Sachverhalt
Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte am 13. September 2016 B. rechtskräftig wegen Handels mit illegalen Dopingsubstanzen. Er wurde unter anderem von C., der seinerseits als Zwischenhändler in den Dopingmittelhandel involviert war, schwer belastet.
Aufgrund einer geheimen Telefonüberwachung, die in zwei weiteren Strafverfahren betreffend Handel mit illegalen Dopingsubstanzen durchgeführt worden war, stiessen die Untersuchungsbehörden auf Anhaltspunkte, dass sich A. im Rahmen eines von B. initiierten Vorgehens unter Mitwirkung weiterer Personen (D. und E.; zu B. und D. vgl. die Urteile 6B_1149/2020 und 6B_1150/2020 heutigen Datums) der Erpressung und Nötigung bzw. der diesbezüglichen Gehilfenschaft zum Nachteil von C. schuldig gemacht haben könnte. Die kantonale Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau eröffnete deshalb eine Strafuntersuchung gegen A. und verurteilte ihn mit Strafbefehl vom 9. Juni 2017 wegen Gehilfenschaft zur Erpressung und Nötigung. Nachdem A. dagegen Einsprache eingelegt hatte, erhob die Staatsanwaltschaft am 11. Dezember 2018 Anklage.
Instanzenzug
Das Bezirksgericht Bremgarten sprach A. am 24. Oktober 2019 der Gehilfenschaft zur qualifizierten (räuberischen) Erpressung schuldig. Vom Vorwurf der Nötigung und weiteren Delikten sprach es ihn frei. Es bestrafte ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten und einer Busse von Fr. 2’000.–, jeweils als Zusatzstrafe zu einem Urteil des Kreisgerichts Rheintal vom 10. August 2016. Daneben entschied es über die Einziehung bzw. Herausgabe zweier Schusswaffen und verwies die Zivilklage einer Privatklägerin auf den Zivilweg.
Auf Berufung von A. nahm das Obergericht des Kantons Aargau von der Rechtskraft der unangefochten gebliebenen Freisprüche und der Verweisung der Zivilklage Vormerk. Es bestätigt im Übrigen das bezirksgerichtliche Urteil im Schuld und Strafpunkt, wobei es den Schuldspruch auf Gehilfenschaft zur Erpressung (im Grundtatbestand) abänderte. Die zwei Schusswaffen überwies es dem Polizeikommando des Kantons Aargau.
Das Obergericht geht von folgendem, für den Schuldspruch der Gehilfenschaft zur Erpressung massgeblichen Sachverhalt aus:
Der A. wurde beauftragt, C. Forderungen von B. zu überbringen. Zur Erfüllung dieses Auftrags zog A. seinerseits E. bei und beauftragte ihn damit, ein Treffen mit C. zu organisieren. Am 17. Januar 2015 fuhren A. und E. gemeinsam nach U., wo sie C. aufforderten, Geldzahlungen zur Wiedergutmachung zugunsten von B. zu leisten. Anlässlich dieses Treffens wurde C. in grosse Angst versetzt, weil für den Fall der Nichterfüllung der Forderungen mit der Ausübung von schwerer Gewalt gegen ihn und seine Familie (seine Lebenspartnerin und seinen Sohn) gedroht wurde. Unklar ist, ob A. E. für die Unterstützung bezahlte, und, ob sich A. aktiv am Gespräch beteiligte und ebenfalls Drohungen aussprach. Nach dem Treffen hob C. einen Betrag von insgesamt Fr. 90’000.– in zwei Tranchen am 30. Januar und 12. März 2015 von seinem Bankkonto ab und übergab diesen F. zwecks Weiterleitung.
Weiterzug an das Bundesgericht
Der A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt einen vollumfänglichen Freispruch und eventualiter die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Obergericht nahm zur Beschwerde Stellung und ersucht im Fall einer Gutheissung der Beschwerde um einen reformatorischen Entscheid. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichtete auf eine Vernehmlassung. A. replizierte.
Die kantonalen Akten wurden antragsgemäss beigezogen.
Urteil 6B_1137/2020 vom 17. April 2023 des Bundesgerichts
Zum Konfrontationsanspruch und der EGMR-Praxis dazu
Der Beschwerdeführer begründet den von ihm beantragten Freispruch mit der Unverwertbarkeit der Aussagen von E., auf welche sich die Vorinstanz als massgebliches Beweismittel stütze (E.1).
Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 6B_1137/2020 vom 17. April 2023 wie folgt allgemein zu Verfahrensgarantien und dem Konfrontationsanspruch:
«Nach den Verfahrensgarantien von Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat die beschuldigte Person als Teilgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren Anspruch darauf, Belastungszeugen zu befragen. Eine belastende Aussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn die beschuldigte Person wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Um ihr Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss die beschuldigte Person in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen (BGE 133 I 33 E. 3.1; 131 I 476 E. 2.2; 129 I 151 E. 3.1; je mit Hinweisen). Dem Konfrontationsanspruch gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK kommt grundsätzlich absoluter Charakter zu (BGE 131 I 476 E. 2.2; 129 I 151 E. 3.1).
Von einer direkten Konfrontation der beschuldigten Person mit dem Belastungszeugen oder auf dessen ergänzende Befragung kann nur unter besonderen Umständen abgesehen werden, wenn eine persönliche Konfrontation nicht möglich oder eine Beschränkung des Konfrontationsrechts dringend notwendig ist. Die Fragen an den Belastungszeugen dürfen auch nicht im Rahmen einer antizipierten Beweiswürdigung für entbehrlich erklärt werden (BGE 129 I 151 E. 4.3). Die ausgebliebene Konfrontation mit Belastungszeugen verletzt die Garantie aber nicht, wenn diese berechtigterweise das Zeugnis verweigern oder die erneute Befragung nicht möglich ist, weil sie trotz angemessener Nachforschungen unauffindbar bleiben, dauernd oder für lange Zeit zur Einvernahme unfähig werden oder in der Zwischenzeit verstorben sind. Die Verwertbarkeit der ursprünglichen Aussage erfordert allerdings, dass die beschuldigte Person zu den belastenden Erklärungen hinreichend Stellung nehmen konnte, diese sorgfältig geprüft wurden und ein Schuldspruch sich nicht allein darauf abstützt. Ausserdem darf der Umstand, dass die beschuldigte Person ihre Rechte nicht (rechtzeitig) wahrnehmen konnte, nicht in der Verantwortung der Behörde liegen (BGE 131 I 476 E. 2.2 und 2.3.4 mit diversen Hinweisen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EGMR). Nach der Rechtsprechung des EGMR kann sodann ein streitiges Zeugnis von ausschlaggebender Bedeutung ohne Konfrontation mit Belastungszeugen verwertbar sein, wenn ausreichend kompensierende Faktoren gegeben sind, die den Anspruch der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren und die Überprüfung der Verlässlichkeit des Beweismittels gewährleisten (vgl. Urteile des EGMR Garofolo gegen Schweiz vom 2. April 2013, Nr. 4380/09, §§ 46 f.; Pesukic gegen Schweiz vom 6. Dezember 2012, Nr. 25088/07, §§ 43 ff.; sowie Al-Khawaja und Tahery gegen Grossbritannien vom 15. Dezember 2011, Nrn. 26766/05 und 22228/06, §§ 119, 120 ff., 126 ff., 147; vgl. auch BGE 148 I 295 E. 2.2; Urteile 6B_173/2022 vom 27. April 2022 E. 1.3.1; 6B_1219/2019 vom 24. April 2020 E. 2.1; 6B_1196/2018 vom 6. März 2019 E. 2; je mit Hinweisen).» (E.1.4.2.1)
«In Nachachtung dieser Grundsätze beurteilt der EGMR die Fairness des Verfahrens in drei Schritten: Zunächst wird untersucht, ob es einen ernsthaften Grund für das Nichterscheinen des Belastungszeugen an der Gerichtsverhandlung bzw. für die fehlende Konfrontation der beschuldigten Person mit dem Belastungszeugen gab. Dann wird die Bedeutung des Beweismittels im Prozess beurteilt, d.h. ob es der einzige oder ausschlaggebende Beweis für die Verurteilung ist. Zuletzt geht es darum, die ausgleichenden Elemente (Verfahrensgarantien) zu identifizieren und zu beurteilen, inwieweit sie genügten, um die der Verteidigung verursachten Schwierigkeiten auszugleichen und auf diese Weise die Fairness des Verfahrens insgesamt zu gewährleisten (vgl. Urteil des EGMR Schatschaschwili gegen Deutschland vom 15. Dezember 2015, Nr. 9154/10, §§ 100 ff.; BGE 148 I 295 E. 2.2; Urteile 6B_659/2014 vom 22. Dezember 2017 E. 9.2; 6B_947/2015 vom 29. Juni 2017 E. 5.5.1; je mit Hinweisen).» (E.1.4.2.2)
