6B_1339/2023
Mai 13, 2025 10:33 am

Im Urteil 6B_1339/2023 vom 4. April 2025 aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit dem verbreiteten Thema des Rückzugs der Berufung durch Säumnis («Rückzugsfiktion»). Zunächst erläuterte das Bundesgericht das Thema in fast lehrbuchartiger Art und Weise (E.1.2.1 ff.). Anschliessend hiess es die Beschwerde gut, u.a. wie folgt: Die Berufung gilt gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO nur dann als zurückgezogen, wenn die beschuldigte Person der Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt und der Verteidiger zur Berufungsverhandlung nicht antritt und nicht bereit ist zu plädieren. Eine Verwirkung des Rechtsmittels ist nur bei einem sogenannten "Totalversäumnis", d.h. bei einem unentschuldigten Fernbleiben sowohl der beschuldigten Person als auch des Verteidigers von Gesetzes wegen vorgesehen […].» (E.1.6 a.E.). «Soweit der Beschwerdeführer sowohl für die Strafverfolgungsbehörden als auch für seinen Rechtsanwalt erreichbar blieb, kann eine darüber hinaus verweigerte Mitwirkung nicht gegen Treu und Glauben verstossen. Der Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV; Art.3 Abs. 2 lit. a StPO) gebietet ein loyales und vertrauenswürdiges Verhalten. Er verpflichtet als Grundsatz des Strafverfahrensrechts und als verfassungsrechtliches Gebot rechtsstaatlichen Handelns sowohl Behörden als auch Parteien […]. Ein solcher Verstoss läge nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die beschwerdeführende Partei nicht dafür besorgt ist, dass ihr das Verfahren betreffende, behördliche Akten - wie Vorladungen - zugestellt werden können […]. Dies war vorliegend nicht der Fall.» (E.1.7).  «Die Rüge des Beschwerdeführers ist damit begründet. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, indem sie wegen des Fernbleibens des Beschwerdeführers von der Berufungsverhandlung einen konkludenten Rückzug der Berufung annimmt und das Verfahren abschreibt. […]» (E.1.8).