Keine Beschwerde bei Ablehnung von neuem forensisch-psychiatrischen Gutachten durch Staatsanwaltschaft

Im Urteil 1B_162/2022 vom 17. Februar 2023 (zur amtl. Publ. vorgesehen) aus dem Kanton Bern befasste sich das Bundesgericht mit einer Beschwerde gegen einen Beschluss der Vorinstanz, welches kein zweites psychiatrisches Gutachten vom Beschuldigten erstellen lassen wollte. Im Zentrum des Urteils steht nicht das psychiatrische Gutachten, sondern das Verfahrensrecht. Das Bundesgericht entschied, dass die Vorinstanz die Sachurteilsvoraussetzung von Art. 394 lit. b StPO zu Recht verneint bzw. kein nicht wieder gut zu machender Rechtsnachteil vorlag und deshalb nicht auf die kantonale Beschwerde des Beschuldigten eingetreten ist (E.3.5).

Die Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland führt ein Strafverfahren gegen A. wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung und Drohung. Ihm wird insbesondere vorgeworfen, am 25. Dezember 2020 seine Partnerin erschossen zu haben. Er wurde gleichentags verhaftet und befindet sich seither in Haft.

Mit forensisch-psychiatrischem Gutachten vom 8. August 2021 diagnostizierte der Gutachter eine Störung durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum psychotroper Substanzen, ein Abhängigkeitssyndrom (Alkohol, Cannabis, Kokain, Benzodiazepine und Nikotin), gegenwärtig teilweise abstinent (Alkohol, Cannabis, Kokain) in geschützter Umgebung (ICD-10 F 19.2), sowie eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Anteilen (ICD-10 F 60.2). Weiter attestierte der Gutachter eine ungünstige Rückfallprognose und empfahl eine (allenfalls strafbegleitende) Massnahme. Das Gutachten wurde am 1. November 2021 ergänzt.

Am 10. Dezember 2021 beantragte A. ein neues forensisch-psychiatrisches Gutachten. Diesen Antrag wies die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 13. Januar 2022 ab.

Instanzenzug

Dagegen erhob A. am 28. Januar 2022 Beschwerde bei der Beschwerdekammer in Strafsachen beim Obergericht des Kantons Bern und beantragte, die Verfügung sei aufzuheben und sein Beweisantrag gutzuheissen. Das Obergericht trat mit Beschluss vom 18. Februar 2022 nicht auf die Beschwerde ein.

Weiterzug an das Bundesgericht

Mit Beschwerde in Strafsachen vom 25. März 2022 beantragt A. vor Bundesgericht, den Beschluss der Strafkammer des Obergerichts vom 18. Februar 2022 aufzuheben und ein neues psychiatrisches Gutachten durch einen unabhängigen Gutachter erstellen zu lassen. Eventualiter sei der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft haben auf Vernehmlassung verzichtet.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 1B_162/2022 vom 17. Februar 2023

Da die Vorinstanz auf das Rechtsmittel des Beschwerdeführers nicht eingetreten ist, beschränkt sich der Streitgegenstand vor Bundesgericht auf die Eintretensfrage. Soweit der Beschwerdeführer Sachanträge stellt, die über eine reine Rückweisung hinausgehen, ist darauf nicht einzutreten (vgl. BGE 144 II 184 E. 1.1 mit Hinweisen), bemerkt das Bundesgericht weiter (E.1.4).

Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht eine willkürliche Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz. Da er weder präzisiert, welche Elemente des rechtserheblichen Sachverhalts davon betroffen seien, noch inwiefern die Vorinstanz bei deren Feststellung Bundesrecht im Sinne von Art. 95 BGG verletzt haben soll, ist darauf in Ermangelung einer rechtsgenüglichen Begründung (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 I 1 E. 3.5) nicht weiter einzugehen, erklärt das Bundesgericht (E.2).

Zu prüfen ist weiter, ergänzt das Bundesgericht, ob die Vorinstanz auf die kantonale Beschwerde des Beschwerdeführers hätte eintreten müssen. (E.3).

