Sachverhalt
In der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 2016 drang eine Personengruppe auf den Bauernhof in Niedermuhlern/BE ein, wo der Landwirt Hanf bzw. Marihuana anbaute. Dieser versuchte mit Helfern die Eindringlinge zu vertreiben. Einen der Flüchtenden brachte er zu Fall und sperrte ihn in den Rübenkeller. Als seine Komplizen versuchten, ihn zu befreien, lud der Landwirt seine Schusswaffe mit Hasenschrotpatronen und begab sich zur Tenne, wo sich die Eindringlinge befanden. Beim Betreten stach ihm eine Person schwungvoll mit einer Mistgabel in die Hand. Als die Eindringlinge die Waffe bemerkten, ergriffen sie die Flucht und suchten bei einem Hoflader Deckung. Einige Sekunden später gab der Landwirt einen unkontrollierten Schuss in deren Richtung ab.
Instanzenzug
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte den Landwirt 2020 wegen versuchter schwerer Körperverletzung, Betäubungsmitteldelikten und weiterer Straftaten zu 46 Monaten Freiheitsstrafe, einer Geldstrafe und einer Busse. Im Zusammenhang mit der versuchten schweren Körperverletzung durch die Schussabgabe erwog es, der Landwirt habe die Grenzen der zulässigen Notwehr überschritten. Sein Notwehrexzess sei nicht entschuldbar.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_13/2021 vom 5. Februar 2024
Das Bundesgericht weist im Urteil 7B_13/2021 vom 5. Februar 2024 die Beschwerde des Mannes ab. Er hatte im Wesentlichen argumentiert, bei der Schussabgabe in rechtfertigender Notwehr gehandelt zu haben. Das Bundesgericht erinnert an die Voraussetzungen, die in solchen Situationen zur Notwehr berechtigen: Eine Person muss angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht werden und die Abwehr muss aufgrund der Umstände als verhältnismässig erscheinen. Der unvermittelte Schusswaffengebrauch kann grundsätzlich nur das letzte Verteidigungsmittel sein. Im konkreten Fall hat das Eindringen auf den Hof des Verurteilten dessen Hausrecht verletzt; dies stellte für sich alleine aber noch keine Gefahr für Leib und Leben dar. Eine solche Gefahr bestand zwar beim späteren Angriff mit der Mistgabel – indessen nicht mehr bei der darauffolgenden Schussabgabe. Die Eindringlinge hatten sich zuvor bereits entfernt und bei einem Hoflader Deckung gesucht. Mit der unvermittelten und unkontrollierten Schussabgabe auf die nur wenige Meter entfernten Personen überschritt der Beschwerdeführer sein Recht auf Notwehr erheblich. Zwar war er im fraglichen Zeitpunkt noch emotional aufgewühlt. Die beim Mistgabel-Angriff bestehende Notwehrlage war jedoch bereits beendet.
Hier sind die Schlüsselausführungen des Bundesgerichts.
Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_13/2021 vom 5. Februar 2024 zuerst generell-abstrakt zum Thema Notwehr:
«Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren (Art. 15 StGB; „rechtfertigende Notwehr“). Art. 16 StGB regelt die „entschuldbare Notwehr“: Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr nach Art. 15 StGB, so mildert das Gericht die Strafe (Abs. 1). Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff, so handelt er nicht schuldhaft (Abs. 2). 3.Notwehr setzt nach Art. 15 StGB unter anderem voraus, dass jemand angegriffen wird oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht oder schon begonnen hat, fehlt dagegen, wenn er bereits vorbei oder noch nicht zu erwarten ist. Der Angegriffene braucht freilich nicht zu warten, bis es zu spät ist, um sich zu wehren; doch verlangt die Unmittelbarkeit der Bedrohung, dass jedenfalls Anzeichen einer Gefahr vorhanden sind, die eine Verteidigung nahelegen, mit andern Worten, dass objektiv eine Notwehrlage besteht. Solche Anzeichen liegen z.B. dann vor, wenn der Angreifer eine drohende Haltung einnimmt, sich zum Kampf vorbereitet oder Bewegungen macht, die in diesem Sinne gedeutet werden können. Erforderlich ist zudem, dass die Tat zum Zweck der Verteidigung erfolgt; Handlungen, die nicht zur Abwehr eines Angriffes unternommen werden, sondern blosser Rache oder Vergeltung entspringen, fallen nicht unter den Begriff der Notwehr (BGE 104 IV 1 E. a). Das Gleiche gilt für Handlungen, die darauf gerichtet sind, einem zwar möglichen aber noch unsicheren Angriff vorzubeugen, einem Gegner also nach dem Grundsatz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist, zuvorzukommen und ihn vorsorglich kampfunfähig zu machen (zum Ganzen: BGE 93 IV 81; Urteile 6B_402/2022 vom 24. April 2023 E. 2.2; 6B_310/2022 vom 8. Dezember 2022 E. 5.3; 6B_182/2021 vom 12. Mai 2021 E. 2.2; je mit Hinweisen). Rechtmässiges Handeln setzt also voraus, dass der Täter sich der Notwehrlage bewusst ist und dass er mit dem Willen zur Verteidigung handelt (BGE 104 IV 1 E. a mit Hinweisen).» (E.3.3.1).
