Juni 12, 2023 5:05 am

Im Urteil 6B_402/2022 vom 24. April 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit der Körperverletzung eines damals 64 Jahre alten Rechtsanwalts durch einen 17-jährigen Beschuldigten. Zur Diskussion standen verschiedene strafrechtliche Themen, u.a. auch der Notwehrexzess. Das Bundesgericht bestätigte die Verletzung des Beschleunigungsgebots im kantonalen Verfahren und betonte auch, dass dem Beschleunigungsgebot im Jugendstrafverfahren eine erhöhte Bedeutung zukomme (E.4.4.3).

Juni 9, 2023 6:09 am

Im für die Praxis zum Waffengesetz sehr wichtigen Urteil 6B_76/2023 vom 4. Mai 2023 aus dem Kanton Zürich befasste sich das Bundesgericht mit einem Fall des vorsätzlichen Vergehens gegen das Waffengesetz (WG). Die Vorinstanz, das Obergericht des Kantons Zürich, billigte dem Beschwerdeführer zwar zu, sich in einem Rechtsirrtum befunden zu haben, gelangt aber zum Schluss, dass dieser Irrtum vermeidbar gewesen wäre. Das Bundesgericht bestätigte das Urteil der Vorinstanz wie folgt: «Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, wenn sie die Vermeidbarkeit des Rechtsirrtums bejaht. Ein gewissenhafter Dritter in der gleichen Situation hätte sich zumindest Gedanken darüber gemacht, ob es sich bei einem Nunchaku (auch Würgeholz genannt) um einen gefährlichen Gegenstand oder um eine Waffe handeln könnte.» (E.1.5).

Juni 7, 2023 12:10 pm

Im Urteil 1B_135/2023 vom 9. Mai 2023 aus dem Kanton Luzern ging es um das Thema des Ausstandes einer Polizistin, welche Geschädigte im Verfahren ist, in welchem sie auch als Polizistin Handlungen vornahm. Das Bundesgericht sprach sich für eine Ausstandpflicht i.S.v. Art. 56 lit. a StPO aus: «Aus Art. 56 lit. a StPO folgt, dass die in einer Strafbehörde tätige Person weder in eigener Sache ermitteln noch entscheiden darf.» (E.3)

Juni 7, 2023 4:46 am

Im Urteil 1B_217/2022 vom 15. Mai 2023 aus dem Kanton Basel-Landschaft befasste sich das Bundesgericht mit der Frage der Zulässigkeit einer DNA-Probe und der Erstellung eines DNA-Profils bei Diebstahlsdelikten. Zunächst nahm es eine allgemeine Auslegeordnung bezüglich DNA-Profilen vor (E.3.1). Vorliegend ist gemäss Bundesgericht davon auszugehen, dass das DNA-Profil der Aufklärung weiterer Ladendiebstähle dienen soll. Obschon es sich bei solchen Diebstählen nach abstrakter Strafdrohung um Verbrechen handelt (vgl. Art. 10 Abs. 2 und Art. 139 StGB) und dem Beschwerdeführer gar gewerbs- und bandenmässige Begehung vorgeworfen wird, tangieren diese Diebstähle keine besonders schützenswerten Rechtsgüter (wie etwa die körperliche Integrität), betont das Bundesgericht. Hier kann grundsätzlich nicht mehr von Delikten «einer gewissen Schwere» ausgegangen werden. Vorliegend bestehen auch keine Hinweise dafür, dass vom Beschwerdeführer Raub- oder Einbruchsdiebstähle oder Diebstähle mit besonders hohen Deliktsummen zu erwarten wären. Da die erforderliche Deliktsschwere nicht erreicht ist, erweisen sich die DNA-Probenahme und -Profilerstellung als unverhältnismässig und damit bundesrechtswidrig, entscheidet das Bundesgericht. (E.3.4). 

Juni 6, 2023 4:46 am

Im Urteil 1B_94/2023 vom 4. Mai 2023 aus dem Kanton Freiburg befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, ob in einem «Bagatellfall» ein Anspruch auf eine amtliche Verteidigung bestehen kann. Das Bundesgericht erläutert generell-abstrakt den Anspruch auf amtliche Verteidigung (E.2.1). Im vorliegenden Fall verneint das Bundesgericht den Anspruch, was aber nicht heisst, dass es in «Bagatellfällen» nicht dennoch einen solchen geben kann.

