Sachverhalt
Mit Urteil vom 15. Oktober 2019 sprach das Regionalgericht Emmental-Oberaargau A. des gewerbsmässigen Betrugs und der Nichtabgabe von Ausweisen und Kontrollschildern trotz behördlicher Aufforderung schuldig. Es verurteilte sie zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten und zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu Fr. 30.–. Zudem sprach es eine Landesverweisung für die Dauer von fünf Jahren aus.
Instanzenzug
Auf teilweise Berufung von A. hin stellte das Obergericht des Kantons Bern mit Urteil vom 13. Juli 2021 die teilweise Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils fest (bzgl. Schuldspruch wegen Nichtabgabe von Ausweisen und Kontrollschildern trotz behördlicher Aufforderung). Es sprach A. des gewerbsmässigen Betrugs zum Nachteil von B. (Deliktsbetrag Fr. 67’868.60) schuldig und verurteilte sie zu einer Geldstrafe von 315 Tagessätzen zu Fr. 30.– (25 Tagessätze unbedingt, 290 Tagessätze bedingt, unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren). Zudem verwies das Obergericht des Kantons Bern A. für die Dauer von fünf Jahren des Landes und auferlegte ihr die erstinstanzlichen und oberinstanzlichen Verfahrenskosten.
Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1144/2021 vom 24. April 2023
Gegenstand vor Bundesgericht ist einzig die Anordnung der Landesverweisung i.S.v. Art. 66a StGB. (E.1)
Ausführungen des Bundesgerichts zur Landesverweisung und Art. 8 EMRK
Wir fokussieren uns hier auf die Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_1144/2021 vom 24. April 2023 zu Art. 8 Ziff. 1 EMRK, wozu das Bundesgericht ausführt:
«Von einem schweren persönlichen Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB ist bei einem Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auszugehen (Urteile 6B_33/2022 vom 9. Dezember 2022 E. 3.2.3; 6B_780/2020 vom 2. Juni 2021 E. 1.3.2; je mit Hinweisen). Das durch Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser ohne weiteres möglich bzw. zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen (BGE 144 I 266 E. 3.3; 144 II 1 E. 6.1).
Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie, d.h. die Gemeinschaft der Ehegatten mit ihren minderjährigen Kindern (BGE 144 I 266 E. 3.3; 144 II 1 E. 6.1; je mit Hinweisen). In den Schutzbereich von Art. 8 EMRK fallen aber auch andere familiäre Verhältnisse, sofern eine genügend nahe, echte und tatsächlich gelebte Beziehung besteht. Hinweise für solche Beziehungen sind das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt, eine finanzielle Abhängigkeit, speziell enge familiäre Bande, regelmässige Kontakte oder die Übernahme von Verantwortung für eine andere Person. Bei hinreichender Intensität sind auch Beziehungen zwischen nahen Verwandten wie Geschwistern oder Tanten und Nichten wesentlich (BGE 135 I 143 E. 3.1; BGE 120 Ib 257 E. 1d), doch muss in diesem Fall zwischen der über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügenden Person und dem um die Bewilligung nachsuchenden Ausländer ein über die üblichen familiären Beziehungen bzw. emotionale Bindungen hinausgehendes, besonderes Abhängigkeitsverhältnis bestehen (vgl. dazu BGE 144 II 1 E. 6.1 mit diversen Hinweisen).» (E.1.2.3)
