Strafrechtliche Landesverweisung
Juli 25, 2025 12:47 pm

 Im Urteil 7B_1047/2023 vom 4. Juli 2025 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht u.a. mit dem Verzicht auf eine Landesverweisung und schützte diesen noch knapp (61 Jahre alter Beschuldigter, über 30 Jahre in der Schweiz, Wirtschaftsdelikt). Es argumentierte wie folgt:  «Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der "öffentlichen Interessen an der Landesverweisung". Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, bei welchem die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit als notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgeblich auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abgestellt wird […].» (E.4.1.3). «Das Absehen von einer Landesverweisung hält vor Bundesrecht stand:  Die Vorinstanz hat das Vorliegen des schweren persönlichen Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB beziehungsweise Art. 8 EMRK nach den massgebenden Kriterien geprüft. Sie setzt sich mit der Anwesenheitsdauer des Beschwerdegegners, seiner gesellschaftlichen und beruflichen Integration in der Schweiz, dem Gesundheitszustand, den Familienverhältnissen und den Wiedereingliederungsmöglichkeiten in seinem Heimatland auseinander. Dass die Vorinstanz wesentliche Gesichtspunkte falsch oder nicht nachvollziehbar gewürdigt hätte, trifft nicht zu. So ist es vertretbar, dass sie angesichts der sehr langen Aufenthaltsdauer des Beschwerdegegners von über 30 Jahren, seiner bisherigen Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der durchschnittlichen beruflichen Integration einen schweren persönlichen Härtefall annimmt. Folgerichtig nimmt die Vorinstanz in einem weiteren Schritt eine Abwägung zwischen den privaten Interessen des Beschwerdegegners an einem Verbleib in der Schweiz und den öffentlichen Interessen an einer Landesverweisung vor. […].» (E.4.3).

Mai 26, 2025 12:49 pm

Im Urteil 6B_143/2025 vom 29. April 2025 aus dem Kanton Zürich ging es um eine angeordnete Landesverweisung von 20 Jahren (und SIS-Ausschreibung) eines Staatsangehörigen von Brasilien. In diesem lesenswerten Urteil führte das Bundesgericht lehrbuchartig im Detail seine Praxis zur Landesverweisung aus (E.1.3). Im Zentrum stand die Frage der Rückweisung einer (hier psychisch) gesundheitlich angeschlagenen Person und Art. 3 EMRK. Dazu äusserte sich das Bundesgericht wie folgt: «Die Rückweisung einer gesundheitlich beeinträchtigten Person ist dabei grundsätzlich mit Art. 3 EMRK vereinbar. Die Rückführung in ein Land mit schlechteren Behandlungsmöglichkeiten, als sie im Konventionsstaat bestehen, begründet nur in sehr aussergewöhnlichen Fällen ("cas très exceptionnels") eine Verletzung besagter Norm. Dies ist der Fall, wenn zwingende humanitäre Gründe gegen die Ausweisung sprechen […]- Ein aussergewöhnlicher Fall, in dem eine aufenthaltsbeendende Massnahme unter Verbringung einer gesundheitlich angeschlagenen Person in ihren Heimatstaat Art. 3 EMRK verletzt, liegt vor, wenn für diese im Fall der Rückschiebung die konkrete Gefahr besteht, dass sie aufgrund fehlender angemessener Behandlungsmöglichkeiten oder fehlenden Zugangs zu Behandlungen einer ernsthaften, rapiden und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustands ausgesetzt wird, die intensives Leiden oder eine wesentliche Verringerung der Lebenserwartung nach sich zieht […].» (E.1.3.7). «Mit seinen Ausführungen zur Versorgungsdichte und -qualität des öffentlichen brasilianischen Gesundheitssystems […] vermag [der Beschwerdeführer] nicht darzulegen, dass er dort mangels angemessener Behandlung einem intensiven Leiden im Sinne der Paposhvili -Rechtsprechung […] ausgesetzt werden könnte. Für die Annahme eines solchen Leidens reicht das geltend gemachte abstrakte Risiko selbstschädigenden Verhaltens nicht aus. Dasselbe gilt für das nicht weiter begründete Vorbringen, in Brasilien drohe ihm die Gefahr, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Eine derart gravierende Fallgestaltung, wie sie für die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK verlangt wird, lässt sich im vorliegenden Fall nicht behaupten. Damit ist auch nicht zu beanstanden, dass durch die Vorinstanz keine vertiefte Untersuchung nach dem prozessualen Teilgehalt von Art. 3 EMRK […] vorgenommen wurde. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK liegt nicht vor.» (E.1.4.2). Auch die Rüge der Interessenabwägung nach Art. 66a StGB drang vor Bundesgericht nicht durch (E.1.5.6). 