Der Beschwerdeführer macht zusammengefasst, wie das Bundesgericht erläutert, geltend, das forensisch-psychiatrische Gutachten vom 8. August 2021 bzw. 1. November 2021 sei in mehrerer Hinsicht fehlerhaft und nicht von einem unvoreingenommenen Gutachter erstellt worden. Er habe deshalb die Erstellung eines neuen psychiatrischen Gutachtens durch einen anderen Gutachter beantragt. Dieser Beweisantrag könne nicht ohne Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht wiederholt werden. Ihm stehe zwar kein Beweisverlust bevor, der Rechtsnachteil bestehe aber darin, dass in der Zwischenzeit jeweils auf das bestehende, seiner Ansicht nach mangelbehaftete forensisch-psychiatrische Gutachten abgestellt werde. So habe sich das kantonale Zwangsmassnahmengericht sowie auch die Vorinstanz selbst jeweils auf das streitige Gutachten gestützt, um seine Inhaftierung zu rechtfertigen. Das fragliche Gutachten stelle dabei entgegen den Ausführungen der Vorinstanz ein zentrales Beweismittel dar und sei deshalb auch mehrfach in den besagten Haftentscheiden zitiert worden. Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, er habe das seiner Ansicht nach mangelbehaftete Gutachten in den entsprechenden Haftverfahren „immer wieder an mehreren Stellen kritisiert“; dies entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch im bundesgerichtlichen Haftverfahren 1B_678/2021. Schliesslich macht der Beschwerdeführer auch geltend, er habe ein rechtlich geschütztes Interesse an der Erstellung eines mängelfreien psychiatrischen Gutachtens und der Entfernung des bestehenden, seiner Auffassung nach unverwertbaren Gutachtens. (E.3.1)

Das Bundesgericht nimmt im Urteil 1B_162/2022 vom 17. Februar 2023 weiter wie folgt Stellung:

«Nach der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer keinen drohenden Rechtsnachteil im Sinne von Art. 394 lit. b StPO dargelegt, weshalb nicht auf die Beschwerde eingetreten werden könne. Durch die Ablehnung des beantragten neuen Gutachtens drohe dem Beschwerdeführer kein Beweisverlust, da er diesen vor dem erstinstanzlichen Gericht sowie gegebenenfalls dem Berufungsgericht wiederholen könne.  

Soweit der Beschwerdeführer befürchte, es werde künftig insbesondere bei Haftentscheiden auf das seiner Ansicht nach unzulässige forensisch-psychiatrische Gutachten abgestellt, so sei ihm entgegenzuhalten, dass in bisherigen Haftentscheiden der besondere Haftgrund der Wiederholungsgefahr (auch) unabhängig vom kritisierten Gutachten bejaht worden sei. Die Vorinstanz habe dieses ausserdem im Rahmen eines Haftverfahrens einer summarischen Würdigung unterzogen und es als in sich schlüssig und vollständig erachtet, was vom Beschwerdeführer im nachfolgenden bundesgerichtlichen Verfahren 1B_678/2021 nicht bestritten worden sei. 

Schliesslich sei einzig der abgelehnte Antrag auf Erstellung eines neuen Gutachtens Anfechtungsobjekt und nicht etwa ein abgelehnter Antrag auf Entfernung eines angeblich unverwertbaren Beweises aus den Strafakten. Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, er habe ein schutzwürdiges Interesse an der frühzeitigen Entfernung unverwertbarer Beweise, könne er daher nichts zu seinen Gunsten ableiten; zudem sei das schutzwürdige Interesse gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO nicht mit dem nicht wieder gutzumachenden Nachteil gemäss Art. 394 lit. b StPO gleichzusetzen.» (E.3.2)

