Zulässige Dauer der Untersuchungshaft

Im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 aus dem Kanton Schaffhausen ging es um eine strafrechtliche Beschwerde betreffend Untersuchungshaft. Das Bundesgericht machte im Urteil zwar vielversprechende theoretische Ausführungen, bestätigte aber die Zulässigkeit der Untersuchungshaft dann doch: «Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Dabei ist nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt. Diese Grenze ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (zum Ganzen: BGE 145 IV 179 E. 3.1).» (E.4.2). «Eine strafprozessuale Haft kann die bundesrechtskonforme Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO). Eine Haftentlassung kommt allerdings nur bei besonders schwer wiegenden bzw. häufigen Versäumnissen in Frage, die erkennen lassen, dass die verantwortlichen Behörden nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung zu tragen. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen.» (E.4.3).

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen führt eine Strafuntersuchung gegen A. wegen Verdachts des Diebstahls, versuchten Diebstahls sowie mehrfachen Verweisungsbruchs. A. wurde am 23. Februar 2023 festgenommen und mit Verfügung des Kantonsgerichts Schaffhausen als Zwangsmassnahmengericht vom 24. Februar 2023 bis am 23. Mai 2023 in Untersuchungshaft versetzt. Das Kantonsgericht verlängerte die Untersuchungshaft wiederholt, letztmals mit Verfügung vom 5. September 2023 bis am 30. November 2023. Mehrere von A. gegen die Haftanordnungen erhobene kantonale Rechtsmittel blieben erfolglos.

Instanzenzug

Der A. stellte am 18. Oktober 2023 ein Gesuch um Haftentlassung. Das Kantonsgericht wies dieses mit Verfügung vom 6. November 2023 ab. Die von A. dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 4. Dezember 2023 ab.

Weiterzug ans Bundesgericht

Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 14. Dezember 2023 beantragt A., der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 4. Dezember 2023 sei aufzuheben und er sei sofort aus der Haft zu entlassen. Zudem sei eine Verletzung des Beschleunigungsgebots durch die Staatsanwaltschaft festzustellen. In prozessualer Hinsicht ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Die Staatsanwaltschaft hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Vorinstanz beantragt unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024

Einleitend äussert sich das Bundesgericht zum anwendbaren Recht wie folgt:

«Das Bundesgericht prüft im Rahmen der strafrechtlichen Beschwerde nur, ob die kantonale Instanz das Bundesrecht richtig angewendet hat, mithin das Recht, welches im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Urteils gegolten hat (Art. 453 Abs. 1 StPOBGE 145 IV 137 E. 2.6 ff, 129 IV 49 E. 5.3; vgl. auch Urteil 6S.74/2007 vom 6. Februar 2008 E. 2). Insoweit hat die per 1. Januar 2024 in Kraft tretende Gesetzesänderung in Haftangelegenheiten keine Auswirkungen auf das vorliegende Urteil.» (E.1.2).

Generell-abstrakt erklärt das Bundesgericht im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 Folgendes:

«Nach Art. 221 Abs. 1 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und zudem ein besonderer Haftgrund (Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr) gegeben ist. An Stelle der Haft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO).» (E.2.1).

Auf verschiedene Rügen des Beschwerdeführers wird hier nicht eingegangen (vgl. E.2.2., E.3).

Der Beschwerdeführer rügt u.a., die angeordnete Untersuchungshaft sei unverhältnismässig geworden, da er die ihm im Falle einer Verurteilung drohende Freiheitsstrafe unterdessen bereits vollumfänglich verbüsst habe. Er moniert damit, es liege Überhaft vor. Weiter macht er eine Verletzung des Beschleunigungsgebots geltend, da seitens der Staatsanwaltschaft längere Zeitspannen von Untätigkeit vorlägen, die sich nicht rechtfertigen liessen (E.4.1).

