Sachverhalt
Am Morgen des 11. Juli 2019 wurde der Gefangene B. von der JVA U. in eine andere JVA verlegt. A. war als Mitglied eines Teams von sechs Vollzugsangestellten damit beauftragt, ihn an die im Erdgeschoss wartende Kantonspolizei Aargau zu überbringen. Im Zuge dieser Überbringung spuckte der Gefangene im Gang auf A. Danach nahm B. im Zwischenraum eine Kampfstellung ein und versuchte, mit zwei Faustschlägen auf A. einzuwirken. Aufgrund des aggressiven Verhaltens des Gefangenen intervenierten die sechs Vollzugsangestellten geschlossen mit körperlichem Zwang und brachten den um sich schlagenden B. mit grossem Einsatz zu Boden. Um weiteres Anspucken zu verhindern wurde ihm eine Spuckhaube über den Kopf gestülpt.
Dem A. wird gemäss Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau vom 10. September 2020 vorgeworfen, während dieser Intervention dem am Boden liegenden und sich heftig gegen die Arretierung wehrenden B. zwei Tritte gegen den Körper versetzt zu haben. Weil sich der auf dem Rücken liegende Gefangene trotz Aufforderung nicht auf den Bauch gedreht habe, habe ihm einer der anderen Vollzugsangestellten den Einsatz eines Destabilisierungsgeräts angedroht und dieses nach weiterer Gegenwehr kurz in den linken Schulter-/Rückenbereich von B. eingesetzt. Unmittelbar danach habe der neben dem Kopf des Gefangenen kniende A. mit seinem linken Arm ausgeholt und mit seiner linken Faust gegen dessen Kopf geschlagen. Nach erfolgtem Einsatz des Destabilisierungsgeräts hätten die Vollzugsangestellten B. in die Bauchlage gedreht. Dessen von der Spuckhaube bedeckte Kopf sei zur rechten Seite gedreht gewesen, sodass die rechte Gesichtshälfte nach oben gezeigt habe. A., der weiterhin direkt neben dem Kopf des Gefangenen gekniet habe, habe diesem mit einem Finger in dessen rechtes Auge gedrückt, wodurch B. einen Bluterguss am Augapfel erlitten und Schmerzen verspürt habe. Hernach hätten die Vollzugsangestellten den in Bauchlage liegenden Gefangenen mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt und seine Beine fixiert. Obwohl B. nunmehr reglos sowie widerstandsunfähig gewesen sei, habe der neben ihm kniende A. mit dem linken Arm erneut kurz ausgeholt und mit der linken Faust gegen dessen Gesicht geschlagen. Wegen der Spuckhaube habe B. den Faustschlag nicht gesehen und ihm deshalb auch nicht ausweichen können, was A. bewusst gewesen sei. Durch den Faustschlag habe B. eine schmerzhafte Prellung an seiner Nase erlitten. Obwohl die Intervention der Vollzugsangestellten aufgrund des Verhaltens des Gefangenen erfolgt sei, habe für diese physischen Gewalteinwirkungen auf B. keine Notwendigkeit bestanden. A. habe die ihm aufgrund seiner Stellung als Vollzugsangestellter zukommende Amtsgewalt gewollt ausgenutzt, um dem Gefangenen durch die übermässigen Gewalteinwirkungen zusätzliche Schmerzen zu bereiten. Dabei sei A. bewusst gewesen, dass er die ihm obliegenden Pflichten als Vollzugsangestellter verletze.
Instanzenzug
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau sprach A. mit Strafbefehl vom 10. September 2020 des Amtsmissbrauchs und der einfachen Körperverletzung schuldig. Sie bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu Fr. 210.– und mit einer Busse von Fr. 4’200.–. Die Zivilforderung in der Höhe von Fr. 1’000.– verwies die Staatsanwaltschaft auf den Zivilweg.