«Der EGMR nennt als Elemente, die das Gleichgewicht des Verfahrens wiederherstellen können, namentlich die Tatsachen, dass das urteilende Gericht die nicht konfrontierten Aussagen mit Vorsicht behandelt, dass es sich des geringen Beweiswerts dieser Aussagen bewusst ist oder dass es ausführlich darlegt, warum es diese Aussagen für zuverlässig hält, wobei es die anderen verfügbaren Beweismittel mitberücksichtigt. Eine weitere Möglichkeit eines Ausgleichs sieht der EGMR im Zeigen einer Videoaufnahme der früheren Einvernahme des Belastungszeugen in der Gerichtsverhandlung oder im Vorlegen von Beweismaterial, das die fraglichen Aussagen untermauert, wie z.B. Aussagen von Personen, denen der Belastungszeuge unmittelbar nach den Ereignissen berichtet hat, oder gerichtsmedizinische Unterlagen und Expertisen über Verletzungen oder über die Glaubwürdigkeit des Opfers. Auch die Möglichkeit, einem abwesenden Belastungszeugen schriftlich Fragen zu stellen, erwähnt der EGMR (vgl. Urteil des EGMR Schatschaschwili gegen Deutschland, a.a.O., §§ 125 ff.; BGE 148 I 295 E. 2.3; Urteil 6B_862/2015 vom 7. November 2016 E. 4.3.3; je mit Hinweisen).» (E.1.4.2.3)
Wenden wir uns nun dem konkreten Sachverhalt im Urteil 6B_1137/2020 vom 17. April 2023 zu:
Nach der verbindlichen Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz (vgl. Art. 105 Abs. 1 BGG) war der Beschwerdeführer an den insgesamt drei Einvernahmen von E. vom 2. Oktober 2015, 17. Februar 2016 und 18. Mai 2017 nie anwesend und hatte er folglich keine Möglichkeit, ihm Fragen zu stellen. Zu Recht hält die Vorinstanz daher fest, er habe seinen Konfrontationsanspruch nicht (direkt) wahrnehmen können (angefochtener Entscheid E. 2.5.2 S. 12). Die Vorinstanz erachtet die nichtkonfrontierten Aussagen allerdings gleichwohl als zum Nachteil des Beschwerdeführers verwertbar, da die fehlende Konfrontation nicht in der Verantwortung der Behörden liege, die Aussagen nicht den einzigen Beweis für den Schuldspruch darstellten und – selbst unter der Annahme, den Aussagen käme ausschlaggebende Bedeutung zu – ausreichend kompensierende Faktoren im Sinne der Rechtsprechung vorhanden seien (vgl. angefochtener Entscheid E. 2.5.3 ff. S. 13 ff., insbesondere E. 2.5.4.5 S. 17), erklärt das Bundesgericht (E.1.4.3).
Dieser Beurteilung der Vorinstanz kann durch das Bundesgericht nicht gefolgt werden. Nach eingehender Diskussion kommt das Bundesgericht zur Schlussfolgerung: «Entgegen der vorinstanzlichen Beurteilung fehlt es damit an ausreichend kompensierenden Faktoren, die ein entscheidendes Abstellen auf die Aussagen von E. trotz fehlender Konfrontation rechtfertigen könnten.» (E.1.4.5 a.E.). «Unter diesen Umständen verstösst ein Heranziehen der Aussagen von E. zur Begründung eines mittäterschaftlichen Handelns gegen Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK. Die Aussagen hätten hierzu nicht verwendet werden dürfen. Ob die fehlende Möglichkeit einer Konfrontation den Strafverfolgungsbehörden anzulasten ist, kann bei dieser Sachlage offenbleiben.» (E.1.4.6)
Tatbestand der Erpressung und Teilnahmeformen
Weiter macht das Bundesgericht im Urteil 6B_1137/2020 vom 17. April 2023 folgende generell-abstrakte Ausführungen zum Tatbestand der Erpressung und der Teilnahmeformen:
«Gemäss Art. 156 Ziff. 1 StGB macht sich der Erpressung schuldig, wer in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmässig zu bereichern, jemanden durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile zu einem Verhalten bestimmt, wodurch dieser sich selber oder einen andern am Vermögen schädigt. Wendet der Täter gegen eine Person Gewalt an oder bedroht er sie mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben, so richtet sich die Strafe nach dem Tatbestand des Raubes von Art. 140 StGB (sog. räuberische Erpressung).
