Grundsatz der Verhältnismässigkeit im Entsiegelungsverfahren

Im Urteil 7B_211/2023 vom 7. Mai 2024 aus dem Kanton St. Gallen ging es um einen Fall aus dem Wirtschaftsstrafrecht, wo die Behörden sehr viele Daten sicherstellten. Im folgenden Entsiegelungsverfahren äusserte sich das Bundesgericht zur Verhältnismässigkeit: «Strafprozessuale Zwangsmassnahmen müssen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren. […]. Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO).  Zunächst muss die Entsiegelung, um das Verhältnismässigkeitsgebot zu wahren, zur Klärung des Tatverdachts geeignet sein. Dies trifft zu, wenn die zu entsiegelnden Aufzeichnungen und Gegenstände für die Strafuntersuchung potentiell beweiserheblich sind […]. Grundsätzlich ist ein solcher Deliktskonnex nicht für jeden Gegenstand bzw. jede Aufzeichnung einzeln, sondern gesamthaft zu prüfen. Sind jedoch gewisse Gegenstände und Aufzeichnungen offensichtlich nicht untersuchungsrelevant, ist deren Entsiegelung dementsprechend in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht einzuschränken […]. Weiter muss die Entsiegelung für die Klärung des Tatverdachts erforderlich sein, was grundsätzlich bedeutet, dass keine milderen Mittel zum selben Zweck führen dürfen. Die theoretische Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft die auf den versiegelten Aufzeichnungen und Gegenständen gesuchten Informationen auch auf andere Weise erlangen könnte, steht der Entsiegelung allerdings nicht entgegen […]. Schliesslich muss die Entsiegelung, insbesondere im Verhältnis zur Bedeutung der untersuchten Straftat, angemessen sein. Im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Entsiegelung ist deshalb auch der Schwere der untersuchten Delikte Rechnung zu tragen.» (E.4.1). Im vorliegenden Fall hielt das Bundesgericht die Beschlagnahmen für nicht verhältnismässig, u.a. wie folgt: Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass alle auf den sichergestellten Datenträgern befindlichen Daten für das Strafverfahren gegen den Beschuldigten relevant sind. Soweit die Vorinstanz die Datenträger des Beschwerdeführers vollumfänglich entsiegeln möchte, kann ihr deshalb nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz hätte die Entsiegelung der Datenträger des nicht beschuldigten Beschwerdeführers gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO einschränken müssen […]. Die umfassende Entsiegelung hält vor Bundesrecht nicht stand.» (E.4.3).

Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft St. Gallen, kantonales Untersuchungsamt, führt ein Strafverfahren gegen B.A. wegen gewerbsmässigen Betrugs, versuchten unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe und Vergehens gegen das Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10). Sie wirft ihm vor, bei Sozialversicherungsträgern, Ärzten und Therapeuten physische und psychische Beschwerden nur vorgetäuscht oder massiv übertrieben dargestellt zu haben, um den Anschein einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit zu erwecken und Versicherungsleistungen zu erhalten.

Am 30. September 2022 stellten die Strafverfolgungsbehörden bei einer Hausdurchsuchung am Wohnort von B.A. und seinen Söhnen A.A. und C.A. diverse Gegenstände und Aufzeichnungen sicher. A.A machte geltend, er sei teilweise deren Inhaber, und verlangte die Siegelung seiner Gegenstände und Aufzeichnungen. Mit E-Mails vom 5. und 6. Oktober 2022 verzichtete er teilweise auf die Siegelung, die in der Folge im Umfang dieses Verzichts aufgehoben wurde.

Instanzenzug

Am 6. Oktober 2022 ersuchte die Staatsanwaltschaft das kantonale Zwangsmassnahmengericht des Kantons St. Gallen um Entsiegelung der sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände von A.A.. Dieses ordnete mit Entscheid vom 22. März 2023 an, ein Mobiltelefon „Huawei“, ein USB-Stick „comptics“, eine SD-Karte „Kingston“, ein USB-Stick „Sandisk“, ein USB-Stick „Intenso“ und zwei SD-Karten „Sandisk“ seien zu entsiegeln.

Weiterzug ans Bundesgericht

Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.A. vor Bundesgericht, der Entscheid vom 22. März 2023 sei aufzuheben und der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Entsiegelung abzuweisen. Die versiegelten Gegenstände seien ihm zurückzugeben und die Beschlagnahme derselben aufzuheben.

Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 7B_211/2023 vom 7. Mai 2024  

Die per 1. Januar 2024 in Kraft getretene Gesetzesänderung betreffend Siegelungs- bzw. Entsiegelungsverfahren hat keine Auswirkungen auf das vorliegende Urteil, bemerkt das Bundesgericht einleitend (E.1.2).

Der Beschwerdeführer moniert zunächst erfolglos, die Vorinstanz habe den hinreichenden Tatverdacht gegen den Beschuldigten zu Unrecht bejaht (E.3).

Weiter moniert der Beschwerdeführer eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (E.4).