Nach erfolgter Einsprache und Überweisung der Angelegenheit an das Bezirksgericht Lenzburg sprach dieses A. am 13. Juli 2021 von den Vorwürfen der einfachen Körperverletzung und des Amtsmissbrauchs in Bezug auf das Drücken des Fingers ins Auge sowie den zweiten Faustschlag frei. Es erklärte ihn aber des Amtsmissbrauchs (betreffend die zwei Fusstritte und den ersten Faustschlag) schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 210.–, bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 4’700.–. Die Genugtuungsansprüche von B. verwies das Bezirksgericht auf den Zivilweg. Gegen diesen Entscheid erhoben A. und B. Berufung, die Staatsanwaltschaft erklärte Anschlussberufung.
Das Obergericht des Kantons Aargau sprach A. mit Urteil vom 13. September 2022 lediglich von den Vorwürfen der einfachen Körperverletzung und des Amtsmissbrauchs in Bezug auf das Drücken des Fingers ins Auge frei. Es sprach ihn des Amtsmissbrauchs (in Bezug auf die zwei Fusstritte und den ersten sowie den zweiten Faustschlag) schuldig und bestätigte im Strafpunkt das bezirksgerichtliche Urteil. Ferner verpflichtete ihn das Obergericht, B. eine Genugtuung von Fr. 1’000.–, inkl. Zins von 5 % seit dem 11. Juli 2019, auszurichten.
Weiterzug an das Bundesgericht
Der A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Dispositivziffern 2-7 des Urteils des Obergerichts des Kantons Aargau vom 13. September 2022 seien aufzuheben. Er sei vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs freizusprechen. Die Zivilforderungen von B. seien auf den Zivilweg zu verweisen. Eventualiter sei die Sache zum neuen Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1298/2022 vom 10. Juli 2023
Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht eine Verletzung von Art. 197 Abs. 1 StPO. Zusammengefasst durch das Bundesgericht macht er geltend, die Vorinstanz stütze sich zur Sachverhaltserstellung im Wesentlichen auf eine Videoaufnahme der JVA U., auf welcher der angeklagte Vorfall ersichtlich sei. Da es sich bei der JVA U. um eine vom Kanton betriebene öffentliche Einrichtung handle, hätte die Staatsanwaltschaft diese Videoaufzeichnung auf dem Weg der nationalen Rechtshilfe nach Art. 43 ff. StPO erhältlich machen müssen. Die Vorschriften über die Durchsuchung von Aufzeichnungen (Art. 246 StPO) sowie über die Hausdurchsuchung (Art. 244 StPO) seien gerade nicht anwendbar, wenn es um Räumlichkeiten und Aufzeichnung von öffentlichen Einrichtungen gehe. Es fehle damit an einer gesetzlichen Grundlage für die hier angeordneten Zwangsmassnahmen. Der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl vom 30. September 2019 und die auf dessen Grundlage erfolgte Hausdurchsuchung seien somit in Verletzung von Art. 197 Abs. 1 StPO ergangen. Es sei daher zu prüfen, ob die Videoaufzeichnung im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich sei (Beschwerde S. 3-6). Im Weiteren bringt der Beschwerdeführer vor Bundesgericht vor, unter Berücksichtigung der nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung heranzuziehenden Kriterien könne im konkreten Fall nicht von einer schweren Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO gesprochen werden. Die fragliche Videoaufzeichnung sei daher nicht verwertbar. Da sich der Sachverhalt ohne dieses Video nicht erstellen lasse, sei er freizusprechen. (E.1.1)
