Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau erhob am 30. September 2021 Anklage gegen A. wegen mehrfachen, teilweise versuchten Betrugs, begangen am 28. März 2011, 6. November 2013, spätestens ab 20. Oktober 2014 bis mindestens am 17. Juni 2019 sowie am 18. Juni 2019.
Das Bezirksgericht Lenzburg stellte mit Urteil vom 17. Februar 2022 das Verfahren hinsichtlich des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung ein und sprach A. vom Vorwurf des mehrfachen, teilweise versuchten Betrugs frei. Hingegen sprach es ihn des Betrugs (wegen Verschweigens der selbständigen Erwerbstätigkeit sowie von Bargeld von über Fr. 100’000.–) sowie der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG; SR 831.30) durch Verstoss gegen die Meldepflicht gemäss Art. 31 Abs. 1 lit. d schuldig. Es verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu Fr. 70.– sowie zu einer Busse von Fr. 2’625.– und verwies ihn für fünf Jahre des Landes.
Instanzenzug
Der A. und die Oberstaatsanwaltschaft erklärten Berufung. Ersterer beantragte einen Freispruch von Schuld und Strafe, eventualiter einen Schuldspruch wegen Widerhandlung gegen Art. 31 Abs. 1 lit. a ELG sowie ein Absehen von einer Strafe, subeventualiter einen Schuldspruch wegen Widerhandlung gegen Art. 31 Abs. 1 lit. a ELG sowie eine Verurteilung zu einer minimalen bedingten Geldstrafe, und ein Absehen von einer Landesverweisung. Die Staatsanwaltschaft verlangte einen vollumfänglichen Schuldspruch wegen mehrfachen, teilweise versuchten Betrugs, eine Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten sowie zu einer Busse von Fr. 4’500.– und eine Erhöhung der Dauer der Landesverweisung auf sieben Jahre.
Mit Urteil vom 6. Juli 2023 stellte das Obergericht des Kantons Aargau das Verfahren in Bezug auf den (Betrugs-) Vorwurf vom 20. Oktober 2014 infolge Verjährung ein (Dispositiv-Ziffer 1). Es sprach A. schuldig des mehrfachen, teilweise versuchten Betrugs gemäss Art. 146 Abs. 1 StGB, teilweise in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 StGB, sowie des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe gemäss Art. 148a Abs. 1 StGB (Dispositiv-Ziffer 2). Es verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu Fr. 60.– und zu einer Verbindungsbusse von Fr. 2’250.–, ersatzweise 38 Tage Freiheitsstrafe (Dispositiv-Ziffer 3). Von einer obligatorischen Landesverweisung sah es ab (Dispositiv-Ziffer 4).
Weiterzug ans Bundesgericht
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, die Ziffern 3, 4, 5 (obergerichtliche Verfahrenskosten) und 6 (erstinstanzliche Verfahrenskosten) des obergerichtlichen Urteils seien aufzuheben und die Sache sei zur Neuzumessung der Strafe, zur Anordnung einer Landesverweisung gemäss Art. 66a lit. e StGB sowie zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit Mitteilung vom 6. Dezember 2024 wurden die Parteien darüber orientiert, dass die Beschwerde in Umsetzung einer Entscheidung der Verwaltungskommission des Bundesgerichts, die sich auf Art. 12 Abs. 1 lit. c des Reglements für das Bundesgericht vom 20. November 2006 (BGerR; SR 173.110.131) stützt, durch die Zweite strafrechtliche Abteilung behandelt wird.
Das Obergericht und A. wurden zur Vernehmlassung, beschränkt auf die Strafzumessung, eingeladen. Ersteres hat eine Stellungnahme eingereicht, ohne darin einen Antrag zu stellen. A. beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_1047/2023 vom 4. Juli 2025
Auf die gutgeheissene Beschwerde betreffend der Strafzumessung wird hier nicht eingegangen (E.3).
Die Beschwerdeführerin rügt vor Bundesgericht die bundesrechtswidrige Anwendung der Härtefallklausel bei der Landesverweisung (E.4).