«Gemäss Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hängt das Vorliegen einer Familienbeziehung gemäss Art. 8 EMRK vom Bestand tatsächlicher und enger persönlicher Bindungen ab (Urteile des EGMR Marckx gegen Belgien vom 13. Juni 1979, Serie A Bd. 31 § 31; K. und T. gegen Finnland vom 12. Juli 2001, Recueil CourEDH 2001-VII S. 257 § 150; Moretti und Benedetti gegen Italien vom 27. April 2010, Nr. 16318/07, § 44; Jessica Marchi gegen Italien vom 27. Mai 2021, Nr. 54978/17, § 49; je mit Hinweisen). Dabei werden neben den ehelichen auch andere (sogenannte „de facto“) Familienbeziehungen („d’autres liens familiaux ‚de facto'“) vom Schutzbereich von Art. 8 EMRK erfasst, wenn die Parteien ausserhalb jeglicher ehelichen Bindung zusammenleben oder sich die Kontinuität bzw. Stabilität („constance“) ihrer Beziehung aus sonstigen Umständen ergibt (Urteile des EGMR Kroon und andere gegen die Niederlande vom 27. Oktober 1994 Serie A Bd. 297-C, § 30; L. gegen die Niederlande vom 1. Juni 2004, Nr. 45582/99, § 36; Moretti und Benedetti gegen Italien, a.a.O., § 45; Paradiso und Campanelli gegen Italien vom 24. Januar 2017, Nr. 25358/12, § 140; Jessica Marchi gegen Italien, a.a.O, § 49; je mit Hinweisen). Auch zwischen einer erwachsenen Person resp. erwachsenen Personen und einem Kind kann unter gewissen Umständen trotz Fehlens eines biologischen oder rechtlich anerkannten Verwandtschaftsverhältnisses eine „de facto“ Familienbeziehung existieren. Dies unter der Voraussetzung, dass zwischen ihnen eine echte persönliche Bindung besteht (Urteile des EGMR Paradiso und Campanelli gegen Italien, a.a.O., § 148; C.E. und andere gegen Frankreich vom 24. März 2022, Nr. 29775/18 und Nr. 29693/19, §§ 49; je mit Hinweisen). Bei der Beurteilung des familiären Charakters („caractère familial“) einer Beziehung sind mehrere Elemente zu berücksichtigen, wie die Dauer des gemeinsamen Zusammenlebens, die Qualität der Beziehung sowie die gegenüber dem Kind wahrgenommene Rolle des Erwachsenen (Urteil des EGMR Moretti und Benedetti gegen Italien, a.a.O., § 48). Auch wenn sich die Festlegung einer Mindestdauer des Zusammenlebens nicht rechtfertigt – als massgeblich erweist sich die Qualität der Beziehung im Einzelfall -, handelt es sich bei der Zeitspanne, während der ein Zusammenleben angedauert hat, nichtsdestotrotz um einen Schlüsselfaktor (Urteil des EGMR Jessica Marchi gegen Italien, a.a.O., § 57). Ausnahmsweise („exceptionally“) können jedoch auch andere Umstände eine genügende Konstanz („sufficient constancy“) der Verbindung belegen (Urteil des EGMR Kopf und Liberda gegen Österreich vom 17. Januar 2012, Nr. 1598/06, § 35; vgl. zum Ganzen Urteil 6B_255/2021 vom 3. Oktober 2022 E. 1.3.4).» (E.1.2.4)
«Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, entscheidet sich die Sachfrage in einer Interessenabwägung nach Massgabe der „öffentlichen Interessen an der Landesverweisung“. Nach der gesetzlichen Systematik ist die obligatorische Landesverweisung anzuordnen, wenn die Katalogtaten einen Schweregrad erreichen, bei welchem die Landesverweisung zur Wahrung der inneren Sicherheit als notwendig erscheint. Diese Beurteilung lässt sich strafrechtlich nur in der Weise vornehmen, dass massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abgestellt wird (Urteile 6B_33/2022 vom 9. Dezember 2022 E. 3.2.4; 6B_134/2021 vom 20. Juni 2022 E. 5.3.2; 6B_748/2021 vom 8. September 2021 E. 1.1.1; je mit Hinweisen).