Die Vorinstanz hält fest, die JVA U. sei eine vom Kanton Aargau betriebene Justizvollzugsanstalt und damit eine öffentliche Behörde. Im Sinne von Art. 43 ff. StPO wäre es der Staatsanwaltschaft möglich gewesen, die Videoaufzeichnungen vom 11. Juli 2019 über die nationale Rechtshilfe zu erlangen, nachdem diese als potentielle Beweismittel in Betracht gekommen seien. Zu berücksichtigen sei allerdings, dass im konkreten Fall innerhalb der Anstellungsbehörde eine Beweismittelvernichtung durch involvierte Mitarbeitende oder loyale Kollegen gedroht habe. Gegen solche möglichen Gefahren biete das Rechtshilfeverfahren keine adäquate Handhabe. Wäre die Herausgabe des ersuchten potentiellen Beweismittels im Rahmen eines Rechtshilfegesuchs verweigert worden, hätte die Anrufung einer Gerichtsinstanz (vgl. Art. 48 Abs. 1 StPO) eine zwischenzeitliche Beweismittelvernichtung nicht abwenden können. Mithin sei die Anwendung von Zwangsmassnahmen durch die Staatsanwaltschaft gemäss der Vorinstanz vorliegend gerechtfertigt gewesen. Aufgrund der nicht von vornherein von der Hand zu weisenden Gefahr einer möglichen Beweismittelvernichtung sei ein schnelles Handeln nötig gewesen. Mittels Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl vom 30. September 2019 sei die Staatsanwaltschaft ohne zeitliche Verzögerung an die Videoaufzeichnungen gelangt. Diese seien verwertbar. Die Vorinstanz erwägt weiter, wie das Bundesgericht darstellt, im Übrigen seien unrechtmässig erlangte Beweismittel nicht in jedem Fall unverwertbar. Nach Art. 141 Abs. 2 StPO dürften Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Konkret sei im vorliegenden Strafverfahren u.a. der Vorwurf des Amtsmissbrauchs zu prüfen. Dieser Tatbestand schütze einerseits das Rechtsgut des Interesses des Staats an einer pflichtgemässen und zuverlässigen Amtsführung sowie andererseits das Interesse der Bürger am Schutz vor Missbrauch der Staatsmacht. Das gewichtete Rechtsgut betreffe damit vorliegend das öffentliche Interesse an der Aufklärung eines allfälligen Fehlverhaltens eines Vollzugsangestellten und somit auch den ordnungsgemässen Ablauf in einer Vollzugsanstalt. Der Beschwerdeführer habe auf einen Gefangenen eingewirkt, obwohl dieser bereits arretiert worden sei und keine unmittelbare Gefahr mehr dargestellt habe. Gerade weil dem Beschwerdeführer das drohende aggressive Verhalten des Beschwerdegegners bekannt gewesen und entsprechend eine ganze Gruppe von Polizeikräften [recte: Vollzugsangestellten] im Einsatz gewesen sei, habe er sich vorbereiten können und habe absolut kein Grund dafür bestanden, Gewalt gegen den Beschwerdegegner anzuwenden. Gesamthaft betrachtet überwiege das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das Interesse des Beschwerdeführers an der Unverwertbarkeit der Videoaufzeichnung bei weitem. Gerade in Bezug auf den angeklagten Amtsmissbrauch sei von einer schweren Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO auszugehen (E.1.2).
Strafprozussuale Zwangsmassnahmen
Das Bundesgericht führt zum Thema Zwangsmassnehmen generell-abstrakt Folgendes aus:
«Verfahrenshandlungen der Strafbehörden, die dazu dienen, Beweise zu sichern, und mit denen in die Grundrechte der Betroffenen eingegriffen wird, sind als strafprozessuale Zwangsmassnahmen zu qualifizieren (Art. 196 lit. a StPO). Sie können nur ergriffen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind (Art. 197 Abs. 1 lit. a StPO). Zwangsmassnahmen setzen auch voraus, dass ein hinreichender Tatverdacht einer Straftat vorliegt (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO) und der damit verbundene Eingriff verhältnismässig erscheint (Art. 197 Abs. 1 lit. c-d und Abs. 2 StPO).
