier nur die Rüge zur Strafzumessung an:

Einleitend bemerkt das Bundesgericht im Urteil 6B_905/2024 vom 8. September 2025 Folgendes zur Strafzumessung:

«Gemäss Art. 47 Abs. 1 StGB misst das Gericht die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu. Es berücksichtigt das Vorleben, die persönlichen Verhältnisse und die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters sowie dessen Verhalten nach der Tat und im Strafverfahren (sog. Täterkomponente; BGE 149 IV 217 E. 1.1). Die Bewertung des Verschuldens wird in Art. 47 Abs. 2 StGB dahingehend präzisiert, dass es nach der Schwere der Verletzung oder Gefährdung des betroffenen Rechtsgutes, nach der Verwerflichkeit des Handelns, den Beweggründen und Zielen des Täters sowie danach bestimmt wird, wie weit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung oder Verletzung zu vermeiden (sog. Tatkomponente; BGE 149 IV 217 E. 1.1).  

Es liegt im Ermessen des Sachgerichts, in welchem Umfang es den verschiedenen Strafzumessungsfaktoren Rechnung trägt. Das Bundesgericht schreitet nur ein, wenn das Gericht sein Ermessen überschritten oder missbraucht und damit Bundesrecht verletzt hat. Dem Sachgericht steht ein erheblicher Ermessensspielraum zu, in den das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung eingreift (BGE 144 IV 313 E. 1.2). Das Sachgericht hat die für die Strafzumessung erheblichen Umstände und deren Gewichtung festzuhalten und seine Überlegungen in den Grundzügen wiederzugeben, sodass die Strafzumessung nachvollziehbar ist (Art. 50 StGB; BGE 149 IV 217 E. 1.1; 144 IV 313 E. 1.2; 134 IV 17 E. 2.1; je mit Hinweisen). Allein einer besseren Begründung wegen hebt das Bundesgericht das angefochtene Urteil nicht auf, solange die Strafzumessung im Ergebnis bundesrechtskonform ist (BGE 149 IV 217 E. 1.1; 127 IV 101 E. 2c; Urteil 6B_445/2023 vom 20. Oktober 2023 E. 3.2.2; je mit Hinweisen).» (E.1.2.2)

Weiter führte das Bundesgericht im Urteil 6B_905/2024 vom 8. September 2025 fallbezogen aus:

«Was die Beschwerdeführerin ansonsten gegen die vorinstanzliche Strafzumessung vorbringt, erweist sich als begründet.» (E.1.5).

«Kürzlich und nach dem vorinstanzlichen Entscheid hat das Bundesgericht klargestellt, dass eine „relativ kurze“ Dauer einer Vergewaltigung in keinem Fall einen Strafminderungsgrund bildet und entsprechend nicht zugunsten des Täters berücksichtigt werden darf (BGE 151 IV 8 E. 1.4.2; Urteile 6B_821/2024 vom 4. April 2025 E. 3.2.2; 6B_625/2024 vom 12. Dezember 2024 E. 2.2.1). Die Vorinstanz lässt sich vorliegend somit von nicht massgebenden Umständen leiten und verletzt ihr Ermessen, wenn sie im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Beschwerdegegners berücksichtigt, dass das Geschehen „nur kurz“ gedauert habe.» (E.1.6).