«Ein Fall von Putativnotwehr liegt vor, wenn der Täter einem Sachverhaltsirrtum unterliegt, indem er irrtümlich annimmt, es sei ein rechtswidriger Angriff im Sinne von Art. 15 StGB gegenwärtig oder unmittelbar bevorstehend (BGE 129 IV 6 E. 3.2; Urteile 6B_310/2022 vom 8. Dezember 2022 E. 5.3; 6B_1454/2020 vom 7. April 2022 E. 2.3; 6B_182/2021 vom 12. Mai 2021 E. 2.2; je mit Hinweisen). Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zugunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich dieser vorgestellt hat (Art. 13 Abs. 1 StGB). Die blosse Vorstellung von der Möglichkeit eines Angriffs oder einer unmittelbaren Bedrohung genügt nicht für die Annahme einer Putativnotwehrlage (BGE 147 IV 193 E. 1.4.5; 93 IV 81 E. b; Urteile 6B_310/2022 vom 8. Dezember 2022 E. 5.3; 6B_1454/2020 vom 7. April 2022 E. 2.3; 6B_569/2018 vom 20. März 2019 E. 3.5.4; je mit Hinweisen). Der vermeintlich Angegriffene oder Bedrohte muss vielmehr Umstände glaubhaft machen, die bei ihm den Glauben erwecken konnten, er befinde sich in einer Notwehrlage; demgegenüber ist in einer Putativnotwehrlage kein eigentlicher Nachweis solcher Umstände durch den vermeintlich Angegriffenen zu verlangen (Urteil 6B_1454/2020 vom 7. April 2022 E. 2.3 mit Hinweisen).» (E.3.3.2).
«Die Abwehr in einer Notwehrlage muss nach der Gesamtheit der Umstände verhältnismässig erscheinen. Eine Rolle spielen insbesondere die Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und die Abwehr bedrohten Rechtsgüter, die Art des Abwehrmittels und dessen tatsächliche Verwendung. Die Angemessenheit der Abwehr ist anhand jener Situation zu beurteilen, in der sich der rechtswidrig Angegriffene im Zeitpunkt seiner Tat befand. Es dürfen nicht nachträglich allzu subtile Überlegungen darüber angestellt werden, ob der Angegriffene sich nicht allenfalls auch mit anderen, weniger einschneidenden Massnahmen hätte begnügen können (BGE 136 IV 49 E. 3.1 und 3.2; Urteil 6B_1454/2020 vom 7. April 2022 E. 3.3.1; je mit Hinweisen). Bei der Verwendung gefährlicher Werkzeuge zur Abwehr (Messer, Schusswaffen etc.) ist praxisgemäss besondere Zurückhaltung geboten, da deren Einsatz stets die Gefahr schwerer oder gar tödlicher Verletzungen mit sich bringt (BGE 136 IV 49 E. 3.3; Urteile 6B_1454/2020 vom 7. April 2022 E. 3.3.1; 6B_1211/2015 vom 10. November 2016 E. 1.4.1). Angemessen ist die Abwehr, wenn der Angriff nicht mit weniger gefährlichen und zumutbaren Mitteln hätte abgewendet werden können, der Täter womöglich gewarnt worden ist und der Abwehrende vor der Benutzung des gefährlichen Werkzeugs das Nötige zur Vermeidung einer übermässigen Schädigung vorgekehrt hat. Auch ist eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter unerlässlich. Doch muss deren Ergebnis für den Angegriffenen, der erfahrungsgemäss rasch handeln muss, mühelos erkennbar sein (BGE 136 IV 49 E. 3.3; Urteile 6B_1454/2020 vom 7. April 2022 E. 3.3.1; 6B_810/2011 vom 30. August 2012 E. 3.3.3; je mit Hinweisen). Gemäss gefestigter Rechtsprechung kann ein Schusswaffengebrauch grundsätzlich nur das letzte Mittel der Verteidigung sein, weshalb der Angegriffene – soweit möglich – den Einsatz androhen bzw. den Angreifer warnen muss. Zudem wird zunächst ein möglichst milder, in erster Linie gegen weniger verletzliche Körperteile wie Beine und Arme gerichteter Einsatz der Waffe zur Erreichung des Abwehrerfolgs verlangt (vgl. BGE 136 IV 49 E. 4.2; Urteile 6B_521/2022 vom 7. November 2022 E. 3.2.2; 6B_1454/2020 vom 7. April 2022 E. 3.3.1; 6B_1211/2015 vom 10. November 2016 E. 1.4.1).» (E.3.3.3).
Das Bundesgericht weist auch die weiteren Einwände des Betroffenen gegen seine Verurteilung und die vorinstanzliche Strafzumessung ab.