Nach Art. 246 StPO dürfen Schriftstücke, Ton-, Bild- und andere Aufzeichnungen, Datenträger sowie Anlagen zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass sich darin Informationen befinden, die der Beschlagnahme unterliegen. Von einer Durchsuchung von Aufzeichnungen im Sinne von Art. 246 StPO wird gemäss Rechtsprechung gesprochen, wenn die Schriftstücke oder Datenträger im Hinblick auf ihren Inhalt oder ihre Beschaffenheit durchgelesen bzw. besichtigt werden, um ihre Beweiseignung festzustellen, sie allenfalls zu beschlagnahmen und zu den Akten zu nehmen (BGE 144 IV 74 E. 2.1; 143 IV 270 E. 4.4). Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, sind zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden (Art. 248 Abs. 1 StPO). Stellt die Untersuchungsbehörde im Vorverfahren ein Entsiegelungsgesuch, hat das Zwangsmassnahmengericht im Entsiegelungsverfahren auf entsprechende substanziierte Vorbringen von Siegelungsberechtigten hin zu prüfen, ob schutzwürdige Geheimnisinteressen oder andere gesetzliche Entsiegelungshindernisse einer Durchsuchung entgegenstehen (Art. 248 Abs. 2-4 StPO; vgl. BGE 144 IV 74 E. 2.2; 141 IV 77 E. 4.1). Die Möglichkeit, Siegelung zu verlangen, besteht grundsätzlich bei jeglicher Form der Durchsuchung. Insbesondere kann sich auch diejenige Person auf Art. 248 StPO berufen, die Aufzeichnungen infolge einer Editionsaufforderung freiwillig herausgegeben hat (BGE 140 IV 28 E. 3.4 mit Hinweis).» (E.1.3.1)
Nationale Rechtshilfe gemäss Art. 43 ff. StPO
Zum Thema der Rechtshilfe äussert sich das Bundesgericht im Urteil 6B_1298/2022 vom 10. Juli 2023 wie folgt:
«Die Bestimmungen des 4. Kapitels „Nationale Rechtshilfe“ regeln nach Art. 43 Abs. 1 StPO die Rechtshilfe in Strafsachen von Behörden des Bundes und der Kantone zugunsten der Staatsanwaltschaften, Übertretungsstrafbehörden und Gerichte des Bundes und der Kantone. Als Rechtshilfe gilt dabei jede Massnahme, um die eine kantonale oder eidgenössische Behörde die andere im Rahmen ihrer Zuständigkeit in einem hängigen Strafverfahren ersucht (vgl. Art. 43 Abs. 4 StPO; Urteil 1B_231/2015 vom 15. März 2016 E. 4). Zur Rechtshilfe gehört auch der Beizug von Akten anderer Verfahren von Verwaltungs- und/oder Gerichtsbehörden (Art. 194 StPO) sowie das Einholen von amtlichen Berichten und Auskünften (Art. 195 StPO). Nach Art. 194 Abs. 1 StPO ziehen die Staatsanwaltschaft und die Gerichte Akten anderer Verfahren bei, wenn dies für den Nachweis des Sachverhalts oder die Beurteilung der beschuldigten Person erforderlich ist. Verwaltungs- und Gerichtsbehörden stellen ihre Akten zur Einsichtnahme zur Verfügung, wenn der Herausgabe keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Geheimhaltungsinteressen entgegenstehen (Art. 194 Abs. 2 StPO). Diesbezügliche Konflikte zwischen Behörden des gleichen Kantons entscheidet die Beschwerdeinstanz des jeweiligen Kantons (siehe Art. 194 Abs. 3 StPO). Gemäss Art. 44 StPO sind die Behörden des Bundes und der Kantone zur Rechtshilfe verpflichtet, wenn Straftaten nach Bundesrecht in Anwendung dieses Gesetzes verfolgt und beurteilt werden. Die Rechtshilfeverpflichtung trifft nicht nur die Strafbehörden des Bundes und der Kantone (eingeschlossen die der Gemeinden), sondern alle Behörden (HORST SCHMITT, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 44 StPO mit Beispielen aus der