«Die strafprozessuale Beschwerde ist gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO unter anderem gegen Verfügungen und Verfahrenshandlungen der Staatsanwaltschaft zulässig. Sie ist hingegen ausgeschlossen gegen die Ablehnung von Beweisanträgen durch die Staatsanwaltschaft, wenn der Antrag ohne Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht wiederholt werden kann (Art. 394 lit. b StPO). Diese Bestimmung dient dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung gemäss Art. 5 StPO (BGE 143 IV 475 E. 2.5 mit Hinweis). Nach der Rechtsprechung ist der in Art. 394 lit. b StPO genannte Rechtsnachteil gleichbedeutend mit dem nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (Urteil 1B_682/2021 vom 30. Juni 2022 E. 3.1). Es muss sich somit um einen Nachteil rechtlicher Natur handeln (vgl. BGE 144 IV 127 E. 1.3.1, 321 E. 2.3 mit Hinweisen). Ein lediglich tatsächlicher Nachteil wie die Verteuerung oder Verlängerung des Verfahrens genügt nicht (BGE 144 IV 321 E. 2.3; 142 III 798 E. 2.2; je mit Hinweisen).  

Die Rechtsprechung bejaht einen solchen Nachteil, wenn eine konkrete Gefahr der Zerstörung oder des Verlusts von rechtserheblichen Beweismitteln besteht. Zu denken ist dabei etwa an die Einvernahme von Zeugen, die hochbetagt, schwer erkrankt oder im Begriff sind, das Land für längere Zeit zu verlassen. Auch die Erstellung eines Gutachtens fällt in Betracht, wenn befürchtet werden muss, dass dies zu einem späteren Zeitpunkt wegen veränderter Umstände nicht mehr möglich sein wird (Urteile 1B_108/2022 vom 10. Oktober 2022 E. 3.1; 1B_682/2021 vom 30. Juni 2022 E. 3.1; je mit Hinweisen; vgl. Urteil 1B_265/2020 vom 31. August 2020 E. 3.1 mit Hinweisen). Die bloss theoretische Möglichkeit eines Beweisverlusts genügt dabei nicht; erforderlich ist vielmehr ein konkretes Risiko (Urteil 1B_108/2022 vom 10. Oktober 2022 E. 3.1 mit Hinweisen).» (E.3.3)

«Die forensisch-psychiatrische Begutachtung im Strafverfahren greift in die Grundrechte der beschuldigten Person und insbesondere ihr Recht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und Schutz der Privatsphäre (Art. 13 Abs. 1 BV) ein (Urteile 1B_242/2018 vom 6. September 2018 E. 2.4 mit Hinweisen; 1B_520/2017 vom 4. Juli 2018 E. 1.2; nicht publ. in BGE 144 I 253). Das Gesetz legt besonderes Gewicht darauf, dass schon im Vorverfahren für ein grundsätzlich gültiges und gerichtlich verwertbares psychiatrisches Gutachten zu sorgen ist: Vor der Begutachtung ist die Person der Gutachterin bzw. des Gutachters (im Verfahren nach Art. 182 bis 184 StPO) definitiv zu ernennen und der Gutachtensauftrag verbindlich festzulegen. Auch die Modalitäten der Begutachtung sind vor der Ausarbeitung des Gutachtens festzulegen (Art. 184 bis 185 StPO). Zudem ist das psychiatrische Gutachten schon im Vorverfahren inhaltlich durch die Verfahrensleitung und die Parteien zu prüfen (vgl. Urteile 1B_520/2017 vom 4. Juli 2018 E. 1.2; nicht publ. in BGE 144 I 253; 1B_242/2018 vom 6. September 2018 E. 2.4 mit Hinweisen). So bringt die Verfahrensleitung den Parteien das schriftlich erstattete Gutachten zur Kenntnis und setzt ihnen eine Frist zur Stellungnahme (Art. 188 StPO). Nach Art. 189 StPO lässt die Verfahrensleitung das Gutachten von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei durch die gleiche sachverständige Person ergänzen oder verbessern oder bestimmt weitere sachverständige Personen, wenn das Gutachten unvollständig oder unklar ist (lit. a), mehrere sachverständige Personen in ihren Ergebnissen erheblich voneinander abweichen (lit. b) oder Zweifel an der Richtigkeit des Gutachtens bestehen (lit. c).» (E.3.4)

