Suiziddrohungen des Ehemannes: Notunterkunft für Frau stellt Opferhilfeleistung dar

Der Kanton Luzern muss im Rahmen der Opferhilfe für die Unterbringung einer Frau in einer Notunterkunft aufkommen. Die psychische Beeinträchtigung der Frau durch die wiederholten Suiziddrohungen ihres damaligen Ehemannes war hinreichend schwer, um ihre Opferstellung zu begründen. Das Bundesgericht heisst im Urteil 1C_653/2022 vom 3. Juni 2024 die Beschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Luzerner Kantonsgerichts gut. Das Bundesgericht erklärt u.a.: «Gemäss Art. 1 Abs. 1 OHG hat jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), Anspruch auf Unterstützung nach diesem Gesetz (Opferhilfe). Die Anforderungen an den Nachweis der Opfereigenschaft sind je nach dem Zeitpunkt sowie nach Art und Umfang der beanspruchten Hilfe unterschiedlich hoch. Ein Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung nach Art. 2 lit. d und e sowie Art. 19 ff. OHG besteht nur, wenn eine Straftat feststeht. Wurde kein Strafverfahren eröffnet, gilt für den Nachweis der Opfereigenschaft bei der Beurteilung einer Entschädigung bzw. Genugtuung das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 144 II 406 E. 3.1 mit Hinweisen). Damit Beratung und Soforthilfe sowie längerfristige Hilfe der Beratungsstellen im Sinne von Art. 2 lit. a und b OHG ihren Zweck erfüllen können, müssen sie rasch gewährt werden, bevor endgültig feststeht, ob ein tatbestandsmässiges und rechtswidriges Verhalten vorliegt (vgl. BGE 125 II 265 E. 2c/aa mit Hinweisen; ferner BGE 143 IV 154 E. 2.3.3). Bei der Gewährung der Soforthilfe genügt es daher, wenn eine die Opferstellung begründende Straftat in Betracht fällt. Der zu erfüllende Beweisgrad ist jener des Glaubhaftmachens (Urteil 1C_254/2023 vom 14. Dezember 2023 E. 3.3 mit Hinweis). Glaubhaft gemacht ist eine Straftat dann, wenn für ihr Vorhandensein aufgrund objektiver Anhaltspunkte eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, selbst wenn das Gericht noch mit der Möglichkeit rechnet, dass sie sich nicht verwirklicht haben könnte (vgl. BGE 144 II 65 E. 4.2.2; Urteil 1C_254/2023 vom 14. Dezember 2023 E. 3.3; je mit Hinweis).» (E.4.1).

Sachverhalt und Instanzenzug

Die Frau wollte sich 2021 von ihrem damaligen Ehemann trennen. Dadurch kam es zu erheblichen Konflikten, in deren Rahmen der Ehemann mehrfach mit Suizid drohte. Nach dem dritten solchen Vorfall flüchtete die Frau mit den beiden Kindern in eine vom Frauenhaus Luzern vermittelte Notunterkunft. Die Opferberatungsstelle bei der Dienststelle für Soziales und Gesellschaft (DISG) des Kantons Luzern lehnte die Kostenübernahme ab, was vom Kantonsgericht bestätigt wurde.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1C_653/2022 vom 3. Juni 2024