Rechtsprechung; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1144 Ziff. 2.2.4.1). Grundsätzlich ist die Rechtshilfe vorbehaltlos zu gewähren (BGE 129 IV 141 E. 3.2.1, publ. in: Pra 92 (2003) Nr. 185; 123 IV 157 E. 4a; STEFAN HEIMGARTNER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 3. Aufl. 2020, N. 4 zu Art. 44 StPO; LAURENT MOREILLON, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 4 zu Art. 43 StPO). Die ersuchte Behörde ist nicht befugt zu prüfen, ob die verlangte Massnahme materiell begründet oder aus dem Gesichtspunkt des von der ersuchenden Behörde betriebenen Verfahrens zweckmässig und notwendig ist (BGE 129 IV 141 E. 3.2.1, publ. in: Pra 92 (2003) Nr. 185; 119 IV 86 E. 2c; 115 IV 67 E. 3b; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, Petit Commentaire, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 4 zu Art. 44 StPO; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, N. 269; ANDREAS DONATSCH, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N. 15 zu Art. 194 StPO; GUNHILD GODENZI, Strafuntersuchung gegen Mitarbeitende – was darf und was muss der öffentliche Arbeitgeber tun?, in: Jusletter vom 16. Februar 2015, Rz. 18 und Fn. 45; LAURENT MOREILLON, a.a.O., N. 4 zu Art. 43 StPO). Art. 44 StPO nennt keine Einschränkungen. Allerdings kann die ersuchte Behörde gute Gründe haben, die angefragte Rechtshilfehandlung zu verweigern, einzuschränken oder mit Auflagen zu versehen, so beispielsweise, wenn wesentliche öffentliche Interessen, offensichtlich schutzwürdige Interessen einer betroffenen Person oder die Wahrung von Geheimnissen es verlangen. Letztlich geht es immer um die Abwägung widerstreitender Interessen im Einzelfall (vgl. HORST SCHMITT, a.a.O., N. 6 zu Art. 44 StPO). In diesem Sinne hielt auch das Bundesgericht präzisierend fest, Art. 44 StPO verpflichte lediglich die Strafbehörden (des Bundes und der Kantone) zur vorbehaltlosen Zusammenarbeit, während andere Justiz- oder Verwaltungsbehörden die Möglichkeit hätten, sich auf Amtspflichten zu berufen, so beispielsweise wenn der Schutz der Privatsphäre, der Geheimhaltung oder der Daten das Interesse an der Strafverfolgung überwiege (vgl. Urteil 1B_289/2016 vom 8. Dezember 2016 E. 3.1 mit Hinweis auf MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., N. 2 zu Art. 44 StPO und N. 4 f. zu Art. 43 StPO; gl.M. NIKLAUS OBERHOLZER, a.a.O., N. 264 f.). Eine Verweigerung der Rechtshilfe muss möglich sein, wenn durch die Offenbarung von Informationen überwiegende öffentliche oder private Geheimhaltungsinteressen oder aber spezialgesetzliche Bestimmungen missachtet würden (GUNHILD GODENZI, a.a.O., Rz. 18 und Fn. 46 mit Hinweisen). Eine Weiterleitung von Informationen an die Strafbehörden muss mit all den Bestimmungen vereinbar sein, die für die ersuchte Behörde gelten (GUNHILD GODENZI, a.a.O., Rz. 21 und Fn. 50). Konflikte zwischen den Behörden sind von der nach Art. 48 StPO zuständigen Gerichtsinstanz zu lösen. Von einem Konflikt spricht man, wenn zwischen ersuchender und ersuchter Behörde Meinungsverschiedenheiten irgendwelcher Art bestehen. So etwa, wenn die ersuchte Behörde (aus welchen Gründen auch immer) ein Gesuch um Rechtshilfe ablehnt oder ihm nur teilweise nachkommt, Art und Weise der Ausführung umstritten sind oder die ersuchte Behörde die Ausführung des Begehrens als unmöglich oder