Sachverhalt
Den Brüdern B. und A. werden zahlreiche Delikte zur Last gelegt, die sie jeweils in ihrer Eigenschaft als Gründungsgesellschafter der C. GmbH begangen haben sollen. Dabei wurde B., der nicht über das Schweizer Bürgerrecht verfügt, erstinstanzlich wegen mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung und mehrfachen betrügerischen Konkurses namentlich zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 33 Monaten verurteilt; von einer Landesverweisung wurde abgesehen. Sein Bruder A., der über das Schweizer Bürgerrecht verfügt, wurde erstinstanzlich wegen mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung, teilweise mit Bereicherungsabsicht, und des mehrfachen betrügerischen Konkurses zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 36 Monaten verurteilt.
Instanzenzug
Dagegen erhoben die beiden Brüder B. und A., die vollumfängliche Freisprüche forderten, in einer gemeinsamen Eingabe des freigewählten Verteidigers Rechtsanwalt Marcel Buttliger beim Obergericht des Kantons Aargau Berufung. Nachdem sie das Obergericht dazu aufgefordert hatte, zu einer allfälligen Interessenkollision ihres Rechtsvertreters Stellung zu nehmen, rief es mit Verfügung vom 16. Februar 2022 ihren freigewählten Verteidiger ab bzw. liess diesen nicht zum Berufungsverfahren zu und setzte ihnen zugleich eine Frist an, um jeweils eine neue und nicht gemeinsame freigewählte Verteidigung zu mandatieren.
Weiterzug ans Bundesgericht
Mit Eingabe vom 28. Februar 2022 gelangen B. und A., beide vertreten durch Rechtsanwalt Marcel Buttliger, mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragen, die Verfügung des Obergerichts vom 16. Februar 2022 aufzuheben und ihrem Rechtsvertreter die Prozessberechtigung im Strafverfahren gegen die beiden Beschuldigten zu gewähren, eventualiter sei er zumindest für einen der Beschuldigten im Verfahren zuzulassen. Weiter stellen sie zahlreiche prozessuale Anträge sowie ein Gesuch um Erlass von vorsorglichen Massnahmen, welches das Bundesgericht mit Verfügung vom 31. März 2022 abwies. Die Vorinstanz hat sich mit Stellungnahme vom 10. März 2022 insbesondere zur Frage nach ihrer Zuständigkeit geäussert und die Abweisung der Beschwerde beantragt. Die kantonale Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hat mit Eingabe vom 25. März 2022 eine ausführliche Vernehmlassung eingereicht und beantragt, auf die Beschwerde nicht einzutreten, eventualiter sie abzuweisen. Die Beschwerdeführer haben mit Eingabe vom 16. Mai 2022 repliziert und an ihren Anträgen festgehalten.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_91/2022 vom 11. Juli 2023
Wir schauen uns hier nur die Rüge der Vertretung von mehreren Personen durch einen Anwalt an (Doppelvertretung bzw. Mehrfachvertretung).
In der Sache rügen die Beschwerdeführer vor Bundesgericht, die Vorinstanz sei zu Unrecht von einer unzulässigen Doppelvertretung ausgegangen und habe damit ihren Anspruch auf freie Anwaltswahl verletzt. (E.4)
Dazu führt das Bundesgericht im Urteil 7B_91/2022 vom 11. Juli 2023 aus:
«Die beschuldigte Person kann im Strafverfahren zur Wahrung ihrer Interessen grundsätzlich einen Rechtsbeistand ihrer freien Wahl bestellen (Art. 127 Abs. 1 StPO; siehe Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK und Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV). Vorbehalten bleiben die strafprozessualen und berufsrechtlichen Vorschriften und Zulassungsvoraussetzungen. Insbesondere ist nach Art. 127 Abs. 5 StPO die Verteidigung der beschuldigten Person Anwältinnen und Anwälten vorbehalten, die nach dem Bundesgesetz vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA; SR 935.61) berechtigt sind, Parteien vor Gerichtsbehörden zu vertreten (Urteile 1B_232/2022 vom 17. Mai 2023 E. 4; 1B_528 vom 21. Dezember 2021 E. 2.2; je mit Hinweisen). Nach Art. 128 StPO ist die Verteidigung in den Schranken von Gesetz und Standesregeln allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. Diese Pflicht wird unter anderem in Art. 12 lit. c BGFA konkretisiert. Danach haben Anwältinnen und Anwälte jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und den Personen, mit denen sie geschäftlich oder privat in Beziehung stehen, zu meiden. Daraus ergibt sich insbesondere ein Verbot der interessenkollidierenden Doppelvertretung: Anwältinnen und Anwälte dürfen nicht in ein und derselben Streitsache Parteien, namentlich Mitbeschuldigte, mit gegenläufigen Interessen vertreten, weil sie sich diesfalls für keine der vertretenen Parteien voll einsetzen könnten (BGE 145 IV 218 E. 2.1; 135 II 145 E. 9.1; siehe auch Urteil 1B_232/2022 vom 17. Mai 2023 E. 4 mit Hinweisen).» (E.4.1)
Die Vorinstanz hat zusammengefasst vom Bundesgericht festgehalten, von besonderen Ausnahmefällen abgesehen, dürften Anwälte keine Mehrfachverteidigung von Mitbeschuldigten ausüben. Vorliegend seien die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zulassung der Mehrfachverteidigung nicht erfüllt: Auch wenn es sich bei den Beschuldigten um Brüder handle, so scheine nicht ausgeschlossen, dass ein jeder von ihnen versucht sein könnte, den anderen Bruder zu belasten, um einen zusätzlichen Freispruch zu erreichen respektive die mit Anschlussberufung beantragten zusätzlichen Schuldsprüche abzuwenden, ergänzt das Bundesgericht (E.4.2).
