Sachverhalt
Die Frau wurde 2023 von der Staatsanwaltschaft des Kantons Genf mittels Strafbefehl wegen Urkundenfälschung schuldig gesprochen; dagegen erhob sie Einsprache. Im Anschluss an die Eröffnung des Strafbefehls beantragte sie bei der Staatsanwaltschaft erfolglos, dass der Strafbefehl Dritten – insbesondere den Medien und Journalisten – nicht zugänglich gemacht werde.
Instanzenzug
Das Genfer Kantonsgericht wies ihre Beschwerde ab. Es kam zum Schluss, dass Dritte gemäss Artikel 69 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO) in einen Strafbefehl nach dessen Eröffnung Einsicht nehmen könnten, unabhängig davon, ob dieser bereits rechtskräftig geworden sei.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_631/2023 vom 18. September 2025
Das Bundesgericht heisst im Urteil 7B_631/2023 vom 18. September 2025 die Beschwerde der Betroffenen gut. Der Gesetzgeber hat mit Artikel 69 StPO das Prinzip der Justizöffentlichkeit konkretisiert. Demnach können interessierte Personen in die Urteile und Strafbefehle Einsicht nehmen, wenn die Parteien auf eine öffentliche Urteilsverkündung verzichtet haben oder ein Strafbefehl ergangen ist. Mit der fraglichen Bestimmung wird der Gehalt des Öffentlichkeitsprinzips im Bereich des Strafrechts jedoch nicht abschliessend geregelt; sie klärt insbesondere nicht alle Aspekte des Persönlichkeitsschutzes (u.a. ob eine allfällige Anonymisierung erforderlich ist). Die Praxis der Kantone in Bezug auf die Einsicht in Strafbefehle, die noch nicht rechtskräftig sind, ist nicht einheitlich.
Eine Abwägung zwischen dem Öffentlichkeitsprinzip und der für Beschuldigte geltenden Unschuldsvermutung ergibt gemäss dem Bundesgericht, dass Dritte nur in rechtskräftige Strafbefehle Einsicht nehmen können. Strafbefehle, die noch nicht rechtskräftig sind, weil dagegen noch Einsprache erhoben werden kann oder Einsprache erhoben wurde, unterliegen nicht Artikel 69 StPO, sondern den Vorschriften über die Einsicht in die Strafakte, insbesondere Artikel 101 StPO. Gemäss dieser Bestimmung können Dritte Akten einsehen, wenn sie dafür ein wissenschaftliches oder ein anderes schützenswertes Interesse geltend machen und der Einsichtnahme keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen. Bezüglich der Einsichtsgewährung in einen Strafbefehl nach Artikel 69 StPO darf die Staatsanwaltschaft im Prinzip davon ausgehen, dass dieser vier Tage nach ungenutztem Ablauf der Einsprachefrist unangefochten in Rechtskraft erwachsen ist.
Hier ist noch die Schlüsselpassage des Urteils des Bundesgerichts: «En conclusion, l’art. 69 al. 2 CPP, interprété à la lumière de l’art. 30 al. 3 Cst. et de l’art. 6 par. 1 CEDH, doit être compris en ce sens qu’il vise uniquement les ordonnances pénales entrées en force. Les ordonnances pénales qui ne sont pas en force, parce qu’une opposition peut encore y être formée ou y a été formée, sont soumises aux règles applicables à la consultation du dossier pénal et notamment à l’art. 101 CPP.» (E.2.4.7).
Kommentar zum Urteil 7B_631/2023 vom 18. September 2025 von Boris Etter, Fachanwalt SAV Strafrecht
Dieses Leiturteil des Bundesgerichts 7B_631/2023 vom 18. September 2025 ist sehr zu begrüssen. Der Strafbefehl ist die mit Abstand häufigste Erledigungsart im Schweizer Strafrecht (von über 90% der Fälle). Zahlreiche Strafbefehle ergehen ohne eingehende Untersuchung und sind u.a. auch teil von «Massenverfahren». Deshalb werden in der Praxis, zumindest wenn die Klientschaft fachkundig vertreten ist, entsprechend häufig Einsprachen erhoben, d.h. sie schliessen das Strafverfahren nicht ab.