Das Bundesgericht entscheiden alsdann den Fall im Urteil 1B_162/2022 vom 17. Februar 2023 wie folgt: «Im vorliegenden Fall kann der Argumentation des Beschwerdeführers nicht gefolgt werden. Nach der zitierten Rechtsprechung wird der Rechtsnachteil im Sinne von Art. 394 lit. b StPO bei drohendem Beweisverlust bejaht; ein solcher wird vom Beschwerdeführer selbst aber ausdrücklich verneint. Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern dem Beschwerdeführer – entgegen seinen eigenen Ausführungen – ein Beweisverlust drohen soll: Bei psychiatrischen Gutachten liegt die diesbezügliche Gefahr grundsätzlich darin, dass das gerichtliche Hauptverfahren regelmässig erst viele Monate oder gar einige Jahre nach der Begutachtung und zeitlich noch weiter von der untersuchten Straftat entfernt stattfindet. Käme das Sachgericht zum Schluss, das psychiatrische Gutachten sei mangelhaft oder gar unverwertbar, wäre eine erneute Begutachtung nach Ablauf derart langer Zeitspannen möglicherweise nicht mehr sachdienlich (vgl. Urteil 1B_520/2017 vom 4. Juli 2018 E. 1.2, nicht publ. in BGE 144 I 253). Dass sich diese Gefahr im konkreten Fall verwirklichen könnte, ist grundsätzlich vom Beschwerdeführer darzulegen. Dieser behauptet in seiner Beschwerdeschrift zwar, das forensisch-psychiatrische Gutachten vom 8. August 2021 bzw. 1. November 2021 sei in verschiedener Hinsicht mangelhaft, begründet dies aber nicht weiter. Insbesondere legt er nicht substanziiert dar, inwiefern das Gutachten unverwertbar sein soll oder es aufgrund einer der in Art. 189 StPO genannten Voraussetzungen ergänzt oder verbessert werden müsste. Soweit ersichtlich, hat der Beschwerdeführer bisher weder die Entfernung des Gutachtens aus den Akten (vgl. Art. 141 Abs. 5 StPO), dessen Verbesserung (vgl. Art. 198 StPO) oder den Ausstand des Gutachters (vgl. Art. 56 ff. StPO) verlangt. Es bestehen somit keine objektiven Hinweise dafür, dass sich das forensisch-psychiatrische Gutachten vom 8. August 2021 bzw. 1. November 2021 als mangelhaft oder unverwertbar herausstellen könnte. 

Unter diesen Umständen ist auch nicht ersichtlich, inwiefern dem Beschwerdeführer durch die Verweigerung eines neuen psychiatrischen Gutachtens ein Rechtsnachteil im Sinne von Art. 394 lit. b StPO in Haftverfahren (in welchen psychiatrische Gutachten im Übrigen immerhin summarisch überprüft werden, vgl. Urteile 1B_555/2022 vom 25. November 2022 E. 6.3; 1B_496/2022 vom 2. November 2022 E. 6.4; je mit Hinweis) drohen soll. 

Nicht weiter einzugehen ist schliesslich auch auf die Ausführungen des Beschwerdeführers zum Rechtsschutzinteresse, welche – wie schon die Vorinstanz zutreffend festgehalten hat – nicht die Voraussetzung des drohenden Rechtsnachteils, sondern die Legitimation (vgl. Art. 382 StPO) und damit eine andere Eintretensvoraussetzung betreffen. 

Nach dem Erwogenen ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die Sachurteilsvoraussetzung von Art. 394 lit. b StPO verneint hat und auf die Beschwerde nicht eingetreten ist.» (E.3.5).

Das Bundesgericht weist im Urteil 1B_162/2022 vom 17. Februar 2023 die Beschwerde ab, soweit es auf sei eintritt (E.4).

 

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