Die Beschwerdeführer rügen diesbezüglich vor Bundesgericht, die Vorinstanz verkenne, dass die bloss abstrakte Möglichkeit des Auftretens von Differenzen zwischen den Beschuldigten nicht ausreiche, um auf eine unzulässige Doppelvertretung zu schliessen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Brüder nach mehreren Jahren Zusammenarbeit mit dem gleichen Vertreter plötzlich widersprüchliche bzw. diskrepante Aussagen machen könnten, sei extrem klein. Sodann hätten „die schweizerischen Gerichte […] immer noch nicht verstanden, dass die Frage der Doppelvertretung nicht losgelöst von kulturellem und ethnischem Hintergrund der Beschuldigten gelöst werden können [sic]“. (E.4.3)
Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_91/2022 vom 11. Juli 2023 wie folgt:
«Auch diese Vorbringen der Beschwerdeführer sind offensichtlich unbegründet, sofern sie sich nicht ohnehin in unzulässiger appellatorischer Kritik (Art. 42 BGG; vgl. Urteil 1B_639/2023 vom 13. Januar 2023 E. 3.1 mit Hinweisen) erschöpfen. Nach der Rechtsprechung ist eine Mehrfachverteidigung von verschiedenen beschuldigten Personen nur dann zulässig, wenn die mitbeschuldigten Personen durchwegs identische und widerspruchsfreie Sachverhaltsdarstellungen geben und ihre Prozessinteressen nach den konkreten Umständen nicht divergieren (Urteile 1B_457/2021 vom 28. Oktober 2021 E. 2.1; 1B_611/2012 vom 29. Januar 2013 E. 2.2). Davon kann vorliegend keine Rede sein. Die gegen die Beschwerdeführer geführten Strafverfahren betreffen zwar einen einzigen Sachverhaltskomplex. Die einzelnen Delikte sollen die Beschwerdeführer aber nicht gemeinschaftlich, sondern jeweils einzeln begangen haben. Entsprechend nannte die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Anklage für jedes der untersuchten Delikte jeweils nur einen der Beschwerdeführer als Täter, wobei im Rahmen einer Eventualanklage die Möglichkeit einer Tatbegehung durch den jeweils anderen Beschwerdeführer offengelassen wurde. Unter diesen Voraussetzungen besteht offensichtlich das Risiko, dass im Verlauf des Verfahrens einer der Beschwerdeführer versucht sein könnte, seine eigene Schuld zu minimieren und hierfür allenfalls auf den anderen Beschuldigten abzuwälzen (vgl. BGE 141 IV 257 E. 2.1; Urteil 1B_457/2021 vom 28. Oktober 2021 E. 2.1). Dies gilt umso mehr, als die Beschwerdeführer bislang die Aussage verweigert hatten und nicht zum Prozess erschienen waren und angesichts der erstinstanzlichen Verurteilungen zu teilbedingten Freiheitsstrafen daher geneigt sein könnten, ihre Prozessstrategie – allenfalls zu Lasten des jeweils anderen Beschwerdeführers – zu überdenken.» (E.4.4)
«Angesichts des festgestellten Interessenkonflikts und des Umstands, dass der Rechtsvertreter der Beschwerdeführer letztere bereits im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens gemeinsam verteidigt hatte, ist eine Niederlegung beider Mandate sodann die einzige Möglichkeit zur Wahrung seiner Berufspflichten gemäss Art. 12 lit. c BGFA. Eine Weiterführung von (bloss) einem der Mandate, wie die Beschwerdeführer dies eventualiter beantragen, ist offensichtlich unzulässig (BGE 134 II 109 E. 4.2.1; Urteile 1B_59/2018 vom 31. Mai 2018 E. 2.7.1; 1B_120/2018, 1B_121/2018 vom 29. Mai 2018 E. 5.3). In Anbetracht dieser Rechtslage war die Vorinstanz nicht gehalten, sich näher mit dem entsprechenden Eventualantrag der Beschwerdeführer auseinanderzusetzen, sondern durfte sich diesbezüglich auf eine summarische Begründung des Entscheids beschränken (ausführlich dazu BGE 143 III 65 E. 5.2 f.). Die Rüge der Beschwerdeführer, die Vorinstanz habe betreffend den Eventualantrag die Begründungspflicht und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, ist somit ebenfalls unbegründet.» (E.4.5)