Rückzugsfiktion bei Einsprache gegen Strafbefehl und Aufgabe der Verteidigung

Im Urteil 6B_63/2023 vom 10. März 2023 aus dem Kanton Aargau befasste sich das Bundesgericht mit einer Einsprache gegen einen SVG-Strafbefehl und dem unentschuldigten Nichterscheinen des Beschuldigten bei der Berufungsverhandlung. Das Bundesgericht erklärte, dass es der Verteidigung obliegt, das Nichterscheinen zu begründen um die Anwendung der Rückzugsfiktion der Einsprache allenfalls zu verhindern: «Erscheint nur die Verteidigung zur Verhandlung, darf diese an der Verhandlung dennoch teilnehmen und insbesondere darlegen, weshalb die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO trotz Abwesenheit der beschuldigten Person nicht zum Tragen kommen soll. Die Verteidigung ist an der Verhandlung daher insbesondere zu den Gründen für die Abwesenheit anzuhören, wobei sie ein entschuldigtes Fernbleiben der beschuldigten Person geltend machen und begründen kann.» (E.1.3). Im vorliegenden Fall ist dies nicht gelungen.

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau erliess am 27. April 2021 einen Strafbefehl gegen A. wegen Führens eines Motorfahrzeugs ohne Versicherungsschutz, Inverkehrbringens eines Fahrzeugs ohne Kontrollschilder und Nichtmitführens des Führerausweises. Sie belegte ihn mit einer unbedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu Fr. 160.– und einer Busse von Fr. 80.–. A. erhob Einsprache gegen diesen Strafbefehl.

Die Staatsanwaltschaft kündigte A. am 20. September 2021 schriftlich an, sie werde einen neuen Strafbefehl erlassen. Am 10. Januar 2022 erging der neue Strafbefehl wegen Führens eines Motorfahrzeugs ohne Versicherungsschutz und Inverkehrbringens eines Fahrzeugs ohne Kontrollschilder. Die Staatsanwaltschaft sprach nun eine unbedingte Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu Fr. 160.– und eine Busse von Fr. 140.– aus. A. erhob auch gegen diesen Strafbefehl Einsprache.

Am 31. Januar 2022 überwies die Staatsanwaltschaft den Strafbefehl samt Akten dem Bezirksgericht Lenzburg zur Durchführung des Hauptverfahrens.

Instanzenzug

Die Präsidentin des Bezirksgerichts lud A. mit Beweisverfügung vom 30. März 2022 zur Hauptverhandlung vom 20. Juni 2022, 14.00 Uhr, vor. A. teilte der Präsidentin am 24. Mai 2022 mit, dass er zu seinen finanziellen Verhältnissen von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen und auch keine Unterlagen einreichen werde. Mit Eingabe vom 10. Juni 2022 beantragte er eine Verschiebung der Hauptverhandlung, wobei er ein Arztzeugnis einreichte, welches ihm eine Verhandlungsunfähigkeit bis zum 30. Juni 2022 bescheinigte. Am 14. Juni 2022 sagte die Präsidentin die Hauptverhandlung ab und stellte eine spätere Vorladung in Aussicht. Am 17. Juni 2022 reichte A. der Präsidentin ein weiteres Arztzeugnis über eine Verhandlungsunfähigkeit bis zum 30. August 2022 ein.

Am 8. August 2022 lud die Präsidentin A. auf den 5. Oktober 2022, 8.30 Uhr, vor. Diese Vorladung wurde am 11. August 2022 ihm persönlich und am 8. August 2022 seinem Verteidiger zugestellt. Der Verteidiger teilte der Präsidentin am 16. September 2022 mit, dass sich A. seiner Kenntnis nach im Ausland befinde und zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch nicht zurückgekehrt sein werde. Er beantrage daher, dass A. von der Hauptverhandlung dispensiert werde. Dieses Dispensationsgesuch wies die Präsidentin am 22. September 2022 ab. A. blieb der Hauptverhandlung fern. Die Präsidentin eröffnete die Hauptverhandlung um 8.45 Uhr, befragte den Verteidiger zum Fernbleiben von A., entliess den vorgeladenen Zeugen, unterbrach die Hauptverhandlung zur Beratung, stellte das unentschuldigte Fernbleiben von A. sowie die Rechtskraft des Strafbefehls fest und erklärte die Verhandlung für geschlossen.