Berührt die Landesverweisung Gewährleistungen von Art. 8 Ziff. 1 EMRK, sind die Voraussetzungen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK, insbesondere die Verhältnismässigkeit der Massnahme, zu prüfen (BGE 146 IV 105 E. 4.2 mit Hinweis). Art. 66a StGB ist EMRK-konform auszulegen. Die Interessenabwägung im Rahmen der Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB hat sich daher an der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu orientieren (BGE 145 IV 161 E. 3.4; Urteile 6B_255/2021 vom 3. Oktober 2022 E. 1.3.5; 6B_1245/2021 vom 8. Juni 2022 E. 2.3.3; je mit Hinweisen). Nach dem EGMR sind bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 EMRK insbesondere Art sowie Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit sowie das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen (Urteil des EGMR M.M. gegen die Schweiz vom 8. Dezember 2020, Nr. 59006/18, §§ 49; Urteile 6B_255/2021 vom 3. Oktober 2022 E. 1.3.5; 6B_1245/2021 vom 8. Juni 2022 E. 2.3.3; je mit Hinweisen).» (E.1.2.5)
«Für die Frage, ob der Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens „notwendig“ im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist, sind nach der Rechtsprechung des EGMR nebst den zuvor erwähnten Kriterien (supra E. 1.2.5; insbesondere Natur und Schwere der Straftaten, die Dauer des Aufenthalts im Lande, die seit der Begehung der Straftaten verstrichene Zeit, das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- und im Heimatstaat) auch die Staatsangehörigkeit der betroffenen Familienmitglieder, die familiäre Situation des von der Massnahme Betroffenen, wie etwa die Dauer der Ehe oder andere Faktoren, welche für ein effektives Familienleben sprechen, eine allfällige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat zu Beginn der familiären Bindung, ob Kinder aus der Ehe hervorgingen und falls ja, deren Alter, sowie die Schwierigkeiten, mit welchen der Ehegatte im Heimatland des anderen konfrontiert sein könnte, zu berücksichtigen (Urteile 6B_1114/2022 vom 11. Januar 2023 E. 4; 6B_1508/2021 vom 5. Dezember 2022 E. 3.2.4; 6B_855/2020 vom 25. Oktober 2021 E. 3.3.1).» (E.1.2.6)
Entscheidung des Bundesgerichts im vorliegenden Fall
Die Beschwerdeführerin beanstandet vor Bundesgericht die vorinstanzlichen Erwägungen zu ihren familiären Verhältnissen. Sie rügt einerseits eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und andererseits eine Verletzung von Bundesrecht. Sie bringt vor, die zentrale Frage beim Entscheid über die Landesverweisung sei die Auswirkung einer solchen auf die Entwicklung der von ihr betreuten Enkelkinder, insbesondere auf C. Sie habe sowohl im erst- als auch im vorinstanzlichen Verfahren beantragt, ihre familiäre Situation und insbesondere das Verhältnis zwischen ihr und ihren Enkelkindern sei abzuklären. Die Vorinstanz habe den Beweisantrag abgewiesen mit der Begründung, eine Abklärung der familiären Situation dränge sich allenfalls unter Kindesschutzaspekten auf, jedoch seien mit Blick auf die Frage, ob eine Landesverweisung für die Beschwerdeführerin einen persönlichen Härtefall darstelle, aus den beantragten Abklärungen keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten. Die Beschwerdeführerin bringt vor, weder die erste Instanz noch die Vorinstanz hätten es für nötig gehalten, das Verhältnis der Enkelkinder und insbesondere des Enkels C. zur Beschwerdeführerin zu prüfen, obwohl dies im Hinblick auf die Härtefallprüfung sowohl unter dem Aspekt des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK als auch für die Prüfung der Verhältnismässigkeit i.S.v. Art. 66a Abs. 2 StGB von entscheidender Bedeutung sei. (E.1.4.1)