unverhältnismässig erachtet (HORST SCHMITT, a.a.O., N. 3 zu Art. 48 StPO). Im Rechtshilfeverfahren stehen der ersuchenden Behörde gegenüber der ersuchten Behörde keine prozessualen Zwangsmittel zur Verfügung (BGE 129 IV 141 E. 2.2 noch zu Art. 352 und Art. 357 aStGB, publ. in: Pra 92 (2003) Nr. 185; Urteil BB.2009.82 der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts vom 14. Januar 2010, E. 1.3; HORST SCHMITT, a.a.O., N. 11 z u Art. 43 StPO und N. 5 zu Art. 48 StPO). Die Regeln über die Rechtshilfe gehen den Bestimmungen über die Beschlagnahme und Herausgabe als leges speciales vor, sodass gegenüber einer grundsätzlich zur Rechtshilfe verpflichteten Behörde weder eine Beschlagnahme durchgeführt, noch eine Editionsaufforderung erlassen werden kann (vgl. Urteile 1B_25/2023 vom 25. April 2023 E. 2.3; 1B_26/2016 vom 29. November 2016 E. 4.1; je mit Hinweisen; siehe BOMMER/GOLDSCHMID, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 265 StPO; KONRAD JEKER, forumpoenale 6/2017 S. 393; gl.M. SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Fn. 433 S. 489; JEANNERET/KUHN, in: Précis de procédure pénale, 2. Aufl. 2018, Rz. 14068 S. 380; a.M. HAUSER/ SCHWERI/HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2005, § 69 Rz. 15 f. S. 343 f., welche die Beschlagnahme von Akten im Gewahrsam einer kantonalen Amtsstelle teilweise als zulässig zu halten scheinen; STEFAN HEIMGARTNER, in: Festschrift für Andreas Donatsch, VI. Case Studies, 1. BGer vom 15.3.2016, 1B_231/2015, S. 378, der bei Kollusionsgefahr eine sofortige Sicherstellung mittels Edition und Beschlagnahme als indiziert einschätzt; GUNHILD GODENZI, a.a.O., Rz. 29 ff., die Zwangsmassnahmen als zulässig und vorteilhafter erachtet, wenn es sich bei der angefragten Behörde zugleich um die Arbeitgeberin der beschuldigten Person handle). Das einzige Mittel, mit dem eine Strafbehörde die Ausführung einer Rechtshilfemassnahme erreichen kann, besteht in der Anrufung des zuständigen Gerichts (Art. 48 StPO; HORST SCHMITT, a.a.O., N. 5 zu Art. 48 StPO), wobei mit dem Gesuch ein Antrag auf vorläufige sichernde Massnahmen verbunden werden kann (siehe BGE 129 IV 141 Sachverhalt B; HORST SCHMITT, a.a.O., N. 7 zu Art. 48 StPO).
Im sog. Tinner-Fall erwog das Bundesgericht, es handle sich nicht um einen typischen Anwendungsfall von Art. 27 BStP. Die fraglichen Unterlagen seien ursprünglich von der Bundesanwaltschaft bei den Angeschuldigten (Privatpersonen) beschlagnahmt worden und Bestandteil der Strafverfahrensakten gewesen. Die jetzt streitigen Aktenkopien seien von der Bundesanwaltschaft für die Zwecke des Strafverfahrens erstellt worden. Die Unterlagen hätten sich also nicht von vornherein beim Bundesrat befunden. Vielmehr habe dieser die Aktenherrschaft an sich gezogen, um eine Aktentriage durchzuführen. Das Bundesgericht kam zum Schluss, für die Rückerlangung der Akten stehe den Strafbehörden nur der Weg über die Rechtshilfe zur Verfügung (Urteil 1B_265/2009 vom 25. Januar 2010 E. 3.3).» (E.1.3.2)
Verwertbarkeit von Beweisen nach Art. 141 StPO
Das Bundesgericht führt zu Art. 141 StPO im Urteil 6B_1298/2022 vom 10. Juli 2023 Folgendes aus:
