Kein Anspruch auf zusätzliche Entschädigung zur bereits nach Art. 41 EMRK durch den EGMR zugesprochenen Entschädigung

Im Urteil 7B_800/2023 vom 18. Dezember 2023 aus dem Kanton Zürich (zur amtl. Publ. vorgesehen) befasste sich das Bundesgericht mit der Frage einer zusätzlichen, nationalen Entschädigung zur bereits nach Art. 41 EMRK durch den EGMR zugesprochenen Entschädigung. Das Bundesgericht äussert sich u.a. wie folgt: «Nach der Rechtsprechung des EGMR kann ein Vertragsstaat, wenn er es für richtig hält, zusätzlich zu der bereits nach Art. 41 EMRK durch den EGMR zugesprochenen Entschädigung eine weitere Entschädigung gewähren […].» (E.2.2). «Die Auffassung des Beschwerdeführers, die Vorinstanz hätte die Genugtuungsforderung für den zu Unrecht erlittenen Freiheitsentzug […] inhaltlich beurteilen müssen, obwohl der EGMR bereits über die betreffende Forderung befunden und eine Entschädigung […] zugesprochen hat, findet im Schweizerischen Recht keine Stütze. Dies ergibt sich aus den Bestimmungen über das im BGG geregelte Revisionsverfahren, welches im Nachgang einer durch den EGMR festgestellten Konventionsverletzung durchzuführen ist.» (E.2.3).

Sachverhalt

Das Geschworenengericht des Kantons Zürich verurteilte A. (ehemals B.) mit Urteilen vom 6./12. Mai 1993 und 4. Juli 1995 wegen Mordes, vorsätzlicher Tötung und weiterer Delikte zu 20 Jahren Zuchthaus. Von der Anordnung einer Verwahrung im Sinne von aArt. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB sah es ab, weil es den Zweck des Schutzes der Gesellschaft als durch den Vollzug der langen Freiheitsstrafe gewährleistet erachtete. Die Freiheitsstrafe (unter Einbezug von Reststrafen aus drei früheren Strafurteilen) endete am 8. Oktober 2010. A. wurde anschliessend in Sicherheitshaft versetzt.

Instanzenzug

Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich stellte am 24. November 2009 beim Obergericht des Kantons Zürich das Gesuch um nachträgliche Verwahrung gestützt auf Art. 65 Abs. 2 StGB. Die Revisionskammer des Obergerichts bejahte die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hob den Entscheid am 10. September 2010 auf und wies die Sache an die Revisionskammer zurück. Diese wies das Gesuch der Oberstaatsanwaltschaft am 22. November 2010 ab. Das Kassationsgericht wies die von der Oberstaatsanwaltschaft erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde am 30. April 2011 ab, soweit es darauf eintrat. Das Bundesgericht hiess die von der Oberstaatsanwaltschaft erhobene Beschwerde in Strafsachen mit Urteil 6B_404/2011 vom 2. März 2012 gut und wies die Sache an die Revisionskammer zurück.

Das Obergericht (I. Strafkammer als Nachfolgerin der Revisionskammer) bejahte die revisionsrechtlichen Voraussetzungen von Art. 65 Abs. 2 StGB und überwies das Verfahren an das Bezirksgericht Zürich, das am 15. August 2013 die nachträgliche Verwahrung gemäss Art. 65 Abs. 2 i.V.m. Art. 64 Abs. 1 lit. b StGB anordnete. Das Obergericht (II. Strafkammer) wies am 16. Juli 2014 die von A. erhobene strafrechtliche Berufung ab. Das Bundesgericht wies mit Urteil 6B_896/2014 vom 16. Dezember 2015 die von A. gegen das obergerichtliche Urteil erhobene Beschwerde in Strafsachen ab, soweit es darauf eintrat.

Dagegen erhob A. Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Darin beantragte er unter anderem eine Entschädigung von Fr. 100’000.– pro zu Unrecht erlittenem Jahr in Haft, dies ab dem 18. Oktober 2010, dem Tag, an welchem er hätte freigelassen werden sollen. Die Dritte Kammer des EGMR stellte mit einstimmig ergangenem Urteil W.A. gegen die Schweiz vom 2. November 2021 (Nr. 38958/16) eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 EMRK, Art. 7 Ziff. 1 EMRK und Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls fest. Sie sprach A. gestützt auf Art. 41 EMRK Euro 40’000.– als Entschädigung sowie Euro 6’000.– als Kosten- und Auslagenersatz zulasten der Schweiz zu und lehnte eine Entschädigung im Übrigen ab.

Der A. verlangte mit Eingabe vom 3. Februar 2022 die Revision des bundesgerichtlichen Urteils 6B_896/2014 vom 16. Dezember 2015. Er beantragte unter anderem, er sei für den ungesetzlichen Freiheitsentzug seit 8. Oktober 2010 angemessen zu entschädigen, wobei er seine Forderung im Rahmen der Beschwerdebegründung auf Fr. 100’000.– pro Jahr ungesetzlichen Freiheitsentzugs bezifferte.

