Anklageprinzip

Grenzen des Anklageprinzips

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März 25, 2024 4:05 am

Im Urteil 7B_226/2022 vom 14. Februar 2024 aus dem Kanton Aargau ging es um einen Verkehrsunfall in einem Kreisverkehr (SVG-Delikte). In diesem Urteil nahm das Bundesgericht zum Anklageprinzip wie folgt Stellung: «Die Anklageschrift bezeichnet gemäss Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO möglichst kurz, aber genau die der beschuldigten Person vorgeworfenen Taten mit Beschreibung von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung. Nach dem aus Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie aus Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a und b EMRK abgeleiteten und in Art. 9 Abs. 1 und Art. 325 StPO festgeschriebenen Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Zugleich bezweckt der Anklagegrundsatz den Schutz der Verteidigungsrechte der angeschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 147 IV 439 E. 7.2; 144 I 234 E. 5.6.1; 143 IV 63 E. 2.2; je mit Hinweisen). Die beschuldigte Person muss aus der Anklage ersehen können, wessen sie angeklagt ist. Das bedingt eine zureichende Umschreibung der Tat. Sie darf nicht Gefahr laufen, erst an der Gerichtsverhandlung mit neuen Anschuldigungen konfrontiert zu werden (BGE 143 IV 63 E. 2.2 mit Hinweisen). Das Gericht ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden (Art. 350 Abs. 1 StPO).» (E.2.1.2). Zur Grenze des Anklageprinzips äusserte es sich wie folgt: «Allerdings hindert der Anklagegrundsatz das Gericht nicht, die beschuldigte Person aufgrund des abgeänderten Sachverhalts zu verurteilen, sofern die Änderungen für die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts nicht ausschlaggebende Punkte betreffen und die beschuldigte Person Gelegenheit hatte, dazu Stellung zu nehmen (Urteil 6B_239/2022 vom 22. März 2023 E. 4.3 mit Hinweisen).» (E.2.3.2).

Dezember 27, 2022 6:58 am

Im Urteil 6B_171/2022 vom 29. November 2022, welches einen tragischen Verkehrsunfall mit Todesfolge in Bülach zum Gegenstand hat, hatte das Bundesgericht die Gelegenheit, sich zum Anklagegrundsatz zu äussern. Der Anklagegrundsatz ist verletzt, wenn die beschuldigte Person für Taten verurteilt wird, bezüglich welcher die Anklageschrift den inhaltlichen Anforderungen nicht genügt, bzw. wenn das Gericht mit seinem Schuldspruch über den angeklagten Sachverhalt hinausgeht (E.2.3). Das Bundesgericht kommt nach fundierten Erwägungen zum Schluss, dass Art. 333 Abs. 1 StPO  nicht über seinen klaren Wortlaut hinaus anzuwenden sei, wenn die Anklage innerhalb des angeklagten Straftatbestandes geändert werden soll, weil etwa wie im vorliegenden Fall in der Anklageschrift nicht alle tatsächlichen Umstände aufgeführt sind, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des vorgeworfenen Verhaltens (möglicherweise) ergeben könnte. Die Unterlassung der Staatsanwaltschaft, in der Anklageschrift alle (relevanten) tatsächlichen Feststellungen darzulegen, kann somit nicht zur Verpflichtung des Gerichts führen, dieser Gelegenheit zur Anklageänderung zu geben (E.3.4.5).