«Aus der Begründung der Vorinstanz lässt sich nicht nachvollziehen, in welchem Ausmass sie ein „einwilligungsnahes“ Verhalten von B. berücksichtigt. Einerseits geht sie unter dem Titel der objektiven Tatschwere davon aus, B. habe sich eine Zeit lang auf das Vorgehen des Beschwerdegegners eingelassen „und etwa seine Zungenküsse erwidert“ und sei „mit dem Ausziehen der Kleider einverstanden“ gewesen. B. habe auch zwiespältige Gefühle gehabt. Andererseits scheint die Vorinstanz kein missverständliches Verhalten von B. anzunehmen, wenn sie im Rahmen der Subsumtion unter den Tatbestand der Vergewaltigung erwägt, für den Beschwerdegegner sei „unmissverständlich erkennbar“ gewesen, dass B. „mit seinen sexuellen Handlungen nicht einverstanden war“. Die Begründung der Strafzumessung fällt in der Folge widersprüchlich aus, wenn die Vorinstanz festhält, der Beschwerdegegner habe „mit direktem Vorsatz und aus egoistischen Gründen“ gehandelt, und gleichzeitig aber schliesst, er habe „aufgrund der Äusserungen und Abwehrhandlungen“ von B., „jedenfalls in Kauf [genommen], dass ihr Wille dem Geschlechtsverkehr entgegenstand“. Diesen Widerspruch hat die Vorinstanz im Rahmen ihrer neuen Strafzumessung aufzulösen. In diesem Zusammenhang hat sie auch zu berücksichtigen, dass für die Bewertung des Tatverschuldens ohne Relevanz ist, ob es zu einem späteren Zeitpunkt zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr zwischen dem Opfer und dem Täter gekommen ist.» (E.1.5.2).

«Die Vorinstanz lässt weiter den Umstand ausser Acht, dass der Beschwerdegegner den Vaginal- und Analverkehr ungeschützt vollzog. Dem hat sie im Rahmen der neu vorzunehmenden Strafzumessung straferhöhend Rechnung zu tragen (vgl. Urteile 6B_821/2024 vom 4. April 2025 E. 3.2.2; 6B_556/2024 vom 20. März 2025 E. 8.3.1 f.; 6B_1270/2020 vom 10. März 2021 E. 8.3; 6B_587/2017 vom 16. Oktober 2017 E. 5.3 f.; 6B_24/2012 vom 19. April 2012 E. 2.4.2; 6S.232/2006 vom 20. November 2006 E. 2.6; 6S.467/2004 vom 11. Februar 2005 E. 2.1).» (E.1.5.3).

«Schliesslich ist die Bewertung des Tatverschuldens durch die Vorinstanz auch im Ergebnis nicht nachvollziehbar. So schliesst sie zunächst, das objektive Tatverschulden wiege „noch leicht“, ordnet es dann „im mittleren Bereich“ des ordentlichen Strafrahmens ein, um es schliesslich als „nicht mehr leicht“ einzustufen. Dieses objektive Tatverschulden werde durch die subjektive Tatkomponente nicht relativiert und entspreche einer Einsatzstrafe von 24 Monaten. Dabei bleibt unklar, ob die Vorinstanz nun von einem „noch leichten“, einem „nicht mehr leichten“ oder einem Verschulden „im mittleren Bereich“ ausgeht. Sie verletzt damit ihre Begründungspflicht nach Art. 50 StGB.» (E.1.5.4).

«Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen und das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Die Sache ist im Sinne der Erwägungen zur neuen Strafzumessung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen.» (E.2).

Kommentar zum Urteil 6B_905/2024 vom 8. September 2025 von Boris Etter, Fachanwalt SAV Strafrecht

Dieses Urteil ist eines der wichtigsten des Jahres 2025 und auch äussert praxisrelevant. Das Bundesgericht greift bekanntlich nur selten in die Strafzumessung der Vorinstanz ein. In diesem Fall beanstandete das Bundesgericht diverse Punkte bei der Strafzumessung und auch Strafbegründung durch das Obergericht des Kantons Zürich. Bekannt sein dürfte bereits, dass die «relativ kurze Dauer» der Vergewaltigung bei der Strafzumessung nicht strafmindernd berücksichtigt werden darf. In diesem Urteil gibt das Bundesgericht darüber hinaus noch einen eigentlichen «Leitfaden» zur Strafzumessung bei Vergewaltigungs- und anderen Sexualdelikten. Schliesslich zeigt das Urteil auch auf, wie wichtig die Begründung der Strafe vom Gericht und die Kontrolle der Strafbegründung durch die Parteien des Verfahrens ist.

 

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