Juni 5, 2023 4:38 am

Im Urteil 6B_1495/2022 vom 12. Mai 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) ging es um die Beurteilung die Ausschreibung eines strafrechtlichen Landesverweises in das Schengener Informationssystem (SIS) eines britischen Staatsbürgers und die Auswirkungen des Brexits darauf. Das Bundesgericht kam zum folgenden Entscheid: Die Ausschreibung im SIS keine Sanktion und unterscheidet sich insofern von der Ausweisungsverfügung selbst. Das Argument des Beschwerdeführers, dass auf die Ausschreibungsverfügung im SIS die gleichen Grundsätze wie auf die Landesverweisung anzuwenden seien, geht somit fehl. Da die Ausschreibung im SIS-Register dem Vollstreckungsrecht bzw. dem Polizeirecht unterliegt, ist die Notwendigkeit dieses Eintrags nach dem Recht zu beurteilen, das zum Zeitpunkt der Anordnung der Landesverweisung durch den Strafrichter gilt. Im vorliegenden Fall war das Vereinigte Königreich zum Zeitpunkt des Strafurteils, d.h. im Jahr 2022, kein Schengen-Staat mehr, sodass der Beschwerdeführer zu Recht als "Drittstaatsangehöriger" im Sinne von Art. 3 Ziff. 4 der Verordnung (EU) 2018/1861 betrachtet wurde, unabhängig davon, ob die Straftaten vor dem Austritt des Landes aus dem Schengen-Raum am 1. Januar 2021 begangen wurden. Die Grundsätze des Rückwirkungsverbots des Strafgesetzes und der lex mitior (Art. 2 StGB) finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung (E.1.6).

Juni 3, 2023 8:22 am

Bei der lebenslangen Freiheitsstrafe stellen sich keine Anwendungs- oder Sicherheitsprobleme. Sie soll aber besser von der 20-jährigen Freiheitsstrafe und der Verwahrung abgegrenzt werden. Der Bundesrat schlägt deshalb vor, die bedingte Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe neu erstmals nach 17 Jahren zu prüfen. Beim Zusammentreffen von lebenslanger Freiheitsstrafe und Verwahrung soll zudem der Vollzug klar geregelt werden. Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 2. Juni 2023 die Vernehmlassung zu einer entsprechenden Änderung des Strafgesetzbuches (StGB) eröffnet.

Juni 3, 2023 8:16 am

Die Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil fand insbesondere in der Deutschschweiz lange Zeit wenig Beachtung. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD, über den der Bundesrat am 2. Juni 2023 informiert wurde. Zwar haben sich in den letzten Jahren die Voraussetzungen verbessert, um zwischen Kindern und dem inhaftierten Elternteil die Beziehungspflege zu ermöglichen. Es besteht aber nach wie vor Handlungsbedarf. Der Bericht formuliert mehrere Massnahmen.

Juni 2, 2023 6:08 am

Das Bundesgericht legt im Urteil 6B_1108/2021 vom 27. April 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) aus dem Kanton Zürich die Kriterien zur Beurteilung fest, ob bei einem unrechtmässigen Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe von Art. 148a Abs. 1 StGB von einem leichten Fall von Art. 148a Abs. 2 StGB auszugehen ist, der keine Landesverweisung rechtfertigt. Das Bundesgericht kommt nach eingehender Auseinandersetzung mit der Thematik, inklusive Literatur und eigener bisheriger Praxis (E.1.5), zum Fazit: «In der Kürze lässt sich das Gesagte wie folgt zusammenfassen: Bei Deliktsbeträgen unter Fr. 3'000.-- ist stets von einem leichten Fall des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe auszugehen. Im mittleren Bereich von Fr. 3'000.-- bis Fr. 35'999.99 ist anhand der gesamten Tatumstände zu prüfen, ob das Verschulden der Täterschaft soweit vermindert ist, dass sich die Annahme eines leichten Falls nach Art. 148a Abs. 2 StGB rechtfertigt. Bei Deliktsbeträgen ab Fr. 36'000.-- scheidet die Bejahung eines leichten Falls grundsätzlich aus, ausser es liegen im Sinne einer Ausnahme ausserordentliche, besonders gewichtige Umstände vor, die eine massive Verminderung des Verschuldens bewirken.» (E.1.5.9). Das Bundesgericht betont zudem, dass immer auch der Tatbestand des Betrugs zu prüfen ist (E.1.5.8).

Mai 31, 2023 12:49 pm

Im Urteil 6B_27/2023 vom 5. Mai 2023 aus dem Kanton Solothurn befasste sich das Bundesgericht mit einem kurzen Blick auf das Mobiltelefon am Steuer. Das Bundesgericht setzte sich in diesem sehr lesenswerten Urteil ausführlich mit Art. 90 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 1 SVG sowie Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VRV auseinander, auch unter Einbezug der bisherigen Rechtsprechung. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gegen das Urteil der Vorinstanz (Obergericht Solothurn), welches die Automobilistin wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln verurteilt hat, auf und wies die Vorinstanz an, zu prüfen, ob vorliegend die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Ordnungsbussenverfahrens erfüllt sind und ob der Tatbestand des Verwendens eines Telefons ohne Freisprecheinrichtung während der Fahrt gemäss Ziff. 311 der Bussenliste (Anhang 1 OBV) gegeben ist (E.2.3).