Generell abstrakt führt das Bundesgericht im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 hierzu aus:

«Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe. Dabei ist nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt. Diese Grenze ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen (zum Ganzen: BGE 145 IV 179 E. 3.1).» (E.4.2)

«Eine strafprozessuale Haft kann die bundesrechtskonforme Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht genügend vorangetrieben wird (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO). Eine Haftentlassung kommt allerdings nur bei besonders schwer wiegenden bzw. häufigen Versäumnissen in Frage, die erkennen lassen, dass die verantwortlichen Behörden nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung zu tragen. Die Frage, ob eine Haftdauer als übermässig bezeichnet werden muss, ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 137 IV 92 E. 3.1; 136 I 274 E. 2.3; 133 I 168 E. 4.1; 270 E. 3.4.2; Urteil 1B_262/2018 vom 20. Juni 2018 E. 3.1; je mit Hinweisen).» (E.4.3).

Fallbezogen äussert sich das Bundesgericht im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 wie folgt:

«Gemäss der Anklageschrift vom 24. November 2023 droht dem Beschwerdeführer für die untersuchten Tatvorwürfe eine Freiheitsstrafe von 12 Monaten. Dazu kommt der gemäss den Ausführungen der Vorinstanz wahrscheinliche Widerruf der am 11. August 2022 erfolgten bedingten Entlassung aus einer früheren Freiheitsstrafe und die damit verbundene Rückversetzung in den Strafvollzug im Umfang von 170 Tagen, also rund fünfeinhalb Monaten. Dass ihm der Widerruf der bedingten Haftentlassung im Sinne von Art. 89 Abs. 1 StGB konkret droht, stellt der Beschwerdeführer nicht substanziiert in Abrede, berücksichtigt er diese 170 Tage in seinen eigenen Berechnungen zur drohenden Überhaft doch ausdrücklich. Mit Blick auf die Anklageschrift und den Widerruf der bedingten Haftentlassung beläuft sich die drohende Freiheitsstrafe somit auf rund 17 Monate. Der Beschwerdeführer macht insoweit geltend, die tatsächlich zu erwartende Strafe sei wesentlich geringer als angeklagt, da es sich bei den untersuchten Strafvorwürfen um geringfügige Diebstähle im Sinne von Art. 139 Ziff. 1 i.V.m. Art. 172ter StGB handle und er auch die Verweisungsbrüche fahrlässig begangen habe. Ihm drohe daher – wenn überhaupt – höchstens eine sehr kurze Freiheitsstrafe, wahrscheinlicher sei allerdings eine Geldstrafe.» (E.4.4.1).

«Diese Rügen sind nicht zielführend. Wie die Vorinstanz unter Hinweis auf ihren früheren Haftentscheid vom 4. Oktober 2023 zutreffend ausführt, ist es nicht die Aufgabe des Haftgerichts, den subjektiven Tatbestand der angeklagten Delikte abschliessend zu beurteilen. Vielmehr wird es insbesondere die Aufgabe des Sachgerichts sein, darüber zu befinden, wie der Vorsatz des Beschwerdeführers hinsichtlich einer etwaigen Geringfügigkeit der Diebstähle zu werten ist. Mit seinen pauschalen Behauptungen, er habe sich bei beiden angeklagten Diebstählen lediglich erhofft, „so ca. 100 Euro“ zu finden und er sei bei den Verweisungsbrüchen im Zug eingeschlafen bzw. betrunken gewesen, vermag der Beschwerdeführer den angefochtenen Entscheid in Bezug auf die Beurteilung der ihm konkret drohenden Freiheitsstrafe jedenfalls nicht als bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen. Die bisherige Haftdauer betrug im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids rund zehn Monate. Bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von rund 17 Monaten verbleibt damit immerhin noch ein Strafrest von 7 Monaten. Ob darin Überhaft zu sehen ist, ist näher zu prüfen.» (E.4.4.2).

«Im Urteil 1B_238/2012 vom 16. Mai 2012 verneinte das Bundesgericht die Überhaft in einem Fall, in dem 17-18 Monate Freiheitsstrafe zu erwarten waren und die erstandene Haftdauer 9 Monate (im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids) bzw. 10 Monate (im Zeitpunkt der bundesgerichtlichen Beurteilung) betrug. Es betonte jedoch, dass es sich um einen Grenzfall handle (a.a.O., E. 2.5.2 f.). Im Urteil 1B_234/2008 vom 8. September 2008 bejahte es die Überhaft bei einer erstandenen Haftdauer von ca. 14 Monaten und einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von 18 Monaten (a.a.O., E. 4). Auch im Urteil 1B_280/2008 vom 6. November 2008 erwies sich die erstandene Haftdauer von knapp fünf Monaten im Zeitpunkt der bundesgerichtlichen Beurteilung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von 6 Monaten nicht mehr als verhältnismässig (a.a.O., E. 2.6). Überhaft nahm das Bundesgericht schliesslich auch in einem Fall an, in welchem sich der Beschwerdeführer bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von 32 Monaten bereits seit 28 Monaten in Haft befand (Urteil 1B_360/2019 vom 26. Juli 2019 E. 4.3 und 4.5).» (E.4.4.3).