Das Bundesgericht folgt dieser Kritik und erklärt im Urteil 6B_1144/2021 vom 24. April 2023:
«Die Kritik der Beschwerdeführerin erweist sich als begründet. Zwar setzt sich die Vorinstanz anlässlich ihrer Härtefallprüfung nach Art. 66a StGB ausführlich mit der familiären Situation der Beschwerdeführerin auseinander. Obwohl sie erstellt, ihr Enkel C. lebe bei der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann, und sie sich dabei auf die Aussagen der Beschwerdeführerin anlässlich der Berufungsverhandlung stützt, belässt sie es mit Bezug auf Art. 8 EMRK aber dabei, festzuhalten, der Enkel C. zähle nicht zu ihrer Kernfamilie. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht vorbringt, gehört zu dem durch Art. 8 EMRK geschützten Familienkreis in erster Linie die Kernfamilie; bei hinreichender Intensität können aber auch Beziehungen zwischen nahen Verwandten vom Schutzbereich von Art. 8 EMRK erfasst sein (vgl. supra E. 1.2.3). Nach der Rechtsprechung des EGMR sind für die Bejahung eines „de facto“ Familienverhältnisses insbesondere die Dauer des gemeinsamen Zusammenlebens, die Qualität der Beziehung sowie die gegenüber dem Kind wahrgenommene Rolle des Erwachsenen ausschlaggebend (vgl. supra E. 1.2.4). Die Vorinstanz unterlässt es vorliegend, die Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihren Enkeln, insbesondere zu ihrem Enkel C., auch unter diesem Blickwinkel von Art. 8 EMRK zu prüfen und die dafür notwendigen Sachverhaltsfeststellungen zu treffen. Sie hält weder fest, wie lange C. bereits bei seinen Grosseltern wohnt, noch wie sich diese Betreuung konkret ausgestaltet und welche Rolle die Beschwerdeführerin in seinem Leben einnimmt. Damit kommt die Vorinstanz in diesem Punkt ihrer Begründungspflicht nicht genügend nach.
Indem es im vorinstanzlichen Urteil an Sachverhaltsfeststellungen zum konkreten Verhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihren Enkeln, insbesondere C., mangelt, lässt sich nicht beurteilen, ob der Schutzbereich von Art. 8 EMRK betroffen ist. Die blosse Feststellung der Vorinstanz, die Beschwerdeführerin habe gegenüber ihren Enkelkindern, insbesondere gegenüber C., zweifellos eine besondere Stellung (vgl. angefochtenes Urteil S. 33), genügt in dieser Hinsicht nicht. Gestützt auf das bisherige Sachverhaltsfundament kann die ausgesprochene Landesverweisung nicht auf ihre Richtigkeit überprüft werden, weshalb die Vorinstanz Bundesrecht verletzt.
Aufgrund der mangelhaften Abklärung der privaten Interessen der Beschwerdeführerin an einer Landesverweisung ist es für das Bundesgericht überdies auch nicht möglich, die von der Vorinstanz im Sinne einer Eventualerwägung vorgenommene Interessenabwägung auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Die Vorinstanz wird die Interessenabwägung allenfalls gestützt auf den vervollständigten Sachverhalt vorzunehmen haben. Eine Behandlung der weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit der Landesverweisung erübrigt sich insoweit.» (E.1.4.3)
Bemerkungen zum Urteil 6B_1144/2021 vom 24. April 2023 des Bundesgerichts
Das Urteil 6B_1144/2021 vom 24. April 2023 ist eines der wichtigeren Urteile zur strafrechtlichen Landesverweisung und Art. 8 EMRK der jüngeren Zeit. Es erstaunt, dass des nicht zur amtl. Publ. vorgesehen ist. Das Bundesgericht nimmt darin einerseits generell-abstrakt ausführlich Stellung zu Art. 8 EMRK und zeigt auch auf, dass ein Enkel durchaus zur strafrechtlich relevanten Kernfamilie gehören kann. Andererseits zeigt das Urteil auf, wie wichtig es ist aus der Sicht der Strafverteidigung ist bei Fällen der Landesverweisung die konkreten Familienverhältnisse aufzuzeigen und wo immer möglich auch zu belegen.