Mit Verfügung vom gleichen Tag schrieb die Präsidentin in Bestätigung ihres mündlich eröffneten Entscheids das Hauptverfahren als durch Rückzug der Einsprache erledigt ab, stellte die Rechtskraft des Strafbefehls fest und auferlegte A. die Gerichtskosten von Fr. 543.10.

Die dagegen gerichtete Beschwerde von A. wies das Obergericht des Kantons Aargau am 6. Dezember 2022 ab und auferlegte ihm die Gerichtskosten von Fr. 1’062.–.

Urteil 6B_63/2023 des Bundesgerichts vom 10. März 2023

Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht, die Vorinstanzen hätten zu Unrecht angenommen, dass seine Einsprache als zurückgezogen zu gelten habe. (E.1).

Die beschuldigte Person kann gegen einen Strafbefehl Einsprache erheben (Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO), bemerkt das Bundesgericht einleitend.. Entschliesst sich die Staatsanwaltschaft, am Strafbefehl festzuhalten, hat das erstinstanzliche Gericht eine Hauptverhandlung durchzuführen (Art. 356 Abs. 1 und 2 StPO). Bleibt die Einsprache erhebende Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fern und lässt sie sich auch nicht vertreten, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen (Art. 356 Abs. 4 StPO), erklärt das Bundesgericht (E.1.1).

Zur Rückzugsfiktion

Das Bundesgericht fährt bezüglich der Rückzugsfiktion im Urteil 6B_63/2023 vom 10. März 2023 fort:

«Die beschuldigte Person hat an der Hauptverhandlung persönlich teilzunehmen, wenn Verbrechen oder Vergehen behandelt werden oder die Verfahrensleitung ihre persönliche Teilnahme anordnet (Art. 336 Abs. 1 lit. a und b StPO). Die Verfahrensleitung kann die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen dispensieren, wenn diese wichtige Gründe geltend macht und wenn ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist (Art. 336 Abs. 3 StPO). Hat die Verfahrensleitung die beschuldigte Person zum persönlichen Erscheinen verpflichtet, gilt die Rückzugsfiktion nach der Rechtsprechung entgegen dem Wortlaut von Art. 356 Abs. 4 StPO auch, wenn die Einsprache erhebende beschuldigte Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibt und lediglich ihre Verteidigung zur Verhandlung erscheint (Urteile 6B_1456/2021 vom 7. November 2022 E. 2.1; 6B_463/2021 vom 2. November 2022 E. 3.3.2; 6B_667/2021 vom 4. Juli 2022 E. 2.1; 6B_368/2021 vom 25. Februar 2022 E. 1.1; 6B_144/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.2; 6B_1201/2018 vom 15. Oktober 2019 E. 4.3.1 und 4.4.2; 6B_1298/2018 vom 21. März 2019 E. 3.1, nicht publiziert in BGE 145 I 201; 6B_7/2017 vom 5. Mai 2017 E. 1.4 f.; je mit Hinweisen). Voraussetzung ist jedoch, dass die beschuldigte Person effektiv Kenntnis von der Verhandlung und der Pflicht zum persönlichen Erscheinen hat und dass sie hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihr verständlichen Weise belehrt wurde. Die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO kommt nur zum Tragen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (BGE 146 IV 286 E. 2.2; 146 IV 30 E. 1.1.1; 142 IV 158 E. 3.1 und E. 3.3; 140 IV 82 E. 2.3 und E. 2.5).» (E.1.2)

Weiter erklärt das Bundesgericht im Urteil 6B_63/2023 vom 10. März 2023, dass die Verteidigung das Fernbleiben des Beschuldigten erklären muss:

«Erscheint nur die Verteidigung zur Verhandlung, darf diese an der Verhandlung dennoch teilnehmen und insbesondere darlegen, weshalb die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO trotz Abwesenheit der beschuldigten Person nicht zum Tragen kommen soll (BGE 145 I 201 E. 4.1). Die Verteidigung ist an der Verhandlung daher insbesondere zu den Gründen für die Abwesenheit anzuhören, wobei sie ein entschuldigtes Fernbleiben der beschuldigten Person geltend machen und begründen kann (Urteile 6B_463/2021 vom 2. November 2022 E. 3.3.2; 6B_368/2021 vom 25. Februar 2022 E. 1.1; 6B_144/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.3).» (E.1.3).

