Keine Entsiegelung und Durchsuchung von privaten Aufzeichnungen

Im Urteil 1B_332/2022 vom 2. Februar 2023 aus dem Kanton Zürich entschied das Bundesgericht, dass die Entsiegelung und Durchsuchung von in einem Hotelzimmer sichergestellten privaten Aufzeichnungen in diesem Fall nicht zulässig sei (betroffen war eine nicht beschuldigte Person und ein Fall des Nebenstrafrechts). Das Bundesgericht hat die Unterscheidung nach den Eigentumsverhältnissen zwischen «privaten» und «geschäftlichen» Datenträgern bzw. Unterlagen weder als lebensfremd noch als sachwidrig angesehen (E.2.2). Das Bundesgericht erklärte allgemein Folgendes: «Die Durchsuchung von Aufzeichnungen nach Art. 246 StPO ist als strafprozessuale Zwangsmassnahme nur zulässig, wenn sie verhältnismässig ist. Erforderlich ist insbesondere, dass die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO); zudem muss die Bedeutung der Straftat die Massnahme rechtfertigen (Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO). Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO).» (E.2.1 a.E.).

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich führt eine Strafuntersuchung gegen G. sowie gegen Unbekannt wegen des Verdachts auf Widerhandlung gegen das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt zusammengefasst G. sowie die unbekannte Täterschaft, die auch innerhalb der A. AG verortet sein könne, dafür verantwortlich zu sein, dass in Unterlagen der A. (Schweiz) AG gegenüber Anlegerinnen und Anlegern über das Risikoprofil und die Versicherungsdeckungen bzw. die Perspektiven von H. Funds unrichtige oder zumindest irreführende Angaben gemacht wurden.

In diesem Zusammenhang führte die Staatsanwaltschaft am 22. September 2021 sechs verschiedene Hausdurchsuchungen in den Büroräumlichkeiten der A. AG sowie an den Wohnorten von vier (ehemaligen) Mitarbeitenden der A. AG durch. Weiter fand am 23. September 2021 eine Hausdurchsuchung im Hotelzimmer von E. im Hotel Hotel I. in U. statt. Letztere ist Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Betreffend die anlässlich der Hausdurchsuchungen sichergestellten Aufzeichnungen wurde jeweils unverzüglich und umfassend die Siegelung verlangt.

Am 11. Oktober 2021 stellte die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Entsiegelung und Durchsuchung betreffend der von ihr sichergestellten Aufzeichnungen. Das Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich eröffnete daraufhin sechs parallel geführte Entsiegelungsverfahren, getrennt nach Zugriffsort (GT210125-L bis GT210130-L).

Urteil Zwangsmassnahmengericht (Abweisung Entsiegelungsgesuch)

Dem E. wurde mit Verfügung vom 18. Oktober 2021 eine 20-tägige Frist angesetzt, um zum Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entsiegelung und Durchsuchung der in ihrem Hotelzimmer sichergestellten Aufzeichnungen Stellung zu nehmen. E. stellte am 1. November 2021 ein Fristerstreckungsgesuch sowie einen Antrag auf Teilnahme im Parallelverfahren der A. AG (GT210125-L). Das Zwangsmassnahmengericht hiess das Fristerstreckungsgesuch bis zum 22. Dezember 2021 gut und hielt fest, über den Antrag auf Teilnahme im Parallelverfahren werde zu einem späteren Zeitpunkt entschieden. Am 6. Dezember 2021 wurde die A. AG aufgrund ihres Antrags im parallel geführten Entsiegelungsverfahren (GT210125-L) in das vorliegende Entsiegelungsverfahren (GT210130-L) aufgenommen und ihr wurde eine nicht erstreckbare Frist bis zum 3. Januar 2022 gewährt, um eine schriftliche Stellungnahme einzureichen. Mit Eingaben vom 8. und 10. März 2022 ersuchten E. und die A. AG um Sistierung des Entsiegelungsverfahrens, eventualiter um Fristerstreckung. Das Zwangsmassnahmengericht wies das Sistierungsgesuch ab und erstreckte die Frist zur Stellungnahme letztmals um 10 Tage bis zum 21. März 2022. Am 4. Mai 2022 ging seitens der A._ AG eine Noveneingabe inkl. Beilagen beim Zwangsmassnahmengericht ein.

