Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK
Juni 24, 2025 2:19 pm

Im Urteil 6B_48/2025 vom 16. April 2025 aus dem Kanton Thurgau befasste sich das Bundesgericht mit dem Teilnahmerecht und dem Konfrontationsanspruch eines der Schändung einer 90-jährigen Frau beschuldigten Spitex-Mitarbeiters. Die Frau verstarb im Laufe der Voruntersuchung, nachdem eine delegierte Einvernahme des Opfers durch die Polizei stattfand, bei welcher der Anwalt des Beschuldigten, nicht aber der Beschuldigte selber, teilnahmen. Das Bundesgericht äusserte sich eingehend zum Teilnahmerecht und zum Konfrontationsanspruch: «Gemäss Art. 147 Abs. 1 Satz 1 StPO haben die Parteien das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Dieses spezifische Teilnahme- und Mitwirkungsrecht fliesst aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 107 Abs. 1 lit. b StPO). […]. Nach Art. 147 Abs. 4 StPO dürfen Beweise, die in Verletzung von Art. 147 StPO erhoben worden sind, nicht zulasten der Partei verwertet werden, die nicht anwesend war […]» (E.2.2.1). «Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK garantierte Anspruch der beschuldigten Person, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Er wird als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) auch durch Art. 32 Abs. 2 BV gewährleistet. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn die beschuldigte Person wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen […]. Damit die Verteidigungsrechte gewahrt sind, muss die beschuldigte Person namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage zu stellen […]. Dies setzt in aller Regel voraus, dass sich die einvernommene Person in Anwesenheit der beschuldigten Person mindestens einmal zur Sache äussert […].» (E.2.2.2). «Die mit dem Teilnahmerecht (Art. 147 StPO) und dem Konfrontationsanspruch (Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK) gewährten Garantien sind nicht deckungsgleich und zu unterscheiden. Daraus ergibt sich, dass die Wiederholung einer Einvernahme mit erstmaliger Einräumung des Konfrontationsrechts im Sinne des Mindeststandards der EMRK dazu dient, sämtliche vorhandenen, früheren Aussagen einer Verwertbarkeit zuzuführen, während es bei der Wiederholung einer in Missachtung des Teilnahmerechts von Art. 147 Abs. 1 StPO abgehaltenen Einvernahme unter erstmaliger Wahrung des Teilnahmerechts darum geht, überhaupt erst verwertbare Aussagen zu schaffen […]» (E.2.2.3). Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab: «Die Vorinstanz gelangt zum zutreffenden Ergebnis, dass der Beschwerdeführer darauf verzichtete, sein Teilnahme- und Konfrontationsrecht am 8. Juli 2022 persönlich wahrzunehmen. Daran ändert nichts, dass die Verteidigung erst am 18. Juli 2022 Einsicht in die Akten nahm. Der Beschwerdeführer war als Spitex-Mitarbeiter mit dem Alter und dem Gesundheitszustand von B. von Anfang an vertraut. Gerade weil ihre Aussage gegen seine Aussage stand, hätte er der Einvernahme vom 8. Juli 2022 nicht ohne nachvollziehbaren Grund fernbleiben sollen. Jedenfalls kann er den Behörden nicht vorwerfen, dass sie zwischen dem 8. Juli 2022 und dem Tod von B. am 26. Februar 2023 keine weitere Einvernahme ansetzten.» (E.2.4).

Juli 8, 2024 12:01 pm

Vielleicht der strafrechtliche BGE des Jahres 2024? Im Urteil 6B_92/2022 vom 5. Juni 2024 aus dem Kanton Zürich (zur amtl. Publ. vorgesehen) befasste sich das Bundesgericht ausführlich mit der Verwertbarkeit von Beweisen, einerseits privaten Videoaufnahmen und andererseits auf Einvernahmen, bei denen Teilnahmerecht von Mitbeschuldigten (in unzulässiger Weise) nicht gewahrt wurde. Der Entscheid ist eine absolute Muss-Lektüre bei Verwertbarkeitsfragen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde u.a. wie folgt gut: «Zwar können eine Verletzung des Teilnahmerechts und deren Folgen nicht losgelöst vom Konfrontationsanspruch nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK beurteilt werden; die beiden Garantien sind jedoch nicht deckungsgleich und zu unterscheiden: Art. 147 StPO sieht ein Recht auf Teilnahme für sämtliche Verfahrensparteien bei allen staatsanwaltschaftlichen bzw. von der Staatsanwaltschaft an die Polizei delegierten sowie gerichtlichen Beweiserhebungen vor, verknüpft mit der Folge der Unverwertbarkeit des Beweises im Fall, dass das Teilnahmerecht unzulässigerweise eingeschränkt wurde. Der menschenrechtliche Standard von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK beinhaltet dagegen ein Recht allein der beschuldigten Person auf lediglich einmalige Konfrontation mit dem Belastungszeugen im gesamten Verfahren, wobei die Gewährleistung dieses Rechts Voraussetzung für die Verwertbarkeit sämtlicher belastender Aussagen dieses Zeugen bildet. Art. 147 StPO geht folglich in persönlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht über den Mindestanspruch der EMRK hinaus […]» (E.1.6.7.3). «Die Rechtsprechung ist nach dem Gesagten anzupassen. Die Voraussetzungen dafür liegen vor (vgl. BGE 149 II 381 E. 7.3.1; 149 V 177 E. 4.5; je mit Hinweisen). Zusammenfassend gilt demnach, dass eine Einvernahme, an der das Teilnahmerecht der beschuldigten Person gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO unzulässigerweise nicht gewährleistet war und die daher gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht verwertet werden darf, auch nach einer Wiederholung der Einvernahme unter Wahrung des Teilnahmerechts bzw. unter hinreichender Konfrontation weiterhin unverwertbar im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO bleibt. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation führt nicht zur Verwertbarkeit von nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbaren Einvernahmen.» (E.1.6.7.4).