«Gemäss Art. 141 Abs. 1 StPO sind Beweise, die in Verletzung von Art. 140 StPO erhoben wurden, in keinem Fall verwertbar. Dasselbe gilt, wenn die StPO einen Beweis als unverwertbar bezeichnet. Nach Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Die Bestimmung beinhaltet eine Interessenabwägung. Je schwerer die zu beurteilende Straftat ist, umso eher überwiegt das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das private Interesse der beschuldigten Person daran, dass der fragliche Beweis unverwertet bleibt (BGE 147 IV 9 E. 1.4.2; 146 I 11 E. 4.2; 131 I 272 E. 4.1.2; je mit Hinweisen). Als schwere Straftaten im Sinne des Gesetzes fallen vorab Verbrechen in Betracht (BGE 147 IV 9 E. 1.3.1; 146 I 11 E. 4.2; 137 I 218 E. 2.3.5.2). Für die Frage, ob eine schwere Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO vorliegt, sind nicht generell gewisse Tatbestände und deren abstrakte Strafandrohungen, sondern die gesamten Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen (BGE 147 IV 16 E. 6; 147 IV 9 E. 1.4.2; je mit Hinweisen). Dabei kann auf Kriterien wie das geschützte Rechtsgut, das Ausmass dessen Gefährdung resp. Verletzung, die Vorgehensweise und kriminelle Energie des Täters oder das Tatmotiv abgestellt werden (BGE 147 IV 9 E. 1.4.2; Urteile 6B_563/2021 vom 22. Dezember 2022 E. 3.3.1; 6B_1439/2021 vom 28. November 2022 E. 2.3.3; je mit Hinweisen).» (E.1.3.3)
Entscheid im vorliegenden Fall
Das Bundesgericht äussert sich zum vorliegenden Fall im Urteil 6B_1298/2022 vom 10. Juli 2023 wie folgt:
«Da der Beschwerdeführer lediglich die Frage nach der Verwertbarkeit der Videoaufzeichnungen der JVA U. vom 11. Juli 2019 aufwirft, kann hier offen bleiben, wie es sich hinsichtlich der weiteren mit Durchsuchungs- und Beschlagnahmebefehl der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau vom 30. September 2019 angeforderten Dokumente (Dienstplan der JVA U, Wahrnehmungsbericht zum Vorfall vom 11. Juli 2019, Austrittsbericht vom 11. Juli 2019 sowie Medikamentenliste betr. den Beschwerdegegner) verhält (kantonale Untersuchungsakten act. 12 f.). Vorliegend besteht zu Recht Einigkeit darüber, dass es sich bei der JVA U. um eine kantonale Behörde im Sinne von Art. 44 StPO handelt (vgl. xxx). Dies hat nach dem Dargelegten zur Folge, dass die Staatsanwaltschaft weder befugt war, die JVA U. im Sinne von Art. 265 Abs. 3 StPO hoheitlich zur Herausgabe der Videoaufzeichnungen vom 11. Juli 2019 aufzufordern, noch hätte sie diese beschlagnahmen können, falls die Justizvollzugsanstalt die Videoaufnahmen nicht herausgegeben hätte. Mithin weist der Beschwerdeführer zutreffend darauf hin, dass die fraglichen Videoaufzeichnungen nicht rechtmässig beschafft wurden. Der teilweise in der Lehre geäusserten Meinung, wonach prozessuale Zwangsmittel auch gegenüber einer grundsätzlich zur nationalen Rechtshilfe verpflichteten Behörde möglich seien, wenn es sich bei dieser Behörde um die Arbeitgeberin der beschuldigten Person handle oder ganz allgemein im Falle von Kollusionsgefahr, kann nicht gefolgt werden. Die Bestimmungen über die nationale Rechtshilfe gehen in ihrem Anwendungsbereich als leges speciales zwingend den Regeln über die Beschlagnahme und Herausgabe vor. Sowohl aus Gründen der Rechtssicherheit als auch des öffentlichen Interesses an einem geordneten Verfahrensgang kann es letztlich nicht im Belieben der Strafbehörden stehen, ob sie zur Beschaffung und Sicherung von Beweismitteln im Einzelfall – beispielsweise bei eine ihrer eigenen Einschätzung nach möglichen Kollusionsgefahr oder einem Interessenkonflikt