Oktober 2, 2024 1:12 pm

Im Urteil 6B_49/2022 vom 28. August 2024 aus dem Kanton Luzern, welches in Fünferbesetzung ergangen ist, schütze das Bundesgericht die Bejahung eines Härtefalls bei der strafrechtlichen Landesverweisung. Dabei machte es ausführliche, generell-abstrakte Ausführungen zu den entsprechenden Prüfungskriterien (E.3 ff.). Hier sind einige Schlüsselausführungen: «Sind Kinder involviert, ist bei der Interessenabwägung als wesentliches Element zudem den Kindesinteressen und dem Kindeswohl Rechnung zu tragen […]. In Bezug auf die Kinder des von der Landesverweisung betroffenen Elternteils berücksichtigt die Rechtsprechung insbesondere, ob die Eltern des Kindes zusammenleben und ein gemeinsames Sorge- und Obhutsrecht haben oder, ob der von der Landesverweisung betroffene Elternteil das alleinige Sorge- und Obhutsrecht hat bzw. ob er gar nicht sorge- und obhutsberechtigt ist und seine Kontakte zum Kind daher nur im Rahmen eines Besuchsrechts pflegt […]. Minderjährige Kinder teilen das ausländerrechtliche Schicksal des obhutsberechtigten Elternteils […]. Die Landesverweisung des Elternteils, welcher die elterliche Sorge und alleinige Obhut über das Kind hat, führt daher dazu, dass das Kind faktisch gezwungen ist, die Schweiz zu verlassen […]. Sind Kinder von der Landesverweisung mitbetroffen, sind insbesondere auch die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, auf welche diese im Zielland treffen könnten (Urteil des EGMR Üner gegen Niederlande vom 18. Oktober 2006, Nr. 46410/99, § 58), wobei Kindern im anpassungsfähigen Alter der Umzug in das Heimatland nach der Rechtsprechung grundsätzlich zumutbar ist […]» (E.3.2.8). Im vorliegenden Fall entschieden die Kinder Beschwerdegegnerin den Fall zu ihrem Gunsten: «Eine Ausreise in die Dominikanische Republik ist den Söhnen der Beschwerdegegnerin angesichts ihres Alters, des bisher vollständig in der Schweiz verbrachten Lebens sowie mangels Verbindung zur Heimat der Beschwerdegegnerin nicht […. Sie haben ein erhebliches Interesse an einer Weiterführung ihres Lebens in der Schweiz. Da es sich bei der Beschwerdegegnerin um die alleinige Inhaberin der elterlichen Sorge und Obhut handelt und ihre Söhne (abgesehen von ihr) hier über kein tragfähiges familiäres Umfeld verfügen - womit sie das Land de facto mit der Beschwerdegegnerin verlassen müssten - besteht demnach ein gewichtiges Interesse an einem hiesigen Verbleib ihrer Mutter. Dieses Kindesinteresse überwiegt im vorliegenden Fall dasjenige der Öffentlichkeit an einer Landesverweisung der Beschwerdegegnerin. Der vorinstanzliche Verzicht auf deren Anordnung erweist sich damit als rechtskonform.» (E.3.6.4).

Juni 30, 2024 5:10 am

Im Urteil 6B_303/2024 vom 12. Juni 2024 des Bundesgerichts aus dem Kanton Graubünden ging es um die strafrechtliche Landesverweisung. Das Bundesgericht machte hier präzise generell-abstrakte Aussagen zum Prüfungsschema eines Härtefalls (E.2.1.2 ff.). Die Landesverweisung wurde hier vom Bundesgericht bestätigt, trotz eines 9 Monate alten Kindes, es lagen aber besondere Lebensumstände vor (E.2.3.3). Das Bundesgericht führte u.a. aus: «Sind Kinder involviert, ist bei der Interessenabwägung als wesentliches Element dem Kindeswohl Rechnung zu tragen (BGE 143 I 21 E. 5.5.1; Urteile 6B_225/2023 vom 7. Juli 2023 E. 1.3.6; 6B_783/2021 vom 12. April 2023 E. 1.3.3; 6B_1114/2022 vom 11. Januar 2023 E. 5; 6B_1449/2021 vom 21. September 2022 E. 3.2.3; je mit Hinweisen). Minderjährige Kinder teilen das ausländerrechtliche Schicksal des obhutsberechtigten Elternteils. Wird ein Kind deshalb faktisch gezwungen die Schweiz zu verlassen, sind insbesondere auch die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, auf die es im Zielland treffen könnte, wobei Kindern im anpassungsfähigen Alter der Umzug in das Heimatland grundsätzlich zumutbar ist (BGE 143 I 21 E. 5.4).» (E.2.1.4). Das Bundesgericht lies aber offen, welches Alter eines Kindes es als «anpassungsfähig» ansieht.