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Frau gut und stellt fest, dass ihr die beantragte Soforthilfe gemäss Opferhilfegesetz (OHG) zu Unrecht verweigert worden ist. Die Beschwerdeführerin erfüllt die Opfereigenschaft gemäss OHG. Für eine dringliche Leistung wie die Soforthilfe genügt es, wenn eine Straftat und die weiteren Anspruchsvoraussetzungen glaubhaft gemacht werden können. Die wiederholten und systematischen Nötigungshandlungen des Ehemannes in Form der Suiziddrohungen über einen gewissen Zeitraum hinweg waren geeignet und ursächlich, um bei der Beschwerdeführerin eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung ihrer psychischen Integrität zu bewirken. Ihre Betroffenheit erreichte eine Intensität, die zur Annahme der Opferstellung ausreicht. Bei der Besorgung einer Notunterkunft handelt es sich um eine im OHG besonders erwähnte Kategorie der Soforthilfe. Der Gesetzgeber wollte damit Frauenhäuser fördern und finanziell unterstützen. Vorliegend bestehen ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Flucht in die Notunterkunft und die Schaffung einer räumlichen Distanz in der akuten Krisensituation notwendig war. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz ändert daran nichts, dass die Beschwerdeführerin nicht auch Opfer von körperlicher Gewalt geworden ist. Die Massnahme erweist sich auch als geeignet und angemessen. Die DISG wird nun die Kosten für die Notunterkunft prüfen und die beanspruchte Soforthilfe gewähren müssen.

Schlüsselausführungen des Bundesgerichts im Detail

Die Beschwerdeführerin rügt vor Bundesgericht, die Vorinstanz habe die hinreichende Schwere der Integritätsverletzung zu Unrecht verneint (E.4).

Das Bundesgericht äussert sich generell-abstrakt im Urteil 1C_653/2022 vom 3. Juni 2024 zunächst wie folgt:

«Gemäss Art. 1 Abs. 1 OHG hat jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), Anspruch auf Unterstützung nach diesem Gesetz (Opferhilfe). Die Anforderungen an den Nachweis der Opfereigenschaft sind je nach dem Zeitpunkt sowie nach Art und Umfang der beanspruchten Hilfe unterschiedlich hoch. Ein Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung nach Art. 2 lit. d und e sowie Art. 19 ff. OHG besteht nur, wenn eine Straftat feststeht. Wurde kein Strafverfahren eröffnet, gilt für den Nachweis der Opfereigenschaft bei der Beurteilung einer Entschädigung bzw. Genugtuung das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 144 II 406 E. 3.1 mit Hinweisen). Damit Beratung und Soforthilfe sowie längerfristige Hilfe der Beratungsstellen im Sinne von Art. 2 lit. a und b OHG ihren Zweck erfüllen können, müssen sie rasch gewährt werden, bevor endgültig feststeht, ob ein tatbestandsmässiges und rechtswidriges Verhalten vorliegt (vgl. BGE 125 II 265 E. 2c/aa mit Hinweisen; ferner BGE 143 IV 154 E. 2.3.3). Bei der Gewährung der Soforthilfe genügt es daher, wenn eine die Opferstellung begründende Straftat in Betracht fällt. Der zu erfüllende Beweisgrad ist jener des Glaubhaftmachens (Urteil 1C_254/2023 vom 14. Dezember 2023 E. 3.3 mit Hinweis). Glaubhaft gemacht ist eine Straftat dann, wenn für ihr Vorhandensein aufgrund objektiver Anhaltspunkte eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, selbst wenn das Gericht noch mit der Möglichkeit rechnet, dass sie sich nicht verwirklicht haben könnte (vgl. BGE 144 II 65 E. 4.2.2; Urteil 1C_254/2023 vom 14. Dezember 2023 E. 3.3; je mit Hinweis).» (E.4.1).