Mit Urteil vom 12. Mai 2022 wies das Zwangsmassnahmengericht das Entsiegelungsgesuch vom 11. Oktober 2021 hinsichtlich der im Hotelzimmer von E. sichergestellten Gegenstände (ein Notizheft blau und ein Notizheft schwarz, iPhone mit blauem Gehäuse, iPad mit Tastaturhülle mit Pen) ab und erwog, die Gegenstände seien nach Eintritt der Rechtskraft des Entscheids an E. herauszugeben.

Beschwerde an das Bundesgericht

Mit Eingabe vom 16. Juni 2022 führt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragt, Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils GT210130-L vom 12. Mai 2022 betreffend Abweisung des Entsiegelungsbegehrens hinsichtlich der darin genannten Aufzeichnungen und deren Rückgabe an E. nach Eintritt der Rechtskraft sei aufzuheben. Die betreffenden Aufzeichnungen seien zu entsiegeln. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung bzw. Vornahme einer Triage an die Vorinstanz zurückzuweisen. Subeventualiter sei die Vorinstanz anzuweisen, die Aufzeichnungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens aufzubewahren.

Die A. AG (Beschwerdegegnerin 1) sowie E. (Beschwerdegegnerin 2) beantragen, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. Das Zwangsmassnahmengericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Beschwerdeführerin nimmt nicht erneut Stellung.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_332/2022 vom 2. Februar 2023

Umstritten ist im vorliegenden Verfahren vor Bundesgericht einzig, ob das Zwangsmassnahmengericht die Verhältnismässigkeit der Entsiegelung der im Hotelzimmer sichergestellten privaten Unterlagen bzw. privaten Datenträger der Beschwerdegegnerin 2 zu Recht verneinte. Dagegen wendet sich die Beschwerdeführerin (Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich). (E.2).

Das Bundesgericht macht im Urteil 1B_332/2022 vom 2. Februar 2023 einleitend die folgenden Ausführungen zum Thema Relevanz für die Strafuntersuchung sowie Verhältnismässigkeitsprinzip:

«Gemäss Art. 246 StPO dürfen Schriftstücke, Ton-, Bild- und andere Aufzeichnungen, Datenträger sowie Anlagen zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass sich darin Informationen befinden, die der Beschlagnahme unterliegen. Nach Art. 263 Abs. 1 lit. a StPO können Gegenstände einer beschuldigten Person oder einer Drittperson beschlagnahmt werden, wenn sie voraussichtlich als Beweismittel gebraucht werden. Zu Beweiszwecken sichergestellte Unterlagen und Daten, deren Entsiegelung die Staatsanwaltschaft verlangt, müssen für die Strafuntersuchung von Bedeutung sein (BGE 137 IV 189 E. 5.1.1 mit Hinweisen). Die Rechtsprechung stellt insoweit keine hohen Anforderungen. Es genügt, wenn die Staatsanwaltschaft aufzeigt, dass sich unter den versiegelten Unterlagen und Daten mutmasslich solche befinden, die für das Strafverfahren relevant sind. Indessen sind auch die Entsiegelung und Durchsuchung von Aufzeichnungen, die grundsätzlich für die Strafuntersuchung von Bedeutung sind, in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht einzuschränken, soweit ein Teil der gesiegelten Daten offensichtlich nicht untersuchungsrelevant ist. Macht deren Inhaberin oder Inhaber fehlende Beweisrelevanz geltend, ist zu substanziieren, inwiefern die fraglichen Aufzeichnungen und Gegenstände zur Aufklärung der untersuchten Straftat offensichtlich untauglich sind (BGE 142 IV 207 E. 7.1.5; 141 IV 77 E. 4.3; Urteil 1B_70/2022 vom 16. August 2022 E. 4.2; je mit Hinweisen).  

Die Durchsuchung von Aufzeichnungen nach Art. 246 StPO ist als strafprozessuale Zwangsmassnahme nur zulässig, wenn sie verhältnismässig ist. Erforderlich ist insbesondere, dass die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können (Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO); zudem muss die Bedeutung der Straftat die Massnahme rechtfertigen (Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO). Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO).» (E.2.1).

Das Bundesgericht äussert sich im zu beurteilenden Fall im Urteil 1B_332/2022 vom 2. Februar 2023 wie folgt (Auszug):

«Wie erwähnt, hatte die Beschwerdegegnerin 2 offenbar ausschliesslich geschäftliche Berührungspunkte mit dem H. Funds und zudem ist sie im Strafverfahren auch nicht förmlich beschuldigt. Gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO (vgl. E. 2.1 hiervor) sind bei Dritten in Grundrechte eingreifende Zwangsmassnahmen nur zurückhaltend einzusetzen. Wenn die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, bei der Beschwerdegegnerin 2 handle es sich nicht um eine unbeteiligte Dritte, sondern um eine „beschuldigtenähnliche Auskunftsperson“, ändert dies nichts an der grundsätzlich erforderlichen Zurückhaltung bei der Einsetzung von Zwangsmassnahmen bei nicht förmlich Beschuldigten. 

Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin kann nach dem Gesagten die Unterscheidung nach den Eigentumsverhältnissen zwischen „privaten“ und „geschäftlichen“ Datenträgern bzw. Unterlagen weder als lebensfremd noch als sachwidrig bezeichnet werden. Dies gilt selbst, wenn nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann, dass allenfalls auf den privaten Datenträgern bzw. Unterlagen untersuchungsrelevante Aufzeichnungen gespeichert sein könnten. Die rein theoretische Möglichkeit rechtfertigt die von der Beschwerdeführerin angestrebte umfassende Entsiegelung der privaten Datenträger und Unterlagen unter den konkreten Umständen jedenfalls nicht. 

Die Vorinstanz hat dabei weiter zu Recht auch die Bedeutung der untersuchten Straftat berücksichtigt (vgl. Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO) und festgehalten, bei dem G. und Unbekannt vorgeworfenen Delikt gegen das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb handle es sich nicht um ein Verbrechen oder um eine besonders schwere Straftat, sondern um ein Antragsdelikt aus dem Nebenstrafrecht. Dieses soll sich, wie erwähnt, in einem rein geschäftlichen Kontext abgespielt haben. Etwas Gegenteiliges behauptet die Beschwerdeführerin nicht. Sie macht einzig geltend, es liege ein „grosses öffentliches und (für die Investoren) privates Interesse an der umfassenden Sachverhaltsaufklärung“ vor, ohne dieses näher zu substanziieren. 

Entgegen der Kritik der Beschwerdeführerin kann der Vorinstanz schliesslich auch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV vorgeworfen werden. Sie hat vielmehr in der gebotenen Tiefe dargelegt, weshalb vorliegend der Eingriffszweck und die Eingriffswirkung nicht in einem vernünftigen Verhältnis stehen und die Entsiegelung zu verweigern ist (vgl. E. 4 des angefochtenen Entscheids). Inwiefern die Vorinstanz darüber hinaus willkürlich gehandelt haben soll, indem sie die Beweiserheblichkeit der privaten Unterlagen und Datenträger der Beschwerdegegnerin 2 verneinte, ist weder ersichtlich noch von der Beschwerdeführerin nachvollziehbar dargetan.» (E.2.2).

Es ist nach dem Dargelegten vom Bundesgericht nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das Entsiegelungsgesuch betreffend die im Hotelzimmer sichergestellten privaten Datenträger und Unterlagen der Beschwerdegegnerin 2 abgewiesen hat. Die Vorinstanz hat gemäss dem Bundesgericht weder Art. 197 Abs. 1 lit. c und d StPO noch Art. 246 bzw. Art. 248 StPO verletzt, indem sie die Durchsuchung und Auswertung der aus der privaten Umgebung der Beschwerdegegnerin 2 sichergestellten Gegenstände, welche keinen offensichtlichen Zusammenhang zu ihrer Geschäftstätigkeit aufweisen, als unverhältnismässigen Eingriff in die Privatsphäre erachtet hat. Insofern ist auch die Rückgabe der nicht entsiegelten Aufzeichnungen und Gegenstände nicht zu beanstanden. (E.2.3).

Bemerkungen zum Urteil 1B_332/2022 vom 2. Februar 2023

Das Urteil ist im Ergebnis richtig und erfreulich. Es zeigt auf, dass bei der Entsiegelung und Durchsuchung von Aufzeichnungen Grenzen bestehen. Es darf aber aus diesem Urteil, auch wenn sich das Bundesgericht für die Unterscheidung zwischen geschäftlichen und privaten Aufzeichnungen ausspricht, nicht die generelle Schlussfolgerung gezogen werden, dass private Aufzeichnungen niemals entsiegelt und durchsucht werden dürfen. Es ist immer der Einzelfall zu betrachten. Und wie das Bundegericht betonte war in diesem Fall für das Ergebnis auch entscheidend, dass es sich einerseits um die (privaten) Aufzeichnungen einer nicht beschuldigten Person handelte und andererseits Delikte aus dem Nebenstrafrecht zur Diskussion stehen (und mithin kein Kapitalverbrechen).

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