«Im heutigen Urteilszeitpunkt beträgt die vom Beschwerdeführer erstandene Haft rund elf Monate. Bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von rund 17 Monaten verbleibt somit ein Strafrest von sechs Monaten. Angesichts der vorgenannten Rechtsprechung erweist sich die Haft noch als verhältnismässig und droht dem Beschwerdeführer somit keine Überhaft. Vergleichbar mit dem Sachverhalt, der dem Urteil 1B_238/2012 zu Grunde lag, handelt es sich jedoch um einen Grenzfall. Die kantonalen Behörden werden damit ein besonderes Augenmerk darauf zu richten haben, dass die Haft in zeitlicher Hinsicht nicht in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt und damit unverhältnismässig wird. Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Schaffhausen werden deshalb eingeladen, die Sache rasch der materiellen Erledigung zuzuführen, andernfalls eine baldige Haftentlassung ernsthaft in Betracht zu ziehen wäre.» (E.4.6)

Zum Beschleunigungsgebot von Art. 5 StPO äussert sich das Bundesgericht alsdann im Urteil 7B_997/2023 vom 4. Januar 2024 wie folgt:

«Zu prüfen verbleibt die Rüge, die kantonalen Strafverfolgungsbehörden hätten das Verfahren verschleppt und damit das Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Art. 5 Abs. 2 StPO) verletzt, weshalb sich die Haft auch aus diesem Grund in zeitlicher Hinsicht als unverhältnismässig erweise. Der Beschwerdeführer macht in diesem Zusammenhang im Wesentlichen geltend, sämtliche Untersuchungshandlungen seien seit dem 31. März 2023 abgeschlossen und die Staatsanwaltschaft sei damit von diesem Zeitpunkt an bis zur Anklageerhebung am 24. November 2023 untätig geblieben. Dies sei mit dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht vereinbar.  

Diese Vorbringen sind nicht stichhaltig. Die Vorinstanz führt unter Hinweis auf ihren früheren Haftentscheid vom 4. Oktober 2023 überzeugend aus, dass die Staatsanwaltschaft seit der Inhaftierung des Beschwerdeführers am 23. Februar 2023 bis zur Einreichung der Anklageschrift am 24. November 2023 regelmässig Verfahrens-handlungen vorgenommen hat. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers zählen dazu auch alle Verfahrensschritte, welche die Staatsanwaltschaft im Sommer 2023 im Hinblick auf ein allfälliges abgekürztes Verfahren unternommen hat, belegt dies doch, dass das Verfahren in dieser Zeitspanne nicht still stand. Es trifft zwar zu, dass namentlich zwischen dem Zeitpunkt der Schlusseinvernahme am 19. September 2023 und der Anklageerhebung am 24. November 2023 keine weiteren Verfahrensschritte unternommen wurden. Indessen kann in dieser Zeitspanne, in welcher die Staatsanwaltschaft ihre Anklageschrift ausarbeitete, jedenfalls keine gravierende Verfahrensverzögerung gesehen werden. Damit gibt es keine ausreichenden Hinweise für eine Verletzung des Beschleunigungsgebots, die für die Beurteilung der Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft von Belang sein könnten. Die Beschwerde erweist sich auch in diesem Punkt als unbegründet.» (E.4.7).

Aus dem Gesagten ergibt sich für das Bundesgericht, dass die Haftvoraussetzungen aufgrund des Bestehens von Fluchtgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO) erfüllt sind und sich die Anordnung von Untersuchungshaft auch als verhältnismässig erweist. Die Beschwerde ist folglich als unbegründet abzuweisen (E.5).

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