Die Vorinstanz legt gemäss dem Bundesgericht schlüssig dar, dass die Erstinstanz keine Veranlassung hatte, den Beschwerdeführer gestützt auf die Ausführungen seines Verteidigers zu dispensieren. Dass der Verteidiger überhaupt ein Dispensationsgesuch gestellt hätte, lasse sich dem Protokoll der Hauptverhandlung nicht entnehmen. Solches gehe auch nicht hinreichend aus der Beschwerdeschrift hervor. Der Verteidiger deute nur an, dass die Hauptverhandlung ohne den Beschwerdeführer hätte durchgeführt und dessen Befragung allenfalls hätte verschoben werden können. Als Eventualbegründung führt die Vorinstanz an, wie das Bundesgericht fortfährt, dass ein allfälliges Dispensationsgesuch ohnehin unbegründet gewesen wäre. Denn die Ausführungen des Beschwerdeführers an der Hauptverhandlung seien nicht entscheidend über das hinausgegangen, was er bereits im abgewiesenen Dispensationsgesuch vom 16. September 2022 vorgebracht hatte. An der Hauptverhandlung habe er nur ergänzt, der angebliche Auslandaufenthalt sei aus psychischen Gründen notwendig gewesen. Weshalb die Erstinstanz allein wegen dieser unbelegten und unspezifischen Behauptung auf ihre Verfügung vom 22. September 2022 hätte zurückkommen müssen, ist gemäss Bundesgericht nicht einsichtig. Denn sie hatte bereits das Dispensationsgesuch vom 16. September 2022 mangels jeglichen Beleges für den behaupteten Auslandsaufenthalt abgewiesen.  (E.1.5).

Gemäss dem Bundesgericht brachte die Vorinstanz die Rückzugsfiktion zu Recht zur Anwendung, und war aus den folgenden Gründen: «Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, brachte die Erstinstanz die Rückzugsfiktion zu Recht zur Anwendung. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer wollte, dass der Strafbefehl vom 10. Januar 2022 aufgehoben wird. Massgebend ist nur, ob er erkennbar die Bereitschaft zeigte, dieses von ihm mit Einsprache angestrengte Ziel im Einklang mit dem Strafprozessrecht zu erreichen. Die Vorinstanzen schlossen aus seinem Verhalten, dass dies nicht der Fall war. Der Beschwerdeführer setzte sich über die Abweisung seines unbelegten Dispensationsgesuchs einfach hinweg, indem er der Hauptverhandlung unentschuldigt fernblieb. Er tat dies, obwohl er umfassend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens orientiert war. Nun macht er geltend, dass ihm die angedrohte Rechtsfolge nicht entgegen gehalten werden dürfe. Damit verhält er sich treuwidrig.» (E.1.6).

Obiter dictum zur AEMR

Der Beschwerdeführer rügt gemäss Bundesgericht im Urteil 6B_63/2023 vom 10. März 2023 weiter, die Vorinstanz habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und das Willkürverbot verletzt. Doch legt er dies nicht im Ansatz dar. Im Wesentlichen zitiert er bloss Art. 14 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (SR 0.103.2) und nennt die offensichtlich nicht einschlägigen „Art. 8 EMRK“ und „Art. 10 EMRK“. Damit meint er wohl, wie das Bundesgericht bemerkt, die entsprechenden Artikel aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 (AEMR). Abgesehen davon, dass der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer die Rügeanforderungen deutlich verfehlt, übersieht er, dass die AEMR nur eine rechtlich nicht bindende Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist, die keine subjektiv anrufbaren Rechte verschafft (BGE 124 III 205 E. 3a; vgl. jüngst Urteile 2C_508/2022 vom 16. Februar 2023 E. 4.1; 1C_491/2021 vom 17. Februar 2022 E. 3.1; 1C_224/2021 vom 28. Oktober 2021 E. 5; je mit Hinweisen).  (E.1.7).

 

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