Fallbezogen erklärt das Bundesgericht im Urteil 7B_13/2021 vom 5. Februar 2024 Folgendes:
«Der Angriff gegen das Hausrecht des Beschwerdeführers begründet für sich – ohne dass weitere Umstände hinzutreten – keine Gefahr für dessen Leib oder Leben. Der Angriff mit der Mistgabel auf den Beschwerdeführer begründet eine weitere Notwehrlage. In dieser bestand eine Gefahr für Leib und Leben des Beschwerdeführers. Diese Notwehrlage bestand jedoch im Moment der Schussabgabe nicht mehr. Eine Handlung, die zu einem Zeitpunkt erfolgt, in welchem ein Angriff nicht mehr unmittelbar droht oder andauert, fällt nicht unter Art. 16 StGB (vgl. Urteile 6B_724/2017 vom 21. Juli 2017 E. 2.1; 6B_383/2011 vom 20. Januar 2012 E. 5.4; je mit Hinweisen). Dem Beschwerdeführer ist zwar insoweit zu folgen, als sich die Gewaltbereitschaft der eingedrungenen Personen darin manifestierte, dass er beim Betreten der Tenne heftig mit einer Mistgabel attackiert wurde. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Personen nach diesem Angriff mit der Mistgabel bereits von ihm entfernt und beim Hoflader Sicherheit gesucht hatten, als er auf sie schoss. Die Vorinstanz verneint damit zutreffend eine rechtfertigende Notwehr.» (E.3.4.1).
«Die Notwehrhandlung in der im Zeitpunkt der Schussabgabe einzig objektiv bestehenden Notwehrlage – der Angriff auf das Hausrecht des Beschwerdeführers – ist unverhältnismässig. Mit der Schussabgabe in Richtung der Geflüchteten hat der Beschwerdeführer gleich mehrere Personen an Leib und Leben und damit hochwertige Rechtsgüter in schwerer Weise gefährdet. Gegenüber diesen ist das Hausrecht des Beschwerdeführers untergeordnet. Der Schuss mit Hasenschrotpatronen mit einem Durchmesser von 3.5 mm pro Schrot in Richtung der eingedrungenen Personen steht in einem krassen Missverhältnis zu deren damit beabsichtigten Vertreibung vom Bauernhof. Angesichts der verbindlich festgestellten Tatumstände – die Eindringlinge waren vor ihm geflüchtet und befanden sich beim einige Meter entfernten Hoflader, wo sie Deckung suchten – hätte der Beschwerdeführer zunächst mit der Waffe im Anschlag zuwarten und bei einem sich anbahnenden erneuten Angriff mit einer verhältnismässigen Notwehrhandlung (Warnschuss, Schuss auf die Gliedmassen etc.; siehe die Hinweise in E. 3.3.3 oben) reagieren können, anstatt unvermittelt aus relativ kurzer Distanz unkontrolliert auf die Personen zu schiessen. Dass die Schussabgabe ohne vorgängigen Warnruf oder Warnschuss erfolgte, tritt erschwerend hinzu. In der vorliegend massgeblichen Notwehrlage durch Hausfriedensbruch durfte der Beschwerdeführer keinen unkontrollierten Schuss in Richtung der Personen abgeben. Dies hat der Beschwerdeführer im Übrigen selbst eingesehen und eingestanden, die Schussabgabe hätte vermieden werden können.» (E.3.4.2).
«Wenn der Beschwerdeführer alsdann Vermutungen über die Beweggründe der Angreifer anstellt und gestützt darauf eine für die Schussabgabe ausreichende Notwehrlage zu konstruieren versucht, weicht er in unzulässiger Weise vom verbindlich festgestellten Sachverhalt ab. Selbst wenn der Beschwerdeführer subjektiv von einem (weiteren) bevorstehenden Angriff der Eindringlinge auf seine körperliche Integrität oder sein Leben ausgegangen sein sollte – was er indes nicht rechtsgenüglich aufzuzeigen vermag – ging von den sich in einiger Entfernung in Sicherheit gebrachten Personen in dem vorliegend massgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Schussabgabe keine unmittelbare Gefahr aus, welche eine unvermittelte und unkontrollierte Schussabgabe auf die einige Meter von ihm entfernt beim Hoflader Schutz suchenden Personen ohne vorangehende Warnrufe oder einen kontrollierten Warnschuss in die Luft rechtfertigen könnte. Damit läge, wenn denn dieser Argumentation überhaupt gefolgt werden könnte und eine Putativnotwehrlage anzunehmen wäre, ein Putativnotwehrexzess vor, da auch in dieser Situation die unvermittelte und unkontrollierte Schussabgabe mit Schrotmunition auf die geflüchteten Personen unverhältnismässig wäre.» (E.3.4.3).
Das Bundesgericht gelangt im Urteil 7B_13/2021 vom 5. Februar 2024 zur Schlussfolgerung:
«Die Vorinstanz verletzt zusammenfassend kein Bundesrecht, wenn sie zum Schluss gelangt, der Beschwerdeführer habe durch den Einsatz der Schusswaffe die Grenzen der erlauben Notwehr gemäss Art. 15 StGB überschritten.» (E.3.4.4).