Das Bundesgericht hiess das Revisionsgesuch von A. im Verfahren 6F_5/2022 am 2. März 2022 gut, soweit es darauf eintrat. Es hob Ziff. 1 des Dispositivs des Urteils 6B_896/2014 vom 16. Dezember 2015 auf und fasste diese wie folgt neu: „1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. Juli 2014 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Im zweiten Berufungsverfahren vor dem Obergericht des Kantons Zürich stellte A. unter anderem den Antrag, es sei festzustellen, dass er vom 9. Oktober 2010 bis 14. März 2022 ungesetzlich in Haft gewesen und ihm hierfür eine angemessene Genugtuung zuzusprechen sei, jedenfalls nicht unter Fr. 500’000.–.

Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtete im zweiten Berufungsverfahren mit Urteil vom 17. November 2022 auf die Anordnung einer nachträglichen Verwahrung. Auf die Genugtuungs- und Schadenersatzbegehren trat es nicht ein. Weiter befand es über die Verfahrens- und Parteikosten.

Weiterzug ans Bundesgericht

Der A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, es sei ihm für die ungesetzliche Haft (unter Aufhebung der entsprechenden Dispositiv-Ziffer) eine angemessene Genugtuung zuzusprechen, jedenfalls nicht unter Fr. 500’000.–. Eventualiter sei er mit einer gutachterlich zu berechnenden Summe zu entschädigen, welche die aufgrund des Erwerbsausfalls erlittene Vermögenseinbusse sowie die finanzielle Schlechterstellung insbesondere auch im Sozialversicherungsbereich (AHV, BVG, 3. Säule) berücksichtige. Die kantonalen Akten sowie die Vorakten des Bundesgerichts wurden beigezogen. Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_800/2023 vom 18. Dezember 2023

Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht, die Vorinstanz verletze Bundesrecht. Das Urteil des Bundesgerichts vom 2. März 2022 im Revisionsverfahren 6F_5/2022 entfalte keine Bindungswirkung hinsichtlich der Frage, ob er zusätzlich zur vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zugesprochenen Entschädigung Anspruch auf Genugtuung habe. Die Vorinstanz verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, indem sie den Anspruch auf Ausrichtung einer Genugtuung materiell nicht prüfe bzw. auf sein Begehren nicht eintrete. Mit dem Entscheid des Bundesgerichts, im Revisionsverfahren könne nicht auf die Frage der Genugtuung zurückgekommen werden, sei noch nicht entschieden worden, wie diese Frage im wiederaufgenommenen Verfahren vor dem Obergericht zu beurteilen sei. Das Verfahren sei in jenem Stand an die Vorinstanz zurückgewiesen worden, in welchem es sich im Jahr 2014 befunden habe. Damals sei die Frage der Genugtuung für zu Unrecht erlittene Haft noch kein Thema gewesen. Hierfür könne das Urteil des Bundesgerichts vom 2. März 2022 im Verfahren 6F_5/2022 keine Bindungswirkung entfalten, argumentiert der Beschwerdeführer.

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_800/2023 vom 18. Dezember 2023 generell-abstrakt zur Frage der zusätzlichen Entschädigung zum vom EGMR nach Art. 41 EMRK zugesprochenen Entschädigung wie folgt:

«Gemäss Art. 41 EMRK kann der EGMR der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zusprechen, wenn er eine Konventionsverletzung festgestellt hat und das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gestattet.  Nach der Rechtsprechung des EGMR kann ein Vertragsstaat, wenn er es für richtig hält, zusätzlich zu der bereits nach Art. 41 EMRK durch den EGMR zugesprochenen Entschädigung eine weitere Entschädigung gewähren, entweder in Form von zusätzlichem Geld oder in einer anderen Form, z.B. der Milderung einer verhängten Strafe (Urteil des EGMR Baybasin gegen die Niederlande vom 6. Juli 2006, Nr. 13600/02, § 76). Eine zusätzliche Entschädigung hängt damit vom innerstaatlichen Recht ab (vgl. dazu bereits Urteil 6F_5/2022 vom 2. März 2022 E. 2.3.3 mit Hinweisen).» (E.2.2)

«Die Auffassung des Beschwerdeführers, die Vorinstanz hätte die Genugtuungsforderung für den zu Unrecht erlittenen Freiheitsentzug im betragsmässig gleichen Spektrum (von mehreren Hunderttausend Schweizerfranken) inhaltlich beurteilen müssen, obwohl der EGMR bereits über die betreffende Forderung befunden und eine Entschädigung von Euro 40’000.– zugesprochen hat, findet im Schweizerischen Recht keine Stütze. Dies ergibt sich aus den Bestimmungen über das im BGG geregelte Revisionsverfahren, welches im Nachgang einer durch den EGMR festgestellten Konventionsverletzung durchzuführen ist.» (E.2.3)

«Gemäss Art. 122 BGG kann die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts verlangt werden, wenn der EGMR in einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind (lit. a), eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen (lit. b), und die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen (lit. c). Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein (BGE 147 I 494 E. 2 mit Hinweisen).  