Als Mittäter gilt, wer bei der Entschliessung, Planung oder Ausführung eines Delikts vorsätzlich und in massgebender Weise mit anderen Tätern zusammenwirkt, sodass er als Hauptbeteiligter dasteht. Dabei kommt es darauf an, ob der Tatbeitrag nach den Umständen des konkreten Falls und dem Tatplan für die Ausführung des Delikts so wesentlich ist, dass die Tat „mit ihm steht oder fällt“. Der Mittäter muss bei der Entschliessung, Planung oder Ausführung der Tat auch tatsächlich mitwirken. Daraus folgt aber nicht, dass Mittäter nur ist, wer an der eigentlichen Tatausführung beteiligt ist oder sie zu beeinflussen vermag. Tatbestandsmässige Ausführungshandlungen sind nicht notwendige Voraussetzung für die Annahme von Mittäterschaft (vgl. BGE 143 IV 361 E. 4.10; 135 IV 152 E. 2.3.1; 130 IV 58 E. 9.2.1; je mit Hinweisen). Das mittäterschaftliche Zusammenwirken setzt einen gemeinsamen Entschluss voraus, der jedoch nicht ausdrücklich bekundet werden muss; es genügt, wenn er konkludent zum Ausdruck kommt (vgl. BGE 130 IV 58 E. 9.2.1; 125 IV 134 E. 3a; 120 IV 265 E. 2c/aa; je mit Hinweisen). In Mittäterschaft begangene Tatbeiträge werden jedem Mittäter zugerechnet (BGE 143 IV 361 E. 4.10; Urteil 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 5.4; je mit Hinweisen).
Nach Art. 25 StGB macht sich als Gehilfe strafbar, wer zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet. Als Hilfeleistung gilt jeder kausale Beitrag, der die Tat fördert, sodass sich diese ohne Mitwirkung des Gehilfen anders abgespielt hätte. Der Gehilfe fördert eine Tat, wenn er sie durch einen untergeordneten Tatbeitrag unterstützt bzw. wenn er die Ausführung der Haupttat durch irgendwelche Vorkehren oder durch psychische Hilfe erleichtert. Die Hilfeleistung muss tatsächlich zur Tat beitragen und die Erfolgschancen der tatbestandserfüllenden Handlung erhöhen. Nicht erforderlich ist, dass es ohne die Beihilfe nicht zur Tat gekommen wäre (BGE 129 IV 124 E. 3.2; 121 IV 109 E. 3a; 120 IV 265 E. 2c/aa). In subjektiver Hinsicht muss der Gehilfe mindestens damit rechnen und in Kauf nehmen, durch sein Verhalten die Haupttat zu fördern; Eventualvorsatz genügt (BGE 132 IV 49 E. 1.1; Urteil 6B_702/2021 vom 27. Januar 2023 E. 1.3.4; je mit Hinweisen).» (E.1.5.1)
Schlussfolgerungen im vorliegenden Fall
Das Bundesgericht kommt im Urteil 6B_1137/2020 vom 17. April 2023 zur Schlussfolgerung:
«Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass mangels Verwertbarkeit der Aussagen von E. eine in Mittäterschaft verübte Erpressung nicht als erstellt erachtet werden kann. Für den Schuldspruch bleibt dies ohne Bedeutung, da die Vorinstanz den Beschwerdeführer wegen des Verschlechterungsverbots ohnehin nicht der Mittäterschaft, sondern (nur) der Gehilfenschaft zur Erpressung schuldig spricht, und sich die Begründetheit dieses Schuldspruchs aus dem angefochtenen Entscheid ergibt. Anders verhält es sich betreffend die ausgefällte Strafe. Weil die Vorinstanz diese allein mit der – nicht erstellbaren – mittäterschaftlichen Tatbegehung begründet, fehlt es an einer Festsetzung der Strafe für das tatsächlich erwiesene (und den effektiven Schuldspruch ausmachende) strafbare Verhalten der Gehilfenschaft zur Erpressung. Die Beschwerde erweist sich insofern als begründet.» (E.1.6)