Das Bundesgericht äussert sich generell-abstrakt im Urteil 7B_1047/2023 vom 4. Juli 2025 wie folgt:
«Art. 66a Abs. 1 lit. e StGB sieht für Ausländer, die wegen Betrugs im Bereich einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe oder unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe verurteilt wurden, die obligatorische Landesverweisung für 5-15 Jahre aus der Schweiz vor. Die obligatorische Landesverweisung greift grundsätzlich ungeachtet der konkreten Tatschwere (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 332 E. 3.1.3).» (E.4.1.1).
«Gemäss Art. 66a Abs. 2 Satz 1 StGB kann das Gericht ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer kumulativ einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Die Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 149 IV 231 E. 2.1.1; 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.1.2 und 3.3.1). Sie ist restriktiv anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.3.1). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich zur kriteriengeleiteten Prüfung des Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB der Kriterienkatalog der Bestimmung über den „schwerwiegenden persönlichen Härtefall“ in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) heranziehen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.3.2; je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, zu der die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Respektierung der Werte der Bundesverfassung, die Sprachkompetenzen, die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung zählen (Art. 58a des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration [Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG; SR 142.20]), die familiären Bindungen des Ausländers in der Schweiz beziehungsweise in der Heimat, die Aufenthaltsdauer, der Gesundheitszustand und die Resozialisierungschancen (BGE 144 IV 332 E. 3.3.2; Urteile 6B_1069/2023 vom 21. Januar 2025 E. 2.2.2; 6B_625/2024 vom 12. Dezember 2024 E. 3.1.2). Von einem schweren persönlichen Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB ist bei einem Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auszugehen (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1; Urteile 6B_1069/2023 vom 21. Januar 2025 E. 2.2.2; 6B_926/2023 vom 13. Januar 2025 E. 5.4.2; 6B_625/2024 vom 12. Dezember 2024 E. 3.1.2; je mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kann sich der Ausländer auf das Recht auf Privatleben nach Art. 8 Ziff. 1 EMRK berufen, sofern er besonders intensive soziale und berufliche Verbindungen zur Schweiz aufweist, die über jene einer gewöhnlichen Integration hinausgehen. Bei der Härtefallprüfung ist nicht schematisch ab einer gewissen Aufenthaltsdauer von einer Verwurzelung in der Schweiz auszugehen. Es ist vielmehr anhand der gängigen Integrationskriterien eine Einzelfallprüfung vorzunehmen (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1 f.; 144 IV 332 E. 3.3.2).» (E.4.1.2).
«Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der „öffentlichen Interessen an der Landesverweisung“. Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, bei welchem die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit als notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgeblich auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_1069/2023 vom 21. Januar 2025 E. 2.2.3; 6B_716/2024 vom 4. Dezember 2024 E. 4.1.3; je mit Hinweisen).» (E.4.1.3).
Das Bundesgericht stützt das Absehen von der Landesverweisung (durch die Vorinstanz) wie folgt und weist die diesbezügliche Beschwerde der Staatsanwaltschaft im Urteil 7B_1047/2023 vom 4. Juli 2025 ab:
«Die Vorinstanz erwägt zusammengefasst, der 61-jährige Beschwerdegegner sei im heutigen Bosnien und Herzegowina geboren und erstmals 1989 als „Saisonnier“ in die Schweiz gekommen. Auch wenn seine Integration insbesondere in gesellschaftlicher Hinsicht und damit zusammenhängend bezüglich der Sprachkenntnisse angesichts der jahrzehntelangen Anwesenheitsdauer unterdurchschnittlich ausfalle, sei nicht zu verkennen, dass er seinen Lebensmittelpunkt seit mehr als 30 Jahren in der Schweiz habe, weshalb von einem nicht unerheblichen privaten Interesse des Beschwerdegegners an einem Verbleib in der Schweiz auszugehen sei. Andererseits habe der Beschwerdegegner mit seinem Verhalten zulasten des schweizerischen Sozialsystems, das primär auf Solidarität und Loyalität und nicht auf Überwachung beruhe, einen finanziellen Nachteil bewirkt. Am Erhalt beziehungsweise an der zweckkonformen Verwendung der Gelder der von der Allgemeinheit getragenen Leistungserbringer und an der Aufrechterhaltung der Funktionalität des Sozialsystems bestehe ein grundsätzliches öffentliches Interesse. Der (Sozialversicherungs-) Betrug als Verbrechen und das damit verbundene Verschulden wiegten vergleichsweise schwer. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass der wesentliche Teil des Vermögensschadens im Rahmen des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung mit rund Fr. 20’000.– und damit einem Vergehen mit einem Strafrahmen von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe angefallen sei, während unter den (vollendeten) Betrug vergleichsweise „nur“ rund Fr. 4000.– fielen. Beim mehrfach versuchten Betrug sei angesichts der Nichtangabe von Vermögenswerten, was bei der Berechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs zu einem (zusätzlich) anzurechnenden Vermögensverzehr als Einnahmen geführt hätte, von einem sehr leichten bis leichten Taterfolg auszugehen. Es lägen damit Katalogtaten von keiner erheblichen Schwere vor, was sich auch – „wenn schliesslich aber aufgrund der maximal zulässigen Obergrenze der Tagessätze“ – im ausgesprochenen Strafmass widerspiegle. Es bestünden zwar für ein künftiges Wohlverhalten des Beschwerdegegners angesichts der Taten über rund acht Jahre hinweg und der fehlenden nachhaltigen Einsicht sowie aufrichtigen Reue gewisse Bedenken hinsichtlich der Legalbewährung; allerdings lägen auch keine Vorstrafen vor. Zusammenfassend stünden sich nicht unerhebliche öffentliche Interessen an der Anordnung der Landesverweisung des Beschwerdegegners und ebenso nicht unerhebliche private Interessen desselben am weiteren Verbleib in der Schweiz gegenüber und hielten sich die Waage. Folglich überwögen die öffentlichen Interessen die privaten Interessen des Beschwerdegegners „im Ergebnis gerade noch nicht“, womit die Voraussetzungen gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB für ein ausnahmsweises Absehen von einer Landesverweisung erfüllt seien.» (E.4.2).
«Das Absehen von einer Landesverweisung hält vor Bundesrecht stand: Die Vorinstanz hat das Vorliegen des schweren persönlichen Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB beziehungsweise Art. 8 EMRK nach den massgebenden Kriterien geprüft. Sie setzt sich mit der Anwesenheitsdauer des Beschwerdegegners, seiner gesellschaftlichen und beruflichen Integration in der Schweiz, dem Gesundheitszustand, den Familienverhältnissen und den Wiedereingliederungsmöglichkeiten in seinem Heimatland auseinander. Dass die Vorinstanz wesentliche Gesichtspunkte falsch oder nicht nachvollziehbar gewürdigt hätte, trifft nicht zu. So ist es vertretbar, dass sie angesichts der sehr langen Aufenthaltsdauer des Beschwerdegegners von über 30 Jahren, seiner bisherigen Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der durchschnittlichen beruflichen Integration einen schweren persönlichen Härtefall annimmt. Folgerichtig nimmt die Vorinstanz in einem weiteren Schritt eine Abwägung zwischen den privaten Interessen des Beschwerdegegners an einem Verbleib in der Schweiz und den öffentlichen Interessen an einer Landesverweisung vor. Inwiefern die Vorinstanz in diesem Zusammenhang die tatsächlichen Grundlagen einer unmassgeblichen Würdigung unterzogen oder ihr Ermessen missbraucht hätte, legt die Beschwerdeführerin nicht hinreichend dar und ist mit Blick auf die vorliegenden Anlasstaten auch nicht ersichtlich. Am Ganzen ändert im Übrigen nichts, dass die auszusprechende Geldstrafe neu 180 Tagessätze beträgt. Die Beschwerde [der Staatsanwaltschaft] erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.» (E.4.3).