Gemäss Art. 128 Abs. 1 BGG hebt das Bundesgericht den früheren Entscheid auf und entscheidet neu, wenn es findet, dass der Revisionsgrund zutrifft. Entscheidet das Bundesgericht in einer Strafsache neu, ist Artikel 415 StPO sinngemäss anwendbar (Art. 128 Abs. 3 BGG). 

Nach Art. 415 Abs. 2 StPO werden der beschuldigten Person zu viel bezahlte Bussen oder Geldstrafen zurückerstattet, wenn sie freigesprochen, milder bestraft oder das Verfahren eingestellt wird; Ansprüche der beschuldigten Person auf Entschädigung oder Genugtuung richten sich nach Artikel 436 Absatz 4 StPO. Nach letzterer Bestimmung hat die nach einer Revision freigesprochene oder milder bestrafte beschuldigte Person Anspruch auf angemessene Entschädigung für ihre Aufwendungen im Revisionsverfahren. Sie hat zudem Anspruch auf Genugtuung und Entschädigung für ausgestandenen Freiheitsentzug, sofern dieser Freiheitsentzug nicht an die wegen anderer Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann.» (E.2.4.1)

«Eine Revision wegen Verletzung der EMRK setzt nach Art. 122 lit. b BGG namentlich voraus, dass eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen. Nach der Rechtsprechung besteht für die Revision eines bundesgerichtlichen Urteils kein Anlass mehr, wenn der EGMR eine die Folgen der Konventionsverletzung ausgleichende Entschädigung gesprochen hat. Möglich bleibt die Revision nur insoweit, als sie geeignet und erforderlich ist, um über die finanzielle Abgeltung hinaus fortbestehende, konkrete nachteilige Auswirkungen der Konventionsverletzung im Rahmen des ursprünglichen Verfahrens zu beseitigen (BGE 147 I 494 E. 2.2 mit Hinweisen).  

Die bundesgerichtliche Revision gestützt auf ein Urteil des EGMR dient mit anderen Worten ausschliesslich dazu, nicht-finanzielle Nachteile auszugleichen (vgl. Art. 122 lit. b BGG e contrario). Der angefochtene bundesgerichtliche Entscheid wird im Rahmen einer Revision nur soweit aufgehoben, als der Revisionsgrund gegeben ist und damit die Gutheissung des Gesuchs ein solches Vorgehen erfordert (vgl. ELISABETH ESCHER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 1 zu Art. 128 BGG, welche auf die frühere Praxis unter der Geltung des OG in BGE 120 V 150 E. 3a verweist). Dies wirkt sich auf das nachfolgende kantonale Verfahren aus, welches gestützt auf das in Revision gezogene bundesgerichtliche Urteil durchgeführt werden muss. Das kantonale Verfahren wird nicht erneut auf nicht der Revision zugängliche finanzielle Aspekte hinaus ausgeweitet, über welche der EGMR bereits entschieden hat. Dies gilt, auch wenn die Wiederaufnahme des kantonalen Verfahrens bezüglich der wiederaufzunehmenden Punkte ex tunc wirkt und das Bundesgericht und die Verfahrensbeteiligten in jenen Zustand versetzt, in welchem sie sich vor der damaligen Urteilsfällung befunden hatten (BGE 147 I 494 E. 1.2 in fine mit Hinweis). Die Wiederaufnahme im kantonalen Verfahren bewegt sich in den Grenzen des Streitgegenstandes, welcher vor Bundesgericht ein Thema war. Art. 415 StPO, auf welchen Art. 128 Abs. 3 BGG „sinngemäss“ verweist, ist nur soweit anwendbar, als die darin thematisierten Folgen eines neuen Entscheids Verfahrensgegenstand des bundesgerichtlichen Revisionsverfahrens bilden. Betroffen sind ausschliesslich Ansprüche, über welche der EGMR nicht entschieden hat. Dies wurde dem Beschwerdeführer bereits im Verfahren 6F_5/2022 vom 2. März 2022 beschieden. Es fehlt an einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage für eine zusätzliche finanzielle Entschädigung für den zu Unrecht erlittenen Freiheitsentzug, nachdem der EGMR eine solche beurteilt und zugesprochen hat. Insoweit ist die Vorinstanz in Nachachtung der Bindungswirkung eines bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheids richtigerweise davon ausgegangen, die betreffende Entschädigung sei vor ihr kein Thema mehr. Das vorinstanzliche Nichteintreten auf die Entschädigungsforderung verletzt damit weder Bundesrecht noch den Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Beschwerde ist abzuweisen.» (E.2.4.2) .

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