Das Bundesgericht äussert sich im Urteil 7B_211/2023 vom 7. Mai 2024 zunächst generell-abstrakt zur Verhältnismässigkeit im Entsiegelungsverfahren:

«Strafprozessuale Zwangsmassnahmen müssen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren. Der mit einer Zwangsmassnahme verbundene Eingriff in die Grundrechte einer Person muss somit geeignet, erforderlich und angemessen sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Zwangsmassnahmen können demnach nur ergriffen werden, wenn die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können und die Bedeutung der untersuchten Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt (Art. 5 Abs. 2, Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 197 Abs. 1 lit. c und lit. d StPO). Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO).  Zunächst muss die Entsiegelung, um das Verhältnismässigkeitsgebot zu wahren, zur Klärung des Tatverdachts geeignet sein. Dies trifft zu, wenn die zu entsiegelnden Aufzeichnungen und Gegenstände für die Strafuntersuchung potentiell beweiserheblich sind (vgl. BGE 143 IV 462 E. 2.1; 141 IV 77 E. 4.3; 138 IV 225 E. 7.1; DAMIAN K. GRAF, Praxishandbuch zur Siegelung, 2022, N. 523 f.). Grundsätzlich ist ein solcher Deliktskonnex nicht für jeden Gegenstand bzw. jede Aufzeichnung einzeln, sondern gesamthaft zu prüfen. Sind jedoch gewisse Gegenstände und Aufzeichnungen offensichtlich nicht untersuchungsrelevant, ist deren Entsiegelung dementsprechend in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht einzuschränken (vgl. BGE 142 IV 207 E. 7.1 ff.; 141 IV 77 E. 4.3 und E. 5.6; Urteil 1B_313/2022, 1B_314/2022, 1B_330/2022 vom 2. Februar 2023 E. 3.2; je mit Hinweisen). Weiter muss die Entsiegelung für die Klärung des Tatverdachts erforderlich sein, was grundsätzlich bedeutet, dass keine milderen Mittel zum selben Zweck führen dürfen. Die theoretische Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft die auf den versiegelten Aufzeichnungen und Gegenständen gesuchten Informationen auch auf andere Weise erlangen könnte, steht der Entsiegelung allerdings nicht entgegen (so etwa Urteile 1B_208/2022 vom 14. April 2023 E. 4.1; 1B_547/2020 vom 3. Februar 2021 E. 3.2). Schliesslich muss die Entsiegelung, insbesondere im Verhältnis zur Bedeutung der untersuchten Straftat, angemessen sein. Im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Entsiegelung ist deshalb auch der Schwere der untersuchten Delikte Rechnung zu tragen (vgl. Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO; Urteile 1B_208/2022 vom 14. April 2023 E. 4.1; 1B_553/2021 vom 14. Januar 2022 E. 5.1 mit Hinweis). Es ist zwischen dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse und den Interessen der betroffenen Person abzuwägen (vgl. BGE 141 IV 77 E. 5.5.2). Das für die Entsiegelung zuständige Gericht verfügt bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit über einen gewissen Ermessensspielraum (Urteil 1B_410/2022 vom 27. März 2023 E. 3.5).» (E.4.1).

Die Vorinstanz erwägt, wie das Bundesgericht darstellt, es sei zu erwarten, dass aus der Auswertung der sichergestellten Datenträger des Beschwerdeführers Rückschlüsse auf den physischen und psychischen Gesundheitszustand des Beschuldigten (bezüglich Lebensstil, Ausmass der psychischen Einschränkungen und Bewegungsfreiheit) zuliessen, und bejaht damit einen Deliktskonnex. Sie führt hierzu weiter aus, gerade bei Familienmitgliedern, die im selben Haushalt wohnten, sei davon auszugehen, dass sich auf deren Datenträgern Videos, Fotos, Korrespondenz und Kalendereinträge oder andere Daten mit Bezug zueinander finden liessen. Auch wenn es sich bei den zu erwartenden Daten nur um „Momentaufnahmen“ des Gesundheitszustands des Beschuldigten handle, könnten deren Anzahl, Abfolge und Zeitabstände Hinweise auf seinen „tatsächlichen Gesundheitszustand“ liefern. Das Alter der sichergestellten Datenträger (bzw. der frühesten Tatvorwürfe gegen den Beschuldigten) sei dabei irrelevant, es sei nämlich „durchaus üblich“, dass sich auch ältere Dateien auf Datenträgern befänden, und die Strafbehörden seien auch an aktuellen Dateien interessiert, da „bis heute“ andauernde Tathandlungen in Frage kämen. Die Entsiegelung sei auch sonst verhältnismässig (E.4.2).

Der Beschwerdeführer hält die vollumfängliche Entsiegelung seiner Datenträger zu Recht für unverhältnismässig, was vom Bundesgericht im Urteil 7B_211/2023 vom 7. Mai 2024 gestützt wird, mit den folgenden Ausführungen:

«Der Vorinstanz ist zwar zuzustimmen, dass angesichts des Zusammenlebens und der familiären Beziehung von Beschuldigtem und Beschwerdeführer untersuchungsrelevante Daten auf den sichergestellten Datenträgern zu vermuten sind, und dass die Schwere der dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikte die Entsiegelung in grundsätzlicher Hinsicht rechtfertigt, zumal der Beschwerdeführer weder im Entsiegelungsverfahren noch im Verfahren vor Bundesgericht dargelegt hat, dass sich unter den sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenständen höchstpersönliche private Gespräche oder Aufnahmen befänden, an denen ein besonderes überwiegendes Geheimnisschutzinteresse bestünde. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass alle auf den sichergestellten Datenträgern befindlichen Daten für das Strafverfahren gegen den Beschuldigten relevant sind. Soweit die Vorinstanz die Datenträger des Beschwerdeführers vollumfänglich entsiegeln möchte, kann ihr deshalb nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz hätte die Entsiegelung der Datenträger des nicht beschuldigten Beschwerdeführers gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO einschränken müssen (etwa auf Fotos, Videos und Korrespondenz mit dem Beschuldigten; vgl. BGE 141 IV 77 E. 4.3 und E. 5.5 ff.). Die umfassende Entsiegelung hält vor Bundesrecht nicht stand.» (E.4.3).

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut (E.5).

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