der betreffenden Behörde -, anstelle des gesetzlich vorgesehenen Wegs der Rechtshilfe, denjenigen der prozessualen Zwangsmassnahmen wählt. Folglich hätte die Staatsanwaltschaft – unabhängig von allfälligen Anhaltspunkten für eine Beweismittelvernichtung – mittels förmlichem Rechtshilfebegehren an die JVA U. gelangen müssen, um deren Videoaufzeichnungen vom 11. Juli 2019 zu beschaffen. Bei einer Weigerung der Justizvollzugsanstalt, diesem Rechtshilfeersuchen (vollständig) nachzukommen, hätte die Staatsanwaltschaft das nach Art. 48 StPO zuständige Gericht anrufen können. Dabei hätte sie einen Antrag auf vorläufige sichernde Massnahmen stellen können, bis zum Entscheid über den Konflikt hinsichtlich der Rechtshilfe sei die gegenwärtige Lage betreffend der streitigen Videoaufzeichnungen nicht zu verändern.» (E.1.4)
«Nachfolgend ist somit zu prüfen, ob die Videoaufzeichnung zur Aufklärung einer schweren Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO unerlässlich war. Der Tatbestand des Amtsmissbrauchs, welcher dem Beschwerdeführer vorgeworfen wird, ist ein Verbrechen (Art. 312 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 StGB). Er schützt einerseits das Interesse des Staates an zuverlässigen Beamten, die mit der ihnen anvertrauten Machtposition pflichtbewusst umgehen, und andererseits das Interesse der Bürger, nicht unkontrollierter und willkürlicher staatlicher Machtentfaltung ausgesetzt zu werden (BGE 127 IV 209 E. 1.b; Urteil 6B_101/2022 vom 30. Januar 2023 E. 1.3.1, zur Publ. vorgesehen). Mit der Vorinstanz ist damit von gewichtigen Rechtsgütern auszugehen. Entgegen dem Vorwurf des Beschwerdeführers nimmt diese sodann eine hinreichend umfassende Würdigung vor (Beschwerde S. 7 f.). Es ist unbestritten, dass vom Beschwerdegegner – zumindest zu Beginn des Vorfalls – ein hohes Aggressionspotential ausging und dass er selber durch sein Verhalten die Intervention durch die sechs Vollzugsangestellten ausgelöst hatte (Urteil S. 26 E. 10.3.1). Dies vermag indessen nichts daran zu ändern, dass der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner zwei Mal gegen den Körper getreten und zwei Mal gegen den Kopf geschlagen hat, nachdem der Gefangene bereits zu Boden geführt und festgehalten bzw. anlässlich des zweiten Schlages sogar vollständig arretiert worden war. Diese angeklagten Gewaltanwendungen erfolgten daher, als die Situation bereits wieder deeskaliert war, auch wenn die Lage zuvor während der Auseinandersetzung durchaus hektisch, angespannt und auch für einen erfahrenen Vollzugsangestellten ausgesprochen fordernd war. Hinzu kommt, dass der Beschwerdegegner eine Spuckhaube über dem Kopf hatte, als der Beschwerdeführer ihn gegen den Kopf schlug. Da er diese Schläge somit nicht kommen sehen konnte, war er ihnen wehrlos ausgeliefert (vgl. Urteil S. 26 E. 10.3.1). Die Vorinstanz verletzt folglich kein Bundesrecht, indem sie den Amtsmissbrauch des Beschwerdeführers als schwere Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO einstuft und das öffentliche Interesse an der Aufklärung dieser Tat höher als dasjenige des Beschwerdeführers an der rechtskonformen Erhebung resp. der Unverwertbarkeit der Videoaufnahmen gewichtet.» (E.1.5).
Das Bundesgericht weist im Urteil 6B_1298/2022 vom 10. Juli 2023 die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten werden kann (E.6).