«Eine Nötigung gemäss Art. 181 StGB stellt eine Straftat dar, welche die psychische Integrität einer betroffenen Person unmittelbar beeinträchtigen kann (vgl. Urteil 6B_492/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 1.2.3). Nach der Rechtsprechung muss die Beeinträchtigung von einer gewissen Intensität sein. Es genügt nicht jede geringfügige Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens; nur kurzfristige, den Moment der Tat nicht überdauernde psychische Beeinträchtigungen (wie z. B. Angst, Schrecken, Ärger oder Unannehmlichkeiten) vermögen die Opferstellung nicht zu begründen (vgl. BGE 129 IV 216 E. 1.2.1; 120 Ia 157 E. 2d/aa; Bundesamt für Justiz (BJ), Leitfaden zur Bemessung der Genugtuung nach Opferhilfegesetz vom 3. Oktober 2019, S. 5 und 16; MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 13 zu Art. 116 StPO). Entscheidend ist nicht die Schwere der Straftat, sondern der Grad der Betroffenheit der geschädigten Person, weshalb auch eine blosse Tätlichkeit die Opferstellung begründen kann, wenn sie zu einer nicht unerheblichen psychischen Beeinträchtigung führt (BGE 131 I 455 E. 1.2.2; 128 I 218 E. 1.2; 125 II 265 E. 2a/aa). Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, bestimmt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles (BGE 120 Ia 157 E. 2d/aa mit Hinweisen). Massgebend ist, ob die Beeinträchtigung der geschädigten Person in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität das legitime Bedürfnis begründet, die Hilfsangebote und die Schutzrechte des Opferhilfegesetzes – ganz oder zumindest teilweise – in Anspruch zu nehmen (BGE 134 II 308 E. 5.5; 131 I 455 E. 1.2.2; 128 I 218 E. 1.2; je mit Hinweisen).» (E.4.2).

Weiter äussert sich das Bundesgericht im Urteil 1C_653/2022 vom 3. Juni 2024 zum Fall wie folgt:

«Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass nicht nachvollziehbar ist, wie die Vorinstanz gestützt auf die vorliegenden Akten zum Schluss kommen konnte, es sei keine hinreichend erhebliche Beeinträchtigung der psychischen Integrität zum Zeitpunkt des Eintritts in die Notunterkunft glaubhaft gemacht worden. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung hält somit nicht vor dem Willkürverbot stand (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG; E. 2.2 hiervor).» (E.4.3.5).

«Es ist der Beschwerdeführerin darin zuzustimmen, dass die wiederholten Nötigungen als Ganzes zu beurteilen sind, welche – zumindest gesamthaft betrachtet – geeignet erscheinen, nicht unerhebliche Auswirkungen auf ihre psychische Integrität zu haben. Dabei ist unerheblich, dass die beiden ersten Nötigungshandlungen nicht zur räumlichen Trennung bzw. vorübergehenden Haushaltsaufhebung geführt haben. Das Argument der Vorinstanz, wonach die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt des dritten Vorfalls bereits in psychologischer Behandlung gewesen sei, was darauf hindeute, dass die psychische Verletzung schon früher erfolgt sei und gegebenenfalls angedauert habe, verfängt daher nicht. So kann nicht isoliert auf den dritten Vorfall mit Suiziddrohung abgestellt werden, sondern die nötigenden Handlungen sind im Sinne einer Gesamtbetrachtung zusammen zu berücksichtigen. Der genaue Zeitpunkt des ersten Vorfalls ist zwar nicht bekannt. Da der zweite Vorfall im Mai 2021 erfolgte und damit der Beginn der psychologischen Behandlung bei Dr. med. F. etwa in den fraglichen Zeitraum fiel, ist immerhin glaubhaft, dass die Nötigungshandlungen zumindest teilursächlich für die Integritätsverletzung waren.» (E.5.3).

«Nach Art. 13 Abs. 1 OHG leisten die Beratungsstellen dem Opfer und seinen Angehörigen sofort Hilfe für die dringenden Bedürfnisse, die als Folge der Straftat entstehen (Soforthilfe). Gemäss Art. 14 Abs. 1 OHG umfassen die Leistungen die angemessene medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe in der Schweiz, die als Folge der Straftat notwendig geworden ist. Die Beratungsstellen besorgen dem Opfer oder seinen Angehörigen bei Bedarf eine Notunterkunft.» (E.6.1).

«Damit erweist sich die Beweiswürdigung der Vorinstanz auch in diesem Zusammenhang als willkürlich, indem sie es nicht als glaubhaft erachtet hat, dass als Folge der Straftat dringender Handlungsbedarf bestand und die Notunterkunft damit in der vorliegenden Situation notwendig, geeignet und angemessen war.» (E.6.6).

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