Verzicht auf Landesverweisung aus gesundheitlichen Gründen

Im Urteil 6B_25/2022 vom 18. Oktober 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der Frage des Vorliegens eines Härtefalls bei der Landesverweisung aus gesundheitlichen Gründen. Dazu erklärte das Bundesgericht u.a. Folgendes: «Ferner kann die Landesverweisung aus der Schweiz für den Betroffenen im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand oder die Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsland einen schweren persönlichen Härtefall gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB darstellen oder unverhältnismässig im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK sein. Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nachfolgend: EGMR) zufolge, müssen Elemente medizinischer Art im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK Berücksichtigung finden. […] ). Die Rückweisung einer gesundheitlich beeinträchtigten Person ist dabei grundsätzlich mit Art. 3 EMRK vereinbar. Die Rückführung in ein Land mit schlechteren Behandlungsmöglichkeiten, als sie im Konventionsstaat bestehen, begründet nur in sehr aussergewöhnlichen Fällen („cas très exceptionnels“) eine Verletzung besagter Norm. Dies ist der Fall, wenn überzeugende humanitäre Gründe gegen die Ausweisung sprechen.» (E.3.2.3).

Sachverhalt und Instanzenzug

Das Bezirksgericht Bülach sprach A. mit Urteil vom 22. Dezember 2020 des Verbrechens gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel i.S.v. Art. 19 Abs. 1 lit. c und lit. d BetmG i.V.m. Art. 19 Abs. 2 lit. a und lit. c BetmG schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 22 Monaten. Zudem ordnete es eine Landesverweisung von 5 Jahren und deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) an. A. erhob gegen das Urteil Berufung, wobei er ausschliesslich die Landesverweisung anfocht. Das Obergericht des Kantons Zürich verwies ihn mit Urteil vom 12. Juli 2021 für 5 Jahre des Landes und ordnete die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS an.

Weiterzug an das Bundesgericht

Der A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und den Verzicht auf die Anordnung der Landesverweisung. Ferner seien die Kosten des Berufungsverfahrens sowie die Kosten der amtlichen Verteidigung dem Kanton Zürich aufzuerlegen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung und Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen im kantonalen Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner ersucht er für das bundesgerichtliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich sowie das Obergericht des Kantons Zürich verzichteten auf Vernehmlassung.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_25/2022 vom 18. Oktober 2023

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_25/2022 vom 18. Oktober 2023 wie folgt zur strafrechtlichen Landesverweisung:

«Das Gericht verweist den Ausländer, der wegen eines qualifizierten Betäubungsmitteldelikts verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der Strafe für 5-15 Jahre aus der Schweiz (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB).» (E.3.2.1)

«Von der Anordnung der Landesverweisung kann nur „ausnahmsweise“ unter den kumulativen Voraussetzungen abgesehen werden, dass sie (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB; sog. Härtefallklausel). Die Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV; BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.1.2 und 3.3.1). Sie ist restriktiv anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.3.1 mit Hinweis). Ob ein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vorliegt, bestimmt sich anhand der gängigen Integrationskriterien (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2 und 3.4.4; 144 IV 332 E. 3.3.2). Zu berücksichtigen sind namentlich der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiäre Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, die Aufenthaltsdauer, der Gesundheitszustand und die Resozialisierungschancen (vgl. Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201]; BGE 144 IV 332 E. 3.3.2; Urteile 6B_1193/2021 vom 7. März 2023 E. 6.3.3; 6B_552/2021 vom 9. November 2022 E. 2.3.4; je mit Hinweisen).» (E.3.2.2)

Zum Verzicht auf Landesverweisung aus gesundheitlichen Gründen äussert sich das Bundesgericht alsdann im Urteil 6B_25/2022 vom 18. Oktober 2023 wie folgt:

«Ferner kann die Landesverweisung aus der Schweiz für den Betroffenen im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand oder die Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsland einen schweren persönlichen Härtefall gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB darstellen oder unverhältnismässig im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK sein. Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nachfolgend: EGMR) zufolge, müssen Elemente medizinischer Art im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK Berücksichtigung finden (Urteile des EGMR in Sachen Hasanbasic gegen Schweiz vom 11. Juni 2013 [Nr. 52166/09] § 54; Emre gegen Schweiz vom 22. Mai 2008 [Nr. 42034/04] § 71; vgl. auch BGE 145 IV 455 E. 9.1 mit Hinweisen). Macht die betroffene Person eine Krankheit oder ein Gebrechen geltend, gilt es das Mass der gesundheitlichen Beeinträchtigung, die im Heimatland verfügbaren medizinischen Leistungen und allfällige Nachteile für die betroffene Person zu prüfen (BGE 145 IV 455 E. 9.1 mit Hinweisen).  Die Rückweisung einer gesundheitlich beeinträchtigten Person ist dabei grundsätzlich mit Art. 3 EMRK vereinbar. Die Rückführung in ein Land mit schlechteren Behandlungsmöglichkeiten, als sie im Konventionsstaat bestehen, begründet nur in sehr aussergewöhnlichen Fällen („cas très exceptionnels“) eine Verletzung besagter Norm. Dies ist der Fall, wenn überzeugende humanitäre Gründe gegen die Ausweisung sprechen („lorsque les considérations humanitaires militant contre l’expulsion sont impérieuses“, „where the humanitarian grounds against the removal are compelling“; Urteile des EGMR in Sachen N. gegen Vereinigtes Königreich vom 27. Mai 2008 [Nr. 26565/05] § 42; Emre gegen Schweiz a.a.O. § 89; Urteil 6B_884/2022 vom 20. Dezember 2022 E. 3.2.4.1 mit diversen Hinweisen).  Ein aussergewöhnlicher Fall, in dem eine aufenthaltsbeendende Massnahme unter Verbringung einer gesundheitlich angeschlagenen Person in ihren Heimatstaat Art. 3 EMRK verletzt, liegt vor, wenn für diese im Fall der Rückschiebung die konkrete Gefahr besteht, dass sie aufgrund fehlender angemessener Behandlungsmöglichkeiten oder fehlenden Zugangs zu Behandlungen einer ernsthaften, rapiden und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustands ausgesetzt wird, die intensives Leiden oder eine wesentliche Verringerung der Lebenserwartung nach sich zieht (Urteil des EGMR Paposhvili gegen Belgien vom 13. Dezember 2016 [Nr. 41738/10] § 183; BGE 146 IV 297 E. 2.2.3; Urteile 6B_884/2022 vom 20. Dezember 2022 E. 3.2.4.1; 6B_304/2021 vom 2. Juni 2022 E. 2.3.3; 6B_2/2019 vom 27. September 2019 E. 6.1, nicht publ. in: BGE 145 IV 455; je mit diversen Hinweisen).» (E.3.2.3)

Das Vorliegen einer Katalogtat wird vom Beschwerdeführer vor Bundesgericht anerkannt. Uneinigkeit besteht jedoch vor Bundesgericht betreffend das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB. Der Beschwerdeführer macht dabei keine besondere persönliche Verwurzelung in der Schweiz geltend, sondern leitet den Härtefall einzig aus seinem Gesundheitszustand und der daraus fliessenden Behandlungsbedürftigkeit ab (E.4.1).

Diesbezüglich ist gemäss Bundesgericht unbestritten, dass der Beschwerdeführer an einer Niereninsuffizienz leidet, ihm eine Niere entfernt wurde und er auf eine regelmässige Dialyse (aktuell drei Behandlungen pro Woche zu 4,5 Stunden) angewiesen ist. Der Beschwerdeführer steht auf der Schweizer Transplantationsliste und wartet auf eine Spenderniere. Bei der (bereits regelmässige Dialysen erfordernden) Niereninsuffizienz handelt es sich notorischerweise um ein ernstes – bei ausbleibender Behandlung fatales – Leiden mit beträchtlichen Auswirkungen auf die Lebensqualität. Dem Beschwerdeführer droht ohne adäquate medizinische Versorgung in Form regelmässiger Dialysen fraglos eine ernsthafte, rapide und irreversible Verschlechterung seines Gesundheitszustands resp. der Tod, bemerkt das Bundesgericht. Dass sich seine gesundheitliche Situation zukünftig (insbesondere nach einer allfälligen Transplantation) verbessern könnte, ändert an dieser aktuellen Einschätzung nichts, ergänzt das Bundesgericht (E.4.1).

Weiter stand zur Diskussion, ob in Gambia eine angemessene Behandlung mit Dialyse gewährleistet werden kann (E.4.2.5).

Das Bundesgericht kommt dann im Urteil 6B_25/2022 vom 18. Oktober 2023 zur Schlussfolgerung:

«Zusammengefasst ist festzuhalten, dass aus dem blossen Umstand, dass in Gambia eine Dialysestation existiert, nicht gefolgert werden kann, dass der Beschwerdeführer auch tatsächlich Zugang zu einer angemessenen Behandlung hätte. Damit unterlässt es die Vorinstanz, die in diesem Zusammenhang massgebenden Tatsachen festzustellen. Dadurch, dass sich die Vorinstanz nicht mit den Behauptungen resp. Beweismittelofferten des Beschwerdeführers auseinandersetzt, verletzt sie zudem dessen Anspruch auf rechtliches Gehör. Vorliegend sind die Voraussetzungen für eine Rückweisung gemäss Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG i.V.m. Art. 112 Abs. 3 BGG erfüllt.» (E.4.2.6).

Die Beschwerde wird durch das Bundesgericht gutgeheissen. Das Bundesgericht hebt das Urteil auf und weist es an die Vorinstanz zurück, damit sie betreffend die Frage der Behandlungsmöglichkeit des Beschwerdeführers in seinem Heimatland einen Entscheid trifft